Beueler-Extradienst

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Grundrechte: nicht bekannt!

Keine Privilegien oder Diskriminierungen!
“Das Bundeskabinett berät darüber, welche Grundrechte Geimpften und genesenen Bürgern zurück gegeben werden können” – so oder ähnlich wird geredet, und manche versteigen sich, wie die Vorsitzende des Ethikrates, Prof. Buyx  dazu, in der weitergeführten Einschränkung von Grundrechten gar einen Akt der Solidarität zu sehen – geäußert diese Woche im neoliberalen Fernsehfolterkeller von Markus Lanz. Es mag ja an meiner radikaldemokratischen Sozialisation als Jungdemokrat – damals in den 70er Jahren noch die FDP-nahe Jugendorganisation – liegen, dass ich besonders sensibel dafür bin, wenn Grundrechte wie die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit oder die Freizügigkeit bedroht werden, die eben nur im Ausnahmefall vom Staat eingeschränkt werden dürfen, wenn sie ein höheres Schutzgut – das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit etwa – bedrohen und diese Bedrohung überwiegt.

Oder wenn der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 3 GG) durch eine entsprechende Norm tangiert sein dürfte. Wer aber geimpft ist und nicht mehr ansteckend, wer genesen und immun ist, der hat seine Grundrechte – und der Grund, seine Grundfreiheiten einzuschränken, ist in der Regel entfallen. Lediglich niedrigschwellige Eingriffe, wie etwa FFP2-Masken im ÖPNV oder beim Einkauf, könnten hier noch gerechtfertigt werden, um Restrisiken auszuschließen – keinesfalls aber Ausgangssperren oder Reise- und Kontaktverbote – schon gar nicht gemeinsame Mittagessen oder Kaffeekränzchen,  Pokerspiele oder Tanztees von geimpften Altenheimbewohner*innen.

Grundrechte sind keine Privilegien

Da gibt es nichts “zurückzugeben” oder  sogar  “Impfprivilegien” zu vergeben. Da muss auch niemand auf den nächsten elektronischen Datenstaubsauger warten, den “elektronischen Impfausweis”. Zugegeben, wenn es Zweifel an der Ansteckungsfähigkeit Geimpfter geben würde, könnte es wissenschaftlich begründet wieder möglich sein, neue, geeignete und zielführende Maßnahmen zu beschließen. Aber Israel, wo über 60% seiner Einwohner*innen geimpft sind, hat vor zwei Wochen weitestgehend geöffnet. Wären Geimpfte noch ansteckend, müsste dort rein statistisch die Inzidenz durch die Decke gegangen sein. Nichts davon ist der Fall. Entsprechende Untersuchungen mehren sich. Aber gleichwohl eiern sowohl die Bundesregierung als auch die Länder bei der Post-Impffrage herum und suchen nach Wegen, die Pandemie-Maßnahmen auf Biegen und Brechen weiter zu verlängern, bis die überwiegende Zahl von Menschen in Deutschland geimpft ist.  Buyx als Medizinethikerin argumentiert etwa mit der Solidarität derjenigen, die aufgrund einer Vorerkrankung oder ihres Alters früher geimpft würden, mit denen, die zurückstünden, um diesen die Impfung zu ermöglichen. Aber ist es nicht auch unsolidarisch gegenüber Geschäfts- und Restaurantbetreiber*innen, ihnen geimpfte Kundschaft vorzuenthalten?

Der Wegfall des Grundes für die Grundrechtseinschränkung, wie sie eine Impfung oder eine Immunität durch überstandene Coronainfektion bedeuten, ist aber keine Ungleichbehandlung gegenüber nicht Geimpften. Ein rechtlich relevante Ungleichbehandlung besteht dann, wenn eine Vergleichsgruppe im Vergleich zu einer anderen im Bezug auf ein gemeinsames Merkmal benachteiligt wird.  Das Bundesverfassungsgericht betrachtet eine Ungleichbehandlung als rechtmäßig, soweit sie sich auf einen tragfähigen Sachgrund  – in diesem Fall die Immunität bzw. Nichtansteckung stützt.

Fehlender Impfstoff Ursache für Zeitspiel

Die eigentliche Ungleichbehandlung besteht in der Knappheit des Impfstoffs, für die allerdings der Staat in seiner Garantenstellung für die Gefahrenabwehr zugunsten seiner Bürger*innen unzureichend handelt und immer noch nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung stellt. Für eine Aufgabe des Priorisierungssystems sind noch nicht ausreichend vulnerable Gruppen geimpft – der Rhein-Sieg-Kreis etwa, zu den Schlusslichtern in NRW gehörend, verkündete am vergangenen Dienstag, dass nun endlich die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung für vulnerable der Gruppe 2 – unter 80jährige mit schweren Vorschädigungen – geöffnet worden sei. Zwischenzeitlich hatte der Landrat 200 Personen impfen lassen, die sich in der Pressestelle des Kreises über das schleppende Impftempo beschwert hatten. Und die schwarz-grüne Kreistagsmehrheit stärkte Landrat Schurke (Name zu seinem Schutz geändert) für sein offensichtlich rechtswidriges Handeln den Rücken. Auch in Köln wurden die Mitarbeiter*innen der Bußgeldstelle mit einem “übrigen” Kontingent Impfstoff versorgt. Falls das jemand nicht versteht: Die Bußgeldstelle ist in jeder Kommune die Verwaltungsstelle, die immer Gewinn macht, immer Einnahmen generiert – man muss nur Verwaltung verstehen, um manche wundersamen Impfentscheidungen zu erklären.

Die Pandemie ist ein soziales Problem

Schon im vergangenen Herbst kam mir die Idee, die Karte mit den im “Kölner Stadtanzeiger” veröffentlichten Inzidenzzahlen mal über eine entsprechende mit den sozialen Brennpunkten zu legen – sie passten nahtlos überein. Ein halbes Jahr später ist dies endlich auch der Stadtspitze aufgefallen und OB Reker hat vernünftigerweise verkündet, dass nun mobile Impfteams in die besonders belasteten Stadtteile wie Chorweiler, Mühlheim, Kalk oder den Kölnberg in Mechenich geschickt werden sollen, um Menschen, die dort in beengten Wohnverhältnissen leben und oft von Nachrichten aufgrund von Sprachbarrieren abgeschnitten sind, Impfangebote zu machen. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen. So genau trägt Politik vorbildlich der Tatsache Rechnung, dass diese Menschen, die oft ihre Berufe als Paketboten, in der Logistik oder als Billiglöhner in Dienstleistungsbereichen unter erhöhtem Risiko ausüben, solidarisch aufgefangen und geschützt werden. Auch der “kleine Hobbit” Laschet hat das erkannt und unterstützt die Kommunen in NRW darin.

Neoliberaler Spaltpilz der Solidarität

Eine eher neoliberale, aber in die Ideologie der identitären Denkansätze passende Persiflage von Solidarität leistete sich am Vortag des 1.Mai eine stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW, die in diesem Zusammenhang von “Vorverurteilung” (sie meinte wohl Diskriminierung, was es nicht besser macht) der Einwohner*innen bestimmter Stadtteile polemisierte. Prima: das Benennen von real existierenden sozialen Problemen wird zum Problem erklärt. So auch in Söderland: Die Stadt München erklärte am gleichen Tag auf Nachfrage des Bayerischen Rundfunks, dass man anders als in Köln auf eine Erfassung einer Korrelation zwischen sozialem Niveau der Stadtteile und Verbreitung des Corona-Virus völlig verzichte. Denn, so verkündete die Schicki-Micki-Metropole des Alpenstaates, dass ja aufgrund des Wohnorts nicht gesagt werden könne, wo sich die Personen angesteckt hätten. Also wäre auch hier die Gefahr der “Diskriminierung” bestimmter Stadtteile zu befürchten und wichtiger, als etwas gegen die sozialen Mißstände zu tun. Kein demokratisches oder egalitäres Konzept. sondern unpolitisch, dumm und kleinbürgerlich – aber in der beschränkten identitären Denkwelt scheinbar politisch korrekt. Schöne Solidarität, wenn den Stadtoberen Image und Gentrifizierungspotenzial eines Stadtteils wichtiger sind, als die Gesundheit der – zumindest derzeit noch – dort lebenden sozial benachteiligten Bevölkerung. Woher kommt derartig verquastes Denken?

Vom Irrtum sozialsuizidaler Identitätsideologie

Statt Bekämpfung sozialer Mißstände lieber eine scheinbar politisch korrekte Problemverschleierung: “Benennt bloß nicht soziale Brennpunkte, denn das könnte die Betroffenen stigmatisieren.” Ob das möglicherweise verhindert, dass die Ursachen ihrer Unterprivilegierung beseitigt werden könnten, ist manchen offenbar egal. Derartiges Gedankengut entspringt ursprünglich einer wilden Mischung aus Streben nach Emanzipation diskriminierter Gruppen einerseits und den Dogmen des US-amerikanischen Neoliberalismus  seit Ronald Reagan andererseits. Der Kern des Irrtums von Emanzipation besteht darin, diese als isolierte Aufgabe jeder einzelnen Gruppe, ob Feministinnen, Queer, Schwarze, Latinos oder Schwule, Behinderte, religiöse, ethnische oder politische Minderheit anzusehen oder zuzuschreiben, und damit jede einende Solidarität wie etwa die einer Arbeiterbewegung oder aller Unterprivilegierten oder aller Armen so schon im Denkansatz zu unterbinden. Da wird es wichtiger, die angeblichen Privilegien “alter weißen Männer” zu problematisieren, als darüber nachzudenken, wieviele Millionen alter weißer Männer und Frauen (alt- 68er) für die gemeinsamen Ziele, den Planeten gerechter und solidarischer, feministischer, multikultureller und diverser zu machen, mobilisiert werden könnten. Spaltende (a)soziale Netzwerke vertiefen diese Segregation durch ihre Algorithmen noch. Die Reichen und Mächtigen freuen sich darüber.

Folgen für das Grundrechtsverständnis

Die daraus folgenden Konsequenzen münden denn auch in der allgemeinen Verwirrung, ihres bösartigen Mißbrauchs durch Corona-Leugner und Schwurbler bis hin zur Aufgabe des vornehmen Prinzips der allgemeinen, universell gültigen unveräußerlichen Grund- und Freiheitsrechte, die jeder Person gleich und ohne Ansehen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, der Hautfarbe oder anderer persönlicher Eigenschaften oder Handicaps von Natur aus unveräußerlich zustehen. Hier für Klarheit zu sorgen – auch durch grundrechtsfeste Gesetze und Interpretationen – gehört zu den vornehmsten Aufgaben von Exekutive und ganz besonders der Legislative, der Parlamente.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Horst Eberlein

    Ich möchte auf weitere Beiträge hinweisen, die sich auf Unsicherheiten in der Bewertung von Impfstoffen und der Spaltung der Gesellschaft beziehen. Entschieden möchte ich dem unsäglichen Framing widersprechen mit dem Begriff “Corona-Leugner” die Nähe zu “Holocaust-Leugner” herzustellen, wenn die Pandemie in Ausbreitung und Letalität in historische Erfahrungen gestellt wird. Ich kenne niemanden, der bestreitet, dass es das Corona-Virus gibt und dass dieses krank machen und eine Erkrankung tödlich enden oder schwere Langzeitschäden hervorrufen kann. Allerdings heißt dies ja noch nicht, dass die Maßnahmen daran irgendwas ändern würden oder dass diese nicht auf anderem Gebiet oder in anderen Ländern verheerende Folgen haben. Auch können Grundrechte nicht missbraucht werden, sondern nur gebraucht werden und bösartig sowieso nicht, denn das ist eine moralische Dimension, die vom Betrachter abhängt. Wer eine Philosophenherrschaft anstrebt, ist deshalb nicht bösartig, aber vertritt sicherlich nichts, was ich möchte und ich würde auch alles tun unter Anwendung dieser gleichen Rechte, dies zu verhindern. Aber hier Beiträge, die der Aufklärung und dem demokratischen inhaltlichen Diskurs verpflichtet sind, ohne Personen mit anderen inhaltlichen Positionen verächtlich zu machen.
    https://www.radikaldemokraten.de/Members/he-40berlinfeelings.de/interessantes-im-netz/wissenschaftliche-politik-interview-mit-prof-dr-michael-esfeld
    gefunden werden. Niko Härting hat einen Podcast zu “Corona im Rechtsstaat” der zwischenzeitlich 61 Folgen veröffentlichte und längere Gespräche mit z.B. Ulrike Guérot zur Bundesnotbremse oder Klaus Lederer über Kulturpolitik unter pandemischen Bedingungen oder Prof. Dr. Josef Franz Lindner zu „Ist ein harter Lockdown nur deswegen notwendig, weil die Politik wirksame Schutzmaßnahmen an entscheidender Stelle unterlässt? Wäre er ansonsten nicht erforderlich, und ist er daher rechtswidrig?“…
    https://ping.podigee.io/
    Zum Thema Grundrechte und mehr Freiheit für Geimpfte ein sehr umfassendes Gesräch mit Ulrike Guérot:
    https://www.youtube.com/watch?v=GCEUp2WfM2w
    Ein sehr gutes Stück Aufklärung zu der Problematik um rna-Impfstoffe bietet der Diskurs zwischen dem linken Biologen Clemens Arvay und Mai-Lab, die in mehreren sich aufeinander beziehenden Beiträgen ihre unterschiedlichen Einschätzungen darlegen:
    https://www.youtube.com/watch?v=a_NpJU12_LA&t=0s
    und die Antwort von Clemens Arvay:
    https://www.youtube.com/watch?v=gOdAQ6IVV1c&t=0s
    Die Auseinandersetzung mitJanos Hegedüs zeigt, wie vergiftet der Diskurs schon jetzt ist :
    https://www.youtube.com/watch?v=ReqN96yHXSQ
    und die Antwort
    https://www.youtube.com/watch?v=2P8nJRroRZ8&t=0s
    und noch einmal Janos Hegedüs:
    https://www.youtube.com/watch?v=v1J1PQ9TcwI
    und darauf nochmal Arvay:
    https://www.youtube.com/watch?v=u87y8XVbqgI
    Für mich wird es aber immer unverständlicher, weshalb ehemalige Jungdemokratinnen zu Befürwortern von experimentellen gentechnischer Mitteln an Millionen Menschen jeglichen Alters mutieren können. Allein der Nürnberger Kodex verbietet dieses Vorgehen. Zum Vorhaben auch Kinder zu impfen mit experimentellen Impfstoffen, sind die Ausführungen von Alexander Kekule informativ:
    https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/kekule-kinder-impfen-herdenimmunitaet100.html

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