Leben Sie, um zu arbeiten? Oder arbeiten Sie, um zu leben? Ich zählte mich immer zu Letzteren, und habe es pünktlich zum ersten deutschen Lockdown im März in die Rente geschafft. Im Rahmen der zukünftigen Verschärfung und Brutalisierung der ökonomischen Verteilungskämpfe wird auch die gewiss angegriffen werden. Das wird mich mit meinen gut 1.000 €/Monat wieder in einen revoltierende Wutbürger verwandeln. Derzeit ist unsere Gesellschaft noch auf dem Weg dorthin.

Die meisten Politiker*innen leben, um zu arbeiten. Eine kleine Minderheit ist missionarisch angetrieben. Die grosse Mehrheit ist zum Rädchen eines komplexen Systems geworden, und versucht im systemimmanenten Konkurrenzkampf oben zu bleiben. Auf junge und alte, reiche und arme Hedonist*inn*en/Bohémien*ne*s, die es sich vorrangig gutgehen lassen, sind sie neidisch. Und jetzt gibt es viel Gelegenheit, diesen Neid revanchistisch auszuleben. Das ist nicht nur Küchenpsychologie. Ich war selbst dabei.

Politiker*innen und die sie begleitenden Medien halten sich an “Zahlen” fest, die dazu nicht geeignet sind. Sie kennen das Leben da draussen so schlecht, dass sie nicht mehr wissen, entlang welcher Leitplanken sie entscheiden sollen. Und ohne Leitplanken bekommen sie es mit der Angst zu tun. Kanzlerin und MPs zeigen diese Angst mit der wissenschaftlich schwer begründbaren mutmasslichen Befristung ihrer Massnahmen auf drei Wochen. Das ist nur wenig seriöser als Donald Trump. Das Virus ist neu, noch kein Jahr alt. Niemand weiss, wie es funktioniert. Impfstoff?

Nächstes Jahr? Übernächstes Jahr? Mit oder ohne Nebenwirkungen? Wenn ja, welche? Wie gut oder schlecht der überwiegend noch vor uns liegende Lernprozess gelingt, wird erweisen, wie stabil oder morsch das gegenwärtige Demokratiesystem ist. Das gibt zu grossen Sorgen Anlass.

Die FAZ hat seit kurzem eine Wissenschaftsredakteurin, Johanna Kuroczik, die, leider nur hinter Paywall, dem gegenwärtigen Zahlenfetischismus der Politik und ihrer eigenen Kolleg*inn*en den ultimativen KO verpasst, gesättigt mit Recherchen unter Virolog*inn*en, anderen Mediziner*inne*n und anderen Wissenschaftler*inne*n. Sie zitiert u.a. den Epidemiologen Gérard Krause: „Aus meiner Sicht sind unter anderem auch die Altersverteilung, jeweils der Erkrankten und Infizierten, wichtige Variablen.“ Entscheidend sei auch, wie viele Covid-Patienten in Kliniken behandelt würden, und die Mortalität. „Ich bin überzeugt, dass es möglich wäre, diese sehr verschiedenen Indikatoren zu bewerten, zu veröffentlichen und dann zur Vereinfachung in einen Score oder ein Ampelsystem zu übersetzen. … Das sind Zahlen und Zusammenhänge, mit denen sich ein normaler Mensch nicht auseinandersetzen muss, aber wenn das Interesse groß genug ist, dann verstehen die Leute es auch.“ Ist das schon zu kompliziert? Die Lage ist es auch. Also bitte schön!

Schliessen Sie nun die Gastronomie? Und den Amateursport? Während ich dies schreibe, konferieren sie darüber. Die Beispiele zeigen, dass es bei der Debatte nicht um Virologie, sondern um Symbolik geht. Und diese Symbole könnten der herrschenden Coronapolitik am Ende das Genick brechen. Kubicki wittert es schon, und Bartens/SZ hat recht. Kubickis Lobpreisung der schleswig-holsteinischen Koalition verrät seine Demagogie, pflegt doch diese Landesregierung schon vorab Doppelstandards im Sport. Einem 10-jährgen werden sie nicht vermitteln können, was der virologische Unterschied zwischen seinem Fußballspiel und dem millionenschweren der Profis sein soll. Die FAZ berichtet, erneut hinter Paywall, dass ein Hedgefond-Konsortium unter Führerschaft der japanischen Nomura-Bank als Investoren bei der DFL einsteigen wollen und sollen. Eine der strippenziehenden Personen hatte ich hier schon gewürdigt.

Es gibt eben Wichtigeres als das Virus.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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