Von André Dahlmeyer, Nomadensportstudio
In Brasilien startet die „Todes-Copa“
Überall in Brasilien gehen die Menschen mit Pappschildern auf die Straße, auf denen Dinge stehen wie „Copa Nein! Impfung Ja!“ Es nützt alles nichts. Gestern um 23 MESZ wurde mit dem Spiel zwischen Gastgeber Brasilien und Venezuela die 47. Copa América angetreten (Ergebnis: 3:0 für Brasilien), die ursprünglich erstmals in ihrer 105jährigen Geschichte in zwei Ländern ausgetragen werden sollte. In Kolumbien kam der Staatsterrorismus dazwischen, in Argentinien der Sensenmann.
Dem deutschstämmigen brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro ist das wurscht. Er hat die Copa mittels einer Hau-Ruck-Aktion ins Land geholt, um der Welt zu beweisen, dass er ein unsterblicher Superheld ist und selbst eine Pandemie ihn mal kreuzweise kann. Was andere nicht können – der Messias kann es! Doch selbst unter seinen Anhängern sind nur etwa die Hälfte für diese Copa in Brasilien.
Um das Stadion Mané Garrincha in der Hauptstadt Brasilia streunen die ambulanten Händler markengefälschter Fußball-Devotionalien. Auch sie sind gegen die Copa, aber was sollen sie tun, sie müssen essen. Der ehemalige Präsident Lula da Silva hat die Südamerikameisterschaft dieser Tage eine „Copa de la muerte“ genannt. Todes-Pokal heißt das. „Ordnung und Fortschritt“ steht auf der brasilianischen Nationalflagge. Beides ist unter der Ägide von Bolsonaro abwesend, die Flagge längst blutdurchtränkt. Während der Copa werden die Pandemieopfer die Marke einer halben Million überschreiten. Die Conmebol, der Balltretverband Südamerikas mit Sitz in Asunción, bewirbt diesen weltweit ältesten Wettbewerb für Nationalmannschaften mit dem Slogan „Der Kontinent vibriert“.
Die überwiegende Mehrheit der Brasilianer ist alles andere als enthusiastisch. Vor zwei Jahren, bei der letzten Copa, war das auch ohne Corona nicht anders gewesen. Die Canarinha wurde bei allen Vorrundenspielen ausgepfiffen. Das letzte davon, eine Nullnummer gegen Venezuela, war sogar eher noch glücklich ausgegangen. (Anschließend wurde sie in allen Spielen vom VAR, dem Video-Assistenten, übervorteilt.) Die Probleme Brasiliens sind andersartiger Natur und nicht so gravierend wie in Argentinien, wo die Menschen außerhalb der wenigen urbanen Zentren Hunger leiden, aber erst einen Bolsonaro und dann noch eine Pandemie, das war dann, gelinde gesagt, doch etwas zu fett.
Unterdessen ist der Präsident des brasilianischen Fußballverbands CBF, Rogerio Caboclo, derzeit wegen sexueller Belästigung beurlaubt. Der Brasileirão, die Meisterschaft der Brasucas, läuft während der Copa jedoch genau so weiter wie die Copa do Brasil, der Landes-Pokal. Neymar Jr., Star der Gastgeber, hat gerade aus denselben Gründen seinen Werbevertrag mit Nike verloren. Die Sponsoren der Canarinha zahlen zwar weiterhin, aber einige von ihnen möchten bei der Copa América nicht mehr erwähnt oder gezeigt werden. Schande und Tod sind weder ein guter Ratgeber noch zinsbringender Werbeträger.
Für Bolsonaro ist die Copa der letzte Strohhalm. Gewinnt die Seleçao das Turnier und kommt Brasilien mit den Impfungen in die Strümpfe, sind die Aussichten des Mandatsträgers auf eine Wiederwahl trotz allem nicht ganz unrealistisch, wenn auch unwahrscheinlich. Anderseits gibt es bislang keine ernstzunehmenden Gegenkandidaten.
Zugute kommt ihm so gesehen, das der venezolanische Fußball, unter Chávez in stetem Aufwind, unter Maduro in eine schwere Krise geraten ist. Maduro ist kein Sportsfreund, eher hausbacken. Antreten wird die Vinotinto zudem mit der Rumpfelf einer Rumpfelf. Zählt man die infizierten und verletzten Kicker Venezuelas zusammen, darunter Kapitän und Ex-HSV’er Tomás Rincón, müssen an die fünfzehn ersetzt werden, was natürlich nicht geht. Ebenso viele Spieler wurden nachnominiert, drei aus dem Ausland, zwölf aus der eigenen Liga, praktisch ohne vorheriges Training, die sich gegen die Potenz Brasilien messen darf, das noch besser in die WM-Qualifikation gestartet ist (sechs Spiele, sechs Siege), wie das Argentinien von Marcelo Bielsa vor dem Asien-Mundial.
Es ist das sechste Mal, das die Copa América in Brasilien ausgetragen wird. Die letzten fünf Editionen wurden alle eingetütet. Dieses Mal fehlt ihnen allerdings das Publikum.
1919 nahmen vier Länder teil. Eigentlich sollte das Turnier ein Jahr zuvor stattfinden, wurde aber wegen der Spanischen Grippe verschoben. Das Entscheidungsspiel gegen Uruguay (0:0) war eines der längsten der Fußball-Geschichte. Die Verlängerung ging über viermal 15 Minuten. Nur Pferden gab man den Gnadenschuß. In der 122 Minute gelang Arthur Friedenreich schließlich der einzige Treffer des Spiels. Überschattet wurde das Turnier von dem Tod des uruguayischen Ersatztormanns Roberto Chery, Spitzname: Der Poet, der einen Tag nach der Titelentscheidung an einem im Match gegen Chile erlittenen Leistenbruch (Organquetschungen) verstarb.
Drei Jahre später stieß Paraguay zu dem erlauchten Kreis, dem bereits Argentinien und Chile zugehörten. Nach einem jeder-gegen-jeden lagen Guaraníes, Brasucas und Charrúas (die Urus) punktgleich, aber letztere zogen zurück, weil sie sich vom Referee der Niederlage gegen Paraguay benachteiligt sahen. Brasilien gewann das entscheidende Match mit 3:0.
Es dauerte ein rundes Vierteljahrhundert (1949), bis der Pott wieder am Zuckerhut ausgekickt werden sollte. Argentinien schwänzte. Man war wohl eher damit beschäftigt, Kriegsverbrecher aus Deutschland und Kroatien in die silberländische Gesellschaft zu integrieren. Dafür mandelten sich nun Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien auf. Brasilien gewann im entscheidenden Spiel gegen Paraguay mit 7:0.
Das war ein bißchen langweilig gewesen, also war Brasilien fortan vierzig Jahre copafreie Zone. Dafür waren nun alle zehn der Conmebol angeschlossenen Verbände vor Ort, inklusive Venezuela. In der Runde der letzten 4 ließ Brasilien erst gar keine Zweifel aufkommen und besiegte Argentinien, Paraguay und Uruguay, aus die Maus. Brasilien attackierte mit dem Traum-Tandem Bebéto-Romário, das unglaublicherweise erst eine halbe Dekade darauf auch Weltmeister wurde. Anschließend gewannen sie auch die Copa ARTEmio Franchi gegen die Niederlande, den Europameister von 1988.
Vor zwei Jahren gewannen die Elfen von Tite das Finale gegen Peru, nachdem Bolsonaro vor dem Spiel dem Schiedsrichtersgespann einen Hausbesuch abgestattet hatte. Dass sie da überhaupt hingekommen waren, lag daran, das im Halbfinale Argentinien per VAR verschaukelt wurde, wie es zumindest in Südamerika an der Tagesordnung ist. Der Videoschiedsrichterbeweis hat die Korruption nicht eingedämmt, sondern angeheizt. Das ist nur ein weiterer, aber potenterer, Durchlauferhitzer für das, was ich gewillt bin, die „Reservate des schlechten Geschmacks“ zu benennen.
Update 15.6.: Autor André Dahlmeyer meldet aus der letzten Nacht ein 1:1 zwischen Argentinien und Chile. Ein Freistosstor von Messi, darin ist der sicherer als im Elfmeterschiesssen, genügte nicht.
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