Den Deutschen wird sie besonders nachgesagt. Kein Wunder. Wer zwei Weltkriege angefangen hat, wer “Rasse” und daran orientierte Selektion und Massenmord zum Fixpunkt staatlicher Politik macht, ist verdächtig. Wer von der Macht der Mehrheit der menschlichen Weltgesellschaft bei solchem Treiben gestoppt wird, der ist natürlich übel traumatisiert. Es entsteht eine Dialektik: einerseits Vergessen, Verdrängen, es-nicht-gewesen-sein-wollen, andererseits Melancholie und Selbstmitleid am eigenen Verliererdasein. Die Geschichte lehrte, dass die faschistische Mobilisierung von Rebellion gegen das Verlieren des 1. Weltkrieges Verbrechen und Elend monströs vergrösserte. Das ist die deutsche Vorgeschichte des Jetzt. “Gegen das Vergessen!” sollte meiner Meinung nach demokratische Staatsräson bleiben. Es wird immer schwieriger, das zu verteidigen.
Nun ist eine öffentliche TV-Anstalt unter dem Titel “Gott” dahergekommen (ich verlinke hier mit Absicht nicht), und hat ihr Publikum “abstimmen” lassen, ob eine fiktive Figur sterben dürfen soll. Ich habe an diesem Spektakel nicht teilgenommen, auch nicht zuschauend, weil es alle meine moralischen und politischen Geschmacksgrenzen überschreitet (Sibylle Berg/Sp-on hat es 10 Minuten ausgehalten). Nicht weil ich religiös bin. Sondern weil eine meiner zentralen Überzeugungen nie besser formuliert wurde, als im “Leverkusener Manifest” der Jungdemokraten von 1971:
“Der menschliche Erkenntnisprozess ist prinzipiell unabschliessbar.”
Daraus ergibt sich: die Entscheidung für den Tod ist das Gegenteil. Sie ist nicht rückholbar. Wenn es neue Erkenntnisse gibt, und die gibt es fortlaufend und ständig, ist der/die Betreffende tot. Die Entscheidung für den Tod ist die Negation des Menschseins. Ihre – scheinbar liberale – Individualisierung übersieht und negiert, dass unser Denken, unsere Lebenseinstellungen und unser Wollen immer ein kompliziertes soziales Produkt unserer Lebensumstände, der Gesellschaft, in der wir uns befinden, ist. Der Wille eines Individuums zu sterben ist also – immer! – beeinflussbar und veränderbar, durch soziales Verhalten. Durch Politik.
Wenn nun ausgerechnet Deutschland sich dieser politischen und gesellschaftlichen Aufgabe entledigen will, wovon ist das dann der Anfang? Dass dem Recht auf Leben in unserer Verfassung kein “Recht auf Sterben” gegenübersteht, und ebenso die Todesstrafe ausgeschlossen bleibt – und auch “Volksabstimmungen” nicht zugänglich ist – hat darin seinen schlichten Grund. Warum wird das heute so schwer verstanden?
Je älter wir im real existierenden Kapitalismus werden, umso mehr sind wir an der Individualisierung geschult, an der Pflicht zu Leistungsfähigkeit, Selbstoptimierung, und wenn das nicht mehr funktioniert wg. des Alterns, am nicht-zur-Last-fallen-wollen. Die Schuld wird immer bei sich selbst zuerst gesucht, schon die Scheidungskinder sind daran geschult, die immer glauben, sie seinen “schuld” an der Trennung der Eltern. Alte und Junge sollten begreifen: das ist die Verarschung des Neoliberalismus, wie sie auch bei Dir funktioniert.
Bei mir nicht. Ich werde nicht verfügen, dass irgendjemand “die Maschinen abstellen” soll. Woher soll ich denn heute wissen, was ich denke und fühle, wenn es so weit ist? Der Sozialversicherung nicht zur Last fallen? Nicht mit mir. Kein Schweineschnitzel essen, weil das mein Leben verlängert? Kommt ebenfalls nicht infrage. Solche Ideologien ermuntern mich geradezu – wobei: ich bevorzuge das echte “Wiener Schnitzel”, z.B. hier.
Das Leben ist zum Geniessen da, wir haben nur das Eine. Und die Geschichte der Menschheit ist viel zu interessant und spannend, um ihre Betrachtung und Verfolgung vorzeitig auszuknipsen. Es gibt nämlich immer was Neues, und das mit ständig beschleunigter rasender Geschwindigkeit, wie bei Filmen, bei denen mann und frau weder zum Klo noch zum Kühlschrank will. So wie Klaus Hurrelmann (in der Doku “Generation Greta”, Video 45 min) wäre mann gerne jünger, um länger dabeisein zu dürfen. Der menschliche Körper nimmt sich früh genug das Recht zum Abschalten, ganz ohne Suizid. Gerichtsspektakel, um das zu befördern, sind dafür nicht erforderlich. Die sind allenfalls dafür gut, die Kosten für die Sozialversicherungen zu senken. Wie gesagt: nicht mit mir!
Lesen Sie zur Apokalypse-Sehnsucht der Deutschen das Interview der Jungle World (Anna Pollmann) mit dem Literaturwissenschaftler Klaus Vondung.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net