Systemkonflikte (II)
Einen Lockdown hatten wir im Frühjahr schon geübt. Allerdings: Jahreszeit und Wetter boten weit bessere Umstände. Jetzt werden die Tage kürzer, grauer, dunkler und kälter. Welche Gründe soll es also geben, um das Bett zu verlassen? Ich habe kurz kopfgerechnet: rund 23.000 mal ist es mir gelungen, diese Frage zu beantworten. Manchmal war es nur knapp. Hier also noch ein Versuch.
Die Stimmung im Frühjahrs-Lockdown war stark durch wochenlanges Sonnenwetter begünstigt. Trotz, nein wegen des Lockdowns, bewegten sich Menschenmassen nach draussen, bemühten sich ums Abstandhalten (ausgenommen die Radfahrer*innen auf den Rheinbrücken, die sich an den Fussgänger*inne*n vorbeirempelten), und führten bei im to-go-Verkauf erworbenen Kaltgetränken tiefsinnigere Gespräche, als sie in den meisten Medien geführt wurden. Das war mal eine Abwechslung vom herrschenden Neoliberalismus, eine neue Art von Genuss. Das Draussensein erwies sich ausserdem als wirksame Bremse der Virusverbreitung, wie wir jetzt an kälteren Tagen beim Drinsein lernen.
Jetzt wird das, was die Bundeskanzlerin morgen verordnen will (schauen Sie mal die FAZ-Überschrift, Text nur hinter Paywall, die hatte ich schon vor 10 Tagen), weit schlechter funktionieren. Die zusammenschrumpfenden hellen Tagesstunden müssen unbedingt genutzt werden, um nicht depressiv zu werden. Ich werde es so halten. Wenn der Restaurantbesuch verboten wird, werde ich um so fleissiger to-go-Gerichte erwerben, allein schon um meine Infrastruktur in Beuel zu retten (z.B. hier, hier und hier). Ich werde keine Sammeleinkäufe machen, um Wege zu sparen – im Gegenteil. Jedes Mal einzeln rausgehen, um Licht zu tanken, sich zu bewegen, unter Menschen zu sein (letzteres natürlich mit Maske). Die Mahlzeiten zuhause müssen ein wenig zelebriert werden, ein guter Wein wird dazugestellt, Gutes gelesen, gehört oder geschaut. Wohlbefinden zu organisieren wird noch lebenswichtiger, als es sowieso schon ist.
Es ginge vieles vernünftiger, ausgewogener, reflektierter, wissenschaftlicher. Aber das ist von der gegenwärtigen politischen Klasse nicht mehr zu erwarten. Sie leben selbst auf schlechtem, genussfeindlichem, zeitraubendem Fuss, und finden selbstverständlich nichts dabei, wenn sie selber schon so scheisse leben müssen, das auch den faulen Anderen, zu Beherrschenden, zu verordnen. Das bringt doch noch keinen um – leider eine Täuschung. Das aktuelle Geschwätz, “nur noch dieses eine Mal”, “wenige Wochen”, “Weihnachten vorbei” – glauben Sie das nicht – das Gegenteil wird der Fall sein
Die Herrschenden wackeln, und fallen zunehmend übereinander her. Der von den herrschenden Klassen auf beiden Seiten erneut angeheizte Pseudokonflikt Abendland-Morgenland verrät vor allem die Instabilität der Herrscher. It’s the economy, stupid. Deren System soll aber auf keinen Fall zur Disposition gestellt werden.
China und Südkorea melden Virusfreiheit und Wachstum. Wollen wir so leben? Ich bin aus dem Alter raus, das noch beantworten zu müssen. Zeitknappheit muss auch Vorteile haben.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net