von Friederike Habermann
1884 stieg Deutschland in den Wettlauf um Afrika ein. Dieser Teil der Geschichte ist noch heute ein weißer Fleck, der daraus entstandene Reichtum gilt als unbescholten.
»Du warst wieder in Spanien?« Die Szene spielt in einer Kneipe. »Ja, aber nur übers Wochenende – das kost ja fast nix mehr.«
»Mallorca – das ist doch peinlich. Ich war jetzt in Namibia.« Der Sonnengebräunte schwärmt von seinem Safari-Urlaub. »Was ist mit dir?«, fragt er den Dritten am Tisch. »Ich war mit den Kindern in Rumänien – alles so unberührt, da kommste nicht mal mit dem Flieger hin«, lobt sich indirekt der Umweltbewussteste unter den Bierkumpanen. Doch »Die Rechnung« (so der Titel des hier beschriebenen Videos) bekommen sie für alles, was sie von ihrem Lebensstil erzählt haben: soundso viel für den SUV und den Luxusurlaub, soundso viel für die sparsameren Varianten. »Sind wir bei runden 26 Tonnen CO2«, zählt die Kellnerin alles zusammen. Kurzes betretenes Schweigen. »Wer zahlt die Rechnung?«, hakt sie nach. »Na, wie immer – die Kollegen da drüben«, zeigen die drei nun auf den Nebentisch, an dem eine schwarzafrikanisch und eine indisch aussehende Person jeweils an einem Glas Wasser nippen.
»Die Menschen in den 100 am meisten vom Klimawandel betroffenen Entwicklungsländern verursachen nur etwa 3 Prozent der weltweiten Emissionen an Treibhausgasen«, blendet die Entwicklungs- und Umweltorganisation »Germanwatch« in ihr Video von 2009 ein. Der hier für CO2-Emissionen illustrierte Zusammenhang, dass Menschen im Globalen Norden (mit großen G, da nicht unbedingt identisch mit den geografischen Angaben) auf Kosten von Menschen im Globalen Süden leben, gilt darüber hinaus sowohl für Ressourcen insgesamt als auch für die dazugehörige Umweltzerstörung. Die Wirtschaftswissenschaft fasst dies als »externe Kosten«, also Nebenwirkungen von Produktion, die nicht im Preis berücksichtigt werden, und so weder von den Produzierenden noch den Konsumierenden zu tragen sind. Doch versäumt sie gemeinhin, deren globale Dimension zu berücksichtigen. Geschweige denn die rassistische und postkoloniale.
Postkolonial? Die Vorsilbe »post« steht zumeist für mehr als nur ein zeitliches »nach«. Sie drückt ebenso weiterwirkende Kontinuitäten aus. So ist auch nach dem Ende des Kolonialismus die Weltwirtschaft bis heute deutlich von Machtverhältnissen geprägt, die kein Ende der Ausbeutung zulassen. Denn unsere Ökonomie beruht darauf. Ulrich Brand und Markus Wissen führten den inzwischen vielfach verwendeten Begriff »Imperiale Lebensweise« ein, der im Unterschied zum Ausdruck des Lebensstils darauf verweisen soll, dass individuelle Beschränkungen dies nicht auflösen können. Denn das ausbeutende Verhältnis ist tief in den wirtschaftlichen Strukturen verankert.
Die Erste, die diesen Zusammenhang klar analysierte und benannte, war Rosa Luxemburg 1913 in ihrer »Akkumulation des Kapitals«. Während Karl Marx den Kapitalismus als abgeschlossenes System dargestellt habe, sei es theoretisch nicht anders haltbar und empirisch offensichtlich, dass der Kapitalismus beständig neue Rohstoffe, neue Absatzmärkte und neue Arbeitskräfte von außen einbeziehen müsse, um Profite und Wachstum aufrechtzuerhalten.
Während sie damals glaubte, »alle theoretisch interessierten Anhänger der Marx‘schen Lehre würden erklären, das, was ich so eingehend darzulegen und zu begründen suche, sei ja eine Selbstverständlichkeit. Niemand habe sich die Sache eigentlich anders gedacht«, erhielt sie eine Reaktion, »wie sie noch keiner Neuerscheinung der Parteiliteratur, seit sie besteht, zuteil geworden war, und es ist wirklich nicht lauter Gold und Perlen, was seit Jahrzehnten in den sozialdemokratischen Verlagen erscheint« – so beschreibt sie es in einer »Antikritik« von 1915. Diese auf Neudeutsch allen Kriterien eines Shitstorms entsprechende Reaktion im »Vorwärts« und anderen linken Organen verrate deutlich, so Luxemburg weiter, »dass wohl noch andere Leidenschaften als ›reine Wissenschaft‹ durch das Buch so oder anders berührt worden sind«.
Der Begriff »Imperiale Lebensweise« bringt also einer breiteren Öffentlichkeit eine Erkenntnis nahe, die auch viele linke Kräfte seit über hundert Jahren nicht sehen wollen. Es ist die Tatsache, wie sehr der im Westen idealisierte Wohlfahrtstaat des 20. Jahrhunderts, aber auch noch unser heutiger Wohlstand auf (post-)kolonialer Ausbeutung beruht. Es war um die vorletzte Jahrhundertwende, dass das »eherne Lohngesetz«, wie Ferdinand Lassalle die Tatsache, dass das durchschnittliche Arbeitsentgelt sich am Existenzminimum einpendelte, durch einen Klassenkompromiss abgelöst wurde, der den hiesigen Arbeitern einen gewissen Wohlstand erlaubte.
»Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne!«, nörgelte der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow im Jahre 1897. Das junge Deutschland hatte seiner Meinung nach noch nicht genug vom kolonialen Kuchen abbekommen. Frankreich, Großbritannien und Italien hatten schon großflächig zugegriffen. Aber auch Deutschland nahm seit 1884 am »Wettlauf um Afrika« teil, welcher übrigens wörtlich zu nehmen war: Wer zuerst kam, dem gehörte ein Gebiet. Seit diesem Frühjahr wehten auch einige deutsche Fahnen im Westen des »Schwarzen Kontinents«. Im Falle Kameruns hatte der Vorsprung gerade mal fünf Tage vor Großbritannien betragen. Im Falle Südwestafrikas, des heutigen Namibias, war dagegen einfach ein bereits privat getätigter Landkauf – größer als das Deutsche Reich – des Bremer Tabakhändlers Bernhard von Bülow unter Reichsschutz gestellt worden. Dieses Gebiet war nicht zuletzt deshalb so gewaltig ausgefallen, weil Lüderitz in seinen Verträgen die Meile als Maßeinheit verwandte – und sich später darauf berief, selbstverständlich habe er nicht die englische Meile von 1,6 Kilometer Länge, sondern die deutsche von über 7,4 Kilometer gemeint. Noch nie von der deutschen Meile gehört? Hatten die Nama auch nicht.
Im Dezember 1884 begann der 28-jährige Carl Peters in Ostafrika, dem heutigen Tansania, mit alkoholischen Getränken lokale Führungspersönlichkeiten zu besuchen und dabei zu einem Kreuz unter deutschsprachige Verträge zu bewegen, welche der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft (DOAG) unbeschränkte Zoll-, Steuer-, Verwaltungs- und Justizrechte gewährten. Denn auch im Falle Großbritanniens & Co waren es häufig nicht Staaten, welche in den Kolonien die Exekutive und die Judikative ausübten, sondern privatwirtschaftliche Unternehmen.
Auf die Idee, dass diese Menschen vielleicht gar keine absolutistischen Monarchen im europäischen oder »Häuptlinge« im Karl-May‘schen Sinne waren, ja, dass vielleicht nicht einmal ein Eigentumsverständnis an Grund und Boden existierte, kam niemand.
In Anlehnung an das angeblich leere Land in den Kolonien bezeichnen Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai und Sheila Mysorekar in dem von ihnen herausgegebenen Band »re/visionen« von 2008 die großflächige Erinnerungslücke im dominanten Diskurs hinsichtlich des Kolonialismus als »weißen Fleck«. Dazu gehört neben den Gräueltaten insbesondere, dass in den Kolonien die bestehenden Wirtschaftsstrukturen zerstört wurden. Dies ist vielleicht der hartnäckigste Mythos über den Kolonialismus: Es habe vor dem Westen keine nennenswerte Geschichte gegeben. Als hätten die Menschen dort tierähnlich gelebt.
1776 schrieb Adam Smith in seinem Buch »Wohlstand der Nationen«, welches als Fundament der kapitalistischen Gesellschaft gilt, über die Errichtung der »blühenden« Niederlassungen in Amerika, und wie leicht die »elenden und hilflosen Eingeborenen« bei der Landnahme vertrieben werden konnten. In Wirklichkeit wiesen auch viele dieser Ethnien sehr differenzierte und hochentwickelte Sozialstrukturen auf, seien es die Hochkulturen der Mayas und der Azteken in Mexiko oder der Inkas in Peru. Im Ingenieurwesen waren sie zu außergewöhnlichen Leistungen fähig: Ihre Tempel überragten alles, was es in Europa gab und die Königstraße der Inkas verband mehr als die größte Entfernung des Römischen Imperiums von York bis Jerusalem.
Nur aus der Perspektive Europas erschienen ganze Imperien als große weiße Flecken. In der Bucht von Benin bestand zur Zeit der Kolonisierung unter anderem das Königreich von Benin, welches sich im Osten bis zum Niger erstreckte. Gegründet worden war es um 600 n. Chr., seit dem 12. Jahrhundert herrschte eine eingeschränkte Wahlmonarchie. Das Gebiet, das zu »Deutsch-Ostafrika« wurde, war vor der Kolonialisierung nicht von Imperien beherrscht – was ja aber nicht unbedingt mit einem weniger gelungenen Lebensentwurf gleichzusetzen ist.
Smith aber sah die Entwicklung der Menschheit in vier Entwicklungsstadien: vom Jägervolk über die Hirtenvölker und die Agrargesellschaften bis hin zur Gewerbe- und Handelsgesellschaft als der am höchsten entwickelten Form. Dies entsprach der vorherrschenden Idee, dass es nur einen Weg zur Zivilisation gebe und alle Gesellschaften auf der derselben Skala als früh oder spät, tiefer- oder höherstehend eingeordnet werden könnten. Es war Smith, der die Entwicklungsstufen explizit an den Produktionsweisen festmachte. Letztlich war es die Tatsache, dass sich Indigene als nicht »eigentumsfähig« zeigten, wie schon John Locke moniert, die als Legitimation schlechthin für die koloniale Besitzergreifung diente.
Als in »Deutsch-Ostafrika« 1905 gegen den Maji-Maji-Aufstand weder dazugezogene Söldnertruppen noch die überlegene Waffentechnik den militärischen Erfolg brachten, griffen die Deutschen zu einem anderen Mittel: die Politik der verbrannten Erde. Erst das Aushungern der afrikanischen Bevölkerung durch die komplette Zerstörung ihrer Infrastruktur – Häuser und Felder wurden verbrannt, Bewässerungssysteme zerstört, Bäume gefällt, Hühner, Schweine, Rinder getötet oder mitgenommen – führte zum Sieg. Schätzungen zufolge starben durch Krieg und Hunger über 100.000 Menschen.
Eine derart erfolgreiche Strategie sollte nicht einmalig bleiben: Auch in der Südsee wurde sie in den folgenden Jahren von den Deutschen bei der Aufstandsbekämpfung angewandt. Nachdem in den Kolonien die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört worden waren, konnten sich die Kolonialherren, wenn sie ihnen erlaubten, für sie zu arbeiten – mal mit, mal ohne Peitsche –, als Gönner fühlen. Es kehrte Ruhe und Ordnung in die deutschen Kolonien ein. In Südwest wurde jeder Arbeitsfähige durch eine Passmarke erfasst. Auch die noch unzivilisierte Prügelstrafe wurde eingeholt von der deutschen Bürokratisierung: Sie war nun nur noch dienstags und freitags erlaubt.
»100.000 Verhungerte« hört sich nach einer grausamen Kolonialzeit an und ist auch grausam. Und doch neigen wir dazu zu vergessen: Das haben wir im 21. Jahrhundert schon an einzelnen Tagen geschafft. Und zwar ohne Peitsche, sondern als bedauerlichen Nebeneffekt unseres Wirtschaftssystems. Von dem gleichzeitig immer noch viele Menschen glauben, es stünde am Ende eines zivilisatorischen Fortschritts. Dabei erzeugt jeder Markt künstliche Knappheit und Ausschluss von ausreichenden Ressourcen. Denn diese – wie zum Beispiel Lebensmittel – gehen dorthin, wo das Geld ist, nicht dorthin, wo Menschen hungern.
Stephan Lessenich bezeichnet in seinem Buch »Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben« das Nicht-Wissen-Wollen, dass auch der relative Wohlstand deutscher und europäischer Unterschichten auf einer strukturell implizierten Ausbeutung des Globalen Südens beruht, als »Lebenslüge der wohlstandskapitalistischen Linken«. Es sei die Macht, sich über die Folgen seines Handelns nicht nur keine Rechenschaft ablegen, sondern diese nicht einmal zur Kenntnis nehmen zu müssen. Diese »Macht zur Unwissenheit« ermögliche als kollektive Haltung erst die daraus resultierenden ignoranten Handlungsweisen als gesamtgesellschaftliche imperiale Lebensweise und stabilisiere die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse in ihrer ganzen Komplexität.
Übrigens haben wir in Deutschland seit dem eingangs beschriebenen Videodreh von 2009 das uns damals noch pro Kopf zustehende CO2, um das Zwei-Grad-Klimaziel zu erreichen (von post-/kolonialen Schulden abgesehen), komplett aufgebraucht. Wer zahlt die Rechnung für unser Weitermachen?
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus Oxiblog, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Redaktion.
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