Wo ist Seehofer? Bundeskanzlerin kommt von der Ersatzbank / Wundersame Bahn LVI
10 Monate ist das Covid-19-Virus jetzt weltweit bekannt. An Neujahr hat China es an die WHO gemeldet. 10 Wochen benötigten Politik und Bürokratie in Deutschland, um es ernstzunehmen. Und jetzt Überraschung: die Pendler*innen*region Deutschlands ist “Risikogebiet” geworden. Wer selbst schon mal pendeln musste (bei mir waren es 18 Berufsjahre), wundert sich, dass es so lange gedauert hat. Jetzt wacht sogar das Parlament “schon” auf.
Manchmal schmökere ich verträumt durch meine eigenen alten Texte, landete dabei auch im Februar und März. Seit vielen Jahren arbeite ich in keinem hoch angesiedelten Politik-, Medien oder Kompetenzzentrum mehr. Und frage mich immer wieder, wie es in Zeiten globaler Digitalisierung so lange dauern kann, bis offensichtliche und jederfrau und jedermann öffentlich zugängliche Erkenntnisse so viele Monate brauchen, um bis Berlin vorzudringen. Ist es immer noch notwendig, sich in einen ICE zu setzen und persönlich an Hauptstadttürklinken vorstellig zu werden? Nicht umsonst beschäftigen Konzerne und Industrieverbände tausende teuer bezahlte Lobbyist*inn*en, in Brüssel, Berlin, sogar in Düsseldorf.
Nachdem nun wirklich alle Verdächtigen im Coronaregime durchrebelliert haben, ist sogar der Bundestag wachgeworden, und dringt bis in die Volkserziehermedien durch. War es gestern, dass der Vertreter einer zur Sekte absinkenden bürgerlichen Partei im um die FDP besorgten Bonner GA eine Doppelseite bekam (Kubicki in der Paywall, kein Link)? Es hat offensichtlich eine Debatte im Bundestagspräsidium gegeben, immerhin. Der Präsident Schäuble hat einen Brief an die Fraktionen geschrieben, Vizepräsidentin Claudia Roth hat das Publikum heute morgen per Deutschlandfunk geweckt. Claudia kann gut mit vierschrötig-konservativen Männern, mit Günther Beckstein (CSU) ist sie, selbst bayrische Schwäbin, sogar befreundet. Gestern in den Tagesthemen hat Wolfgang Merkel eine entsprechende publizistische Fahne gehisst, und dabei auch Kritik an fehlender Opposition im Parlament nicht unterlassen.
Aber warum das alles länger als eine Schwangerschaft gedauert hat, das kann ich Ihnen auch nicht erklären.
Wissen Sie eigentlich, dass es sogar einen Minister gibt, der für solche Verfassungsfragen fachlich “zuständig” ist? Es ist der Bundesinnenminister! Aber wo ist er? Gestern beim Integrationsgipfel: abwesend. Vertretung: die Bundeskanzlern. Heute Konferenz mit Oberbürgermeister*inne*n über Flüchtlingsaufnahme; es fehlt: der Bundesinnenminister; Vertretung: die Bundeskanzlerin. Seit mindestens fünf Jahren hätte der alte Mann zurücktreten müssen. Er verharrt im Schützengraben gegen Markus Söder. Stattdessen zieht die CSU ihren einzigen kompetenten Bundesminister zurück.
Sollten wir Berlin nicht doch wieder an die DDR zurückgeben? Schutzwall drumrum, Tür einbauen, fertig.
In China übrigens feiern sie wieder – legal.
Wundersame Bahn LVI in den USA
Drei Jahre benötigte deutsches Fernsehen, ein exzellentes Produkt aus der Dokumentarküche des österreichischen ORF zugänglich zu machen (ein Monat Mediathek). Im Jahr nach der Wahl Donald Trumps stiegen Christine Lechner und Thomas Zeller in den USA in einen Amtrak-Zug und liessen die Fahrgäste in ihr Mikro sprechen. Sehr sparsam streuten sie eigene Fakteninformationen auf Schrifttafeln ein, verzichteten ansonsten vollständig auf predigenden Kommentator*inn*en-Ton. Stattdessen: starke Bilder des Landes, ohne jede Tourismus-Orientierung: Industrieruinen, verfallende Wohngebiete, ungeheuerliche Verkehrsbauwerke. Und eine Filmmusik, die die Bilder nicht überdeckt sondern unterstreicht. Wenn Sie gute Rauchwaren verfügbar haben – dazu würden sie passen.
Natürlich sind die sprechenden Fahrgäste kein repräsentativer Querschnitt der US-Bevölkerung, aber gerade als Zielgruppe inhaltlich interessant. Es fehlt ihnen an Mitteln für Inlandsflüge, sie sind aber nicht zu arm für die auch nicht billige Bahnfahrkarte. Mittelschicht, nicht sehr politisiert, aber auch nicht gedankenlos, im Gegenteil. Wer dieses seltsame Land verstehen will, sollte ihnen zuhören.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net