Die Pandemie macht die Armen ärmer, die Reichen reicher, offenbart und potenziert Stärken und Schwächen. Das gilt sowohl national wie auch global. Sie verschärft ohnehin vorhandene Konflikte und lässt vorhandene Ungleichheiten deutlicher hervortreten. Geschäftsmodelle, die schon vorher nicht oder nur mit hohen Verlusten funktioniert haben, wie etwa das Konzept der Regionalflughäfen, stehen vor dem Aus. Innenstädte veröden mehr denn je, während der Versandhandel 2-stellige Zuwachsraten verzeichnet. Die viel beschworene Disruption, findet in einer Weise und einem Tempo statt, wie es noch vor einem Jahr niemand für möglich gehalten hat. Diese Folgen von Covid 19 sind offensichtlich. Was die Pandemie aber mit unserer Freiheit macht, scheint höchst unklar zu sein. Auf jeden Fall ist Freiheit plötzlich ein Thema.
Wann hat es in der Bundesrepublik zuletzt Demonstrationen gegen freiheitseinschränkende Maßnahmen des Staates gegeben? Die Notstandsgesetze von 1968 haben seinerzeit vor allem kritische Studenten auf die Straße getrieben. Das ist mehr als 50 Jahre her und Herr Gauland war gerade in den Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) eingetreten. Der Widerstand gegen die Volkszählung 1983 war vergleichsweise akademisch, mündete aber immerhin in das bis heute enorm wichtige Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem das Recht auf informationelle Selbststimmung ausformuliert wurde.
Wann haben die Bürgerinnen und Bürger erlebt, dass der Staat unter Umständen das Recht oder sogar die Pflicht hat, die Bewegungsfreiheit einzuschränken? Knappheit von Ressourcen hat es zuletzt spürbar in der Ölkrise 1973 gegeben, als der Staat mit autofreien Sonntagen reagierte. Fahrverbote und Produktionseinschränkungen gab es dann nochmal im Januar 1985 in großen Teilen des Ruhrgebiets, als die Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid und Schwebstaub an einer Reihe von Messstellen den gesetzlichen Grenzwert überschritten hatte. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung war dabei der Grund für die Einschränkung von Freiheitsrechten.
Mit dem Fall der Mauer öffnete sich für 16 Mio. DDR-Bürgerinnen und Bürger der Weg zur Freiheit des Westens, einer Freiheit, deren Wert sich naturgemäß vor allem aus den vorenthaltenen Freiheiten unter dem Regime der DDR erschloss: Meinungsfreiheit, Freiheit der politischen Betätigung, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl und -ausübung, Reisefreiheit usw. Eine breite Debatte über die Freiheit und das, was sie uns bedeutet, hat es nach 1989 in Deutschland nicht gegeben. Warum auch? Die Freiheit war ja da. Der Kommunismus der Sowjetunion war besiegt, der Freiheit der Menschen (und der Märkte) stand laut Francis Fukuyama (Vom Ende der Geschichte, 1992) nichts mehr im Wege. Und nun stehen grundlegende Freiheitsrechte wie die Bewegungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Gewerbefreiheit plötzlich unter Vorbehalt. Selbst in die Art, wie wir feiern wollen, mischt sich der Staat ein.
Es liegt auf der Hand, dass die Pandemie auch bei dieser gesellschaftlich und politisch grundlegenden Herausforderung Phänomene verschärft sichtbar werden lässt, die auch ohne Corona schon vorher da waren.
Der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit
Im Namen der Sicherheit schränkt der Staat seit dem ersten Lockdown im März dieses Jahres die Freiheitsrechte der Menschen in Deutschland massiv ein. Wenn Menschen in Altenheimen und Pflegeinrichtungen ohne ihre Angehörigen sterben müssen, ist selbst die nicht unter Gesetzesvorbehalt stehende Menschenwürde (Art. 1 GG) verletzt. Dabei ist offensichtlich, dass der freiheitliche Rechtsstaat mit seinen Grundrechtsgarantien gerade in Krisenzeiten wertvoll und unverzichtbar ist. Wenn er funktioniert, sorgt er dafür, dass die Freiheit des Einzelnen immer seine Begrenzung in der Freiheit des Anderen findet und dass der Staat bei jeder freiheitseinschränkenden Maßnahme eine hinreichend genaue gesetzliche Grundlage benötigt. Art. 2 Abs. 2 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person. In sie darf nur auf Grund eines verfassungskonformen Gesetzes eingegriffen werden. Alles staatliche Handeln hat das sog. Übermaßverbot zu beachten. D. h. jede Maßnahme muss geeignet sein, das erstrebte Ziel zu erreichen.(1) Sie muss darüber hinaus erforderlich sein, d. h. sie ist nur dann zulässig, wenn nicht im Hinblick auf die Einschränkung der Freiheit ein milderes Mittel zur Verfügung steht, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Und schließlich muss die Maßnahme verhältnismäßig sein, d. h. der Staat darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Der Begründungs- und Abwägungszwang entfällt also keineswegs, wenn es um den Schutz von Leben geht.
Der Wert des Grundgesetzes hat sich bisher immer wieder gezeigt, wenn Gerichte (nicht nur das Bundesverfassungsgericht) der Reichweite des Staates Grenzen aufgezeigt haben. Gerichte und nicht die im Bundestag vertretenen Parteien haben den Gesetzgeber gezwungen, die unzureichende gesetzliche Grundlage für auf dem Verordnungswege durchgesetzte oder geplante freiheitseinschränkende Maßnahmen nachzubessern. Ob der neue § 28 a des Infektionsschutzgesetzes und die darauf basierenden Verordnungen der Exekutive den Anforderungen des Grundgesetzes standhalten werden, wird man sehen. Natürlich ist auch der Rechtsstaat nicht vor Fehlern gefeit. Der Beschluss des sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. November 2020 (- 6 B 368/20) zur sog. Querdenker-Demonstration in Leipzig ist ein krasses Beispiel dafür. Hier hat sich ein Oberverwaltungsgericht zum Büttel derjenigen gemacht, die den freiheitlichen Rechtsstaat verachten.
Der geschichtsvergessener Vergleich des neuen § 28 a des Infektionsschutzgesetzes mit Hitlers Ermächtigungsgesetz und die Inanspruchnahme von Sophie Scholl für die selbsternannten Querdenker zeigen, wie Corona dafür benutzt wird, Stück für Stück die Grenzen des politischen Anstands zu verschieben. Dieses allmähliche Verschieben der Grenzen gehört seit jeher zu Strategie der Gegner des freiheitlichen Rechtsstaates. Dazu gehört auch eine gezielte Inanspruchnahme und Umdeutung politischer Begriffe. Das hat Tradition in Deutschland.(2) Es war Kurt Biedenkopf, der als Generalsekretär der CDU nach der erstmaligen Abwahl der konservativen Bundesregierung 1969 den Kampf um die zentralen politischen Begriffe ausrief. Es ging ihm dabei um Besetzung von Begriffen und die Erringung der Deutungsmacht. Das Wahlkampfmotto der CDU im Bundestagswahlkampf 1976 „Freiheit statt Sozialismus“ war ein solcher Versuch politischer Semantik.
Die Spaltung der Gesellschaft
Die Spaltung der Gesellschaft, wie wir sie in drastischer Form und mit zeitlichem Vorlauf in den USA beobachten können, schreitet auch in Deutschland voran. Wissenschaftsleugnung hatten wir vor Corona in Deutschland relevant nur beim Thema Klimakatastrophe erlebt. Corona macht deutlich dass, es sich um ein thematisch nicht gebundenes Phänomen handelt, dass keineswegs vor akademischen Titeln halt macht. Natürlich gibt es auch dabei unterschiedliche Grade und Motive der Leugnung. Aber dass es in Deutschland überhaupt eine politisch zu beachtende und parlamentarisch vertretene Erscheinung ist, verdanken wir der Pandemie. Der Boden muss fruchtbar gewesen sein, wenn Lügen und wissenschaftlich falsche Informationen eine solche Wirkung erzeugen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um Meinungen, sondern um die Faktenbasis, die der Meinungsbildung zugrunde liegt. Die sogenannten politischen Eliten in den westlichen Demokratien müssen sich fragen lassen, warum sie das Vertrauen breiter Wählerschichten verloren haben. Von verloren gegangenem Vertrauen zu Ohnmachtsgefühlen ist es nur ein kleiner Schritt. Das Mantra der Leistungsgesellschaft, jeder sei für sein Schicksal vollkommen selbst verantwortlich und die daraus folgende Überheblichkeit der Schönen und der Reichen sowie die Demütigung der weniger Erfolgreichen hat seinen Teil zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen.(3) Ein Vorstandsvorsitzender, der das 150-fache (oder mehr) eines Facharbeiters in dem gleichen Unternehmen als Gehalt erhält, ist die personifizierte Verhöhnung der Arbeit in der Fabrik.(4) Wo bleiben dabei die Wertschätzung und der bei anderer Gelegenheit gerne beschworene Respekt?
Mangel politischer Debattenkultur in Deutschland
Kontroverse politische Debatten sind ein Markenzeichen freiheitlicher Systeme. Debattieren ohne zu diffamieren, will eingeübt sein. Der Kampf um Meinungen ist in Verruf geraten und die Verständigung auf eine gemeinsame Faktengrundlage ist im Zuge der rasanten Verbreitung digitaler Kommunikationsmedien eher schwieriger geworden. Was für wahr oder unwahr gehalten wird, ist oft keine Frage wissenschaftlicher Evidenz, sondern ein Produkt digitaler Medienmacht.
Ergebnisoffenheit ist eine Tugend im politischen Prozess.(5) Das Eingeständnis der Ausweglosigkeit bei der Suche nach letzter Erkenntnis gehört seit Sokrates (469 – 399 v. Chr.) zum Kernbestand abendländischer Philosophie. Ohne Streit kein Kompromiss, der keineswegs per se faul ist, sondern die Voraussetzung demokratischer Mehrheitsbildung. Es ist kennzeichnend, dass politische Innovationen seit Jahren kaum sichtbar sind. Das mag an einem Mangel an fundamentalen Kontroversen liegen. Seit dem Untergang der Sowjetunion scheint der Kapitalismus ohne Alternative zu sein. Der marktgetriebenen Globalisierung fehlt das demokratische Pendant. Auch das ist in Zeiten der Pandemie deutlicher denn je geworden. Ein Konzept zur globalen Organisation des Gemeinwohls existiert nicht einmal in der Theorie, geschweige denn in der Realität.
Der Kampf um die Freiheit
Während die APO Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts noch skandierte, haut dem Springer auf die Finger, sprechen Höcke und Co. am liebsten von der Lügenpresse und die Auseinandersetzung mit den politischen Parteien (außer der AFD) wird gerne mit der Nazi-Parole der Systemparteien geführt. Die Strategie der Besetzung und Umdeutung politischer Begriffe hat im Zuge der Auseinandersetzung um die richtige Antwort auf die Pandemie einen zentralen Begriff modernen Verfassungsgeschichte erreicht, nämlich den der Freiheit.
Es wäre also an der Zeit, eine Debatte über die Freiheit zu führen. Die Pandemie gibt Anlass uns zu fragen, was wir eigentlich unter Freiheit verstehen und welchen Stellenwert sie in unserem Leben hat. Dass der Staat in die Freiheit der Menschen eingreifen kann und gegebenenfalls muss, hat die Pandemie drastisch vor Augen geführt. Aber um welche Freiheit geht es dabei? Christoph Möllers (6) schreibt dazu: Freiheit kann sowohl individuell als auch gemeinschaftlich, sowohl rational gerechtfertigt als auch willkürlich, sowohl durch Regeln formalisiert als auch außerhalb einer formalisierten Ordnung wahrgenommen werden. In der politischen Debatte geht es hauptsächlich um die durch Regeln formalisierte Freiheit. Der Grundrechtskatalog unserer Verfassung ist dabei die Basis. Im Empfinden der Menschen spielen jedoch die anderen von Möllers genannten Kategorien eine mindestens genau so große Rolle. Jens Spahn sagte kürzlich, es gebe kein Grundrecht auf Küchenrolle, aber die Menschen fühlen sich gleichwohl in ihrer Freiheit bedroht, wenn Küchenrollen und Klopapier im Supermarkt plötzlich knapp werden. Die Abneigung gegen Bevormundung setzt also weit unterhalb der Grundrechtsschwelle ein. Allerdings ist auch in der Pandemie eine Unwucht im Grad der Sensibilität zu beobachten. Während Millionen von Nutzern von Facebook, Instagram, WhatsApp und Co. keinerlei Hemmungen haben, ihre intimsten Geschichten zu veröffentlichen, scheitert der Erfolg der unter Beteiligung von Datenschützern entwickelten Corona-Warnapp in Deutschland an der mangelnden Bereitschaft, sie zu nutzen. Stattdessen dürfen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten die Finger wund telefonieren.
Freiheit in der Klimakatastrophe
Nach den Erfahrungen mit der Pandemie braucht es gar nicht so viel Fantasie, um sich vorzustellen, was passiert, wenn die Folgen der Klimakatastrophe das Maß erreichen, vor dem Wissenschaftler seit Jahrzehnten (der erste Bericht des Club of Rome ist 1972 erschienen!) warnen. Es wäre ein nützliches Gedankenexperiment, den Umgang mit der Pandemie auf den Umgang mit der Klimakrise und ihren mittelbaren Auswirkungen zu übertragen. Der isländische Autor Andri Snær Magnason stellt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 29./ 29. November 2020 (kein Link, wg. Paywall) die Behauptung auf, dass die Menschen nicht wirklich begreifen, was der Treibhauseffekt, die Gletscherschmelze und die Versauerung der Meere tatsächlich bedeuten. Selbst dem Wissenschaftler, der auf die Bühne geht und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in Worte fasst, sei nicht wirklich bewusst, was er da sagt, so Magnason.
Möllers schreibt dazu: Für manche Fragen bräuchte eine Gemeinschaft die Fähigkeit, apokalyptisch zu denken. Was wäre, wenn sich eine Bedrohung als so gewaltig erweist, dass sie alle anderen in den Schatten stellt? (Möllers, a. a. O. S. 286)
UN Generalsekretär Guterres übertreibt nicht, wenn er davon spricht, dass die Menschheit einen Krieg gegen den Planeten führt. Wenn Millionen von Menschen sich im Kampf um das Überleben auf den Weg machen, weil die Meeresspiegel steigen, die Äcker verdorren und Trinkwasserquellen versiegen, dürfte das, was wir gerade in und mit der Pandemie erleben, ein harmloses Vorspiel sein. Wie wird es stehen mit unserer Freiheit, wenn aus Gründen der Sicherheit die Grenzen geschlossen werden und Lieferketten lebensnotwendiger Güter militärisch gesichert werden müssen? Alleine die Bevölkerung Indiens, das überaus stark von der Klimakatastrophe betroffen ist, wird bis zum Jahr 2025 auf 1,5 Milliarden ansteigen. Wenn sich davon nur 5% nach Europa aufmachen, weil sie schlichtweg in ihrer Heimat nicht mehr überleben können, hätten wir es mit 75 Millionen Flüchtlingen zu tun. Womöglich würden wir alle Fans von Viktor Orban werden. Die Alternative wäre, dass alle Freunde der Freiheit sich darauf verständigen, dass die Klimakatastrophe die elementarste Bedrohung der Freiheit ist und die Uhr unaufhaltsam tickt. Die Wohlstandskinder sollten sich von der Vorstellung verabschieden, die Natur sei dafür da, dass es uns gut geht. (7) Die Natur reagiert. Nichts verschwindet, nichts geht wirklich verloren, alles wandelt sich. Alles kommt zurück.
Wertschätzung der Freiheit
Es könnte ein positiver Effekt der Pandemie sein, dass als Konsequenz aus der Pandemie die allgemeine Wertschätzung der Freiheit als etwas Kostbares auch bei denjenigen wächst, die Freiheit einfach als gegeben ansehen, weil bis jetzt keine konkreten, alle Menschen betreffenden Einschränkungen erlebt worden waren. Die Notstandsgesetze von 1968 sind nie angewandt worden. Der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung haben das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht in zahlreichen Entscheidungen immer wieder Grenzen gezogen. Diesmal hat der Staat massiv in individuelle Freiheitsrechte eingegriffen, ohne dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden war. Es ist durchaus beruhigend, dass der Staat durch zahlreiche Gerichte an den allgemeinen Gesetzesvorbehalt und das Übermaßverbot und den Begründungszwang erinnert worden ist.
Ein weitere positiver Effekt der Pandemie könnte ein stärkeres Nachdenken darüber sein, woher Gefahren für unsere Freiheit drohen, wie sie abgewendet werden können und was dies für unser politisches System für Konsequenzen hat. Ein Gespür dafür, dass die größte Gefahr für die Freiheit von uns selbst und einem Mangel an liberaler Innovationsfähigkeit ausgeht, und nicht von Bill Gates und QAnon, könnte auch im Kampf gegen die Klimakatastrophe sinnvoll sein. Unfreiheit kommt selten in eindeutiger Form daher. (8) Wissenschaftliche Evidenz ist gerade in Zeiten der Pandemie unentbehrlich. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen sind politisch zu ziehen. Darin liegt auch eine Chance für den freiheitlichen Rechtsstaat.
Der Nutzen der Freiheit
Wir erleben eine nicht für möglich gehaltene Auseinandersetzung darüber, was praktischer Utilitarismus in Zeiten der Pandemie bedeutet, ohne dass dies so benannt wird. Der Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen, Vorteil) ist eine Form der zweckorientierten Ethik (Wikipedia). Freiheitseinschränkende Maßnahmen werden aus dem Nutzen für die Allgemeinheit gerechtfertigt. Die Definitionsmacht spielt hierbei eine entscheidende Rolle. In dem Maße wie der Glaube an den Nutzen verloren geht, schwindet die Akzeptanz. Gemessen wird der Nutzen in der Pandemie anhand verschiedener virologischer Kennzahlen. Aber schon bei der Auswahl der „richtigen“ Kennzahl (7‑Tage‑Inzidenz, Infektionsrate, Letalitätsrate etc.) wird die Interessengebundenheit deutlich. Natürlich hat der Staat dem Gemeinschaftsnutzen zu dienen und ihn möglichst zu maximieren. Das befreit ihn aber nicht von der Beachtung der Menschenwürde des einzelnen Menschen. Autoritäre Regime setzen sich leicht darüber hinweg und ernten in der Pandemie z. B. im Falle Chinas Lob für ihre effektive Corona Strategie. Dietmar von der Pfordten, Professor für Sozial- und Rechtsphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen, hat zu dem Konflikt humanistischer Ethik mit kollektivistisch-utilitaristischen Vorstellungen einen lesenswerten Artikel in der Neuen Züricher Zeitung geschrieben.
Erweiterung der Freiheit
Die Einschränkungen der Freiheit können auch zu einer Erweiterung des persönlichen Freiheitsempfindens führen. Manche Menschen berichten von neu gewonnenen inneren Freiheiten, vom Ausstieg aus dem Hamsterrad. Naturgemäß ist aber in Coronazeiten auch der Alkoholkonsum gewachsen. Der Anstieg häuslicher Gewalt ist eine erschütternde Begleiterscheinung. Die Zeit, die Menschen im Internet verbringen, dürfte auch deutlich gestiegen sein. Ebenso wie bei den gesellschaftlichen und politischen Phänomenen gilt im persönlichen Bereich, dass Corona vorhandene Stärken und Schwächen klarer hervortreten lässt.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen einander. Wir müssen einander begegnen, sonst verkümmern wir auf Dauer. Ungezügelter Egoismus schadet letztlich dem einzelnen und seiner Freiheit mehr als ein solidarisches Miteinander. Corona hat dem Einzelnen vor Augen geführt, dass er Teil eines Ganzen und nur so überlebensfähig ist. Ich, ich, ich wird die Pandemie genauso wenig bezwingen wie die Klimakatastrophe abwenden. Wenn das eine mehrheitsfähige Erkenntnis aus dem Erleben der Pandemie ist, wäre dies ein wichtiger Schritt zur Bewältigung künftiger existenzieller Herausforderungen.
Anmerkungen
(1) Wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Maßnahme ungeeignet war, wie z. B. der sog. Lockdown light im November 2020, macht dies die ursprüngliche Einschätzung nicht rechtswidrig. Allerdings dürfte der Staat gehalten sein, die Fehleinschätzung nicht zu perpetuieren.
(2) Sehr empfehlenswert dazu: Dietrich Busse, Anmerkungen zur politischen Semantik, in: Gerhard Pitz / Peter Siller (Hrsg.): Politik als Inszenierung. Zur Ästhetik des Politischen im Medienzeitalter. Baden-Baden: Nomos, 2000, 91 – 94, 105 – 114.
(3) Lesenswert dazu: Michael Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls, Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, Frankfurt 2020
(4) Ob Zetsche, Winterkorn oder Reitzle, sie alle bezogen oder beziehen Jahresgehälter von mehr als 10 Mio. EUR. Fach- und Führungskräfte in der Automobilindustrie verdienen pro Jahr durchschnittlich rund 68.000 Euro brutto
(5) Vgl. Christoph Möllers Freiheitsgrade, Berlin 2020, S. 287
(6) Christoph Möllers, S. 14
(7) Vgl. Boris Groys in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Dez. 2020, S. 11
(8) Möllers, a. a. O. S.276

Über Dr. Hanspeter Knirsch (Gastautor):

Der Autor ist Rechtsanwalt in Emsdetten und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Mehr zum Autor lesen sie hier.

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