Oder weglaufen-vor-sich-selbst?
Noch immer habe ich keine Originalzeile von ihm gelesen. Immerhin 15 Treffer ergibt sein Name als Suchwort in diesem Blog: Klaas Relotius, der Lügen-Sündenbock des Spiegel (und einiger anderer). Für Geschäfte mit Bezahlmauern ist er immer noch gut genug. Die selbstreferentielle Branche schafft gewiss auch selbst ausreichende Nachfrage, damit die eine oder andere Portokasse noch mal klingelt.
Ist Extrovertiertsein ein Krankheit? In einer schrumpfenden Branche, in der es auf Selbstoptimierung und Sichselbstverkaufen ankommt, kann es so weit kommen. Nicht selten. Wohin das führt, können Sie hier an den geprüften Verkaufsauflagen von Spiegel, Stern und Focus studieren. Der Stern ist publizistisch der dramatischste Fall. In den 70er Jahren rivalisierte er mit dem Spiegel um die Meinungsführung. Damit war es 1983 (“Hitler-Tagebücher”) vorbei. Der Fall wurde in Helmut Dietls “Schtonk” (mit Götz George) ultimativ künstlerisch kommentiert. Jetzt wird der Stern irgendwo im RTL-Ast des Bertelsmann-Konzerns verschwinden, und noch nicht einmal mehr ernsthaft als “Profit-Center” tituliert.
Sicher war der Spiegel von der Panik ergriffen, ein ähnlich rasantes Schicksal zu erleiden, und hängte dagegen statt einer weissen Fahne den Herrn Relotius heraus.
Ich weiss nicht, wie krank der Kerl ist, ist mir auch egal. Mich selbst und meine Freund*inn*e*n kenne ich besser. Neben den Extradienst-Gastautoren Günter Bannas und Ulrich Horn, die ihr Gleichgewicht als Rentner gefunden haben, gibt es eine Mehrheit jener, die froh sind, der täglichen journalistischen Galeeren-Arbeit halbwegs gesund entronnen zu sein. Sie sind ein Spiegelbild meiner selbst: ich bin froh, aus dem politischen Intrigengeschäft gesund ausgestiegen zu sein. Die letzten, hoffentlich schönsten Lebensjahre sollen nicht weiter verdunkelt werden.
In der Coronapandemie war das Bloggen für mich die beste Gesundheitsprophylaxe. Es strukturierte den Alltag, wie es das tägliche Einkaufen, die gepflegten Mahlzeiten und regelmässige individuelle Verabredungen mit Freund*inn*en taten. Bei der täglichen Lektüre zahlreicher Internetquellen staute sich täglich ein innerer Druck auf, der sich im Schreiben entlud. Danach war Belohnungszeit durch gutes Essen und Trinken.
Die besten Ideen übrigens kamen in der Dusche, auf dem Klo sowie beim – zum Glück sehr selten gewordenen – nächtlichen Aufwachen im Bett. Das sind die Momente, in denen jeder Mensch ganz bei sich ist. Und das ist es vielleicht, wovor der junge Herr Relotius am meisten Angst hatte.
Was davon ist nun für Sie als Leser*in von Interesse? Während der Herr Relotius und seine Arbeitgeber Ihnen was verkaufen wollen und müssen, gilt hier nichts davon. Ich verkaufe nichts. Ich brauche Sie als Leser*in auch nicht, obwohl ich mich natürlich freue, dass Sie da sind. Da ich Ihnen nichts verkaufen, also auch kein Geschäftsgeheimnis vor der Öffentlichkeit und böser Konkurrenz verbergen muss, kann ich transparent arbeiten. Eine Pandemie des Veröffentlichens im Internet ist das auf-sich-selbst-Verlinken. Auch ich verzichte nicht darauf, obwohl ich auf Clickbaiting ebenfalls nicht angewiesen bin – aber mann freut sich dennoch, wenn mann gelesen wird. So viel Eitelkeit ist überall. Mein “Geschäftsmodell” ist jedoch, dass ich keins habe, und darum freigiebig auf all die Quellen weiterverlinke, die ich schätze, und einige wenige sogar liebe.
Ich weiss, dass meine liebsten Leser*innen das sehr schätzen. Vielleicht versuchen es die, die was verkaufen wollen, auch mal so. Die Währung heisst: Vertrauen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net