Der deutsche Fußball und seine Reporter
Die Fußball-EM bescherte wider Erwarten doch eine Überraschung. Gemeint ist nicht, dass die deutsche Mannschaft so früh ausschied. Damit war zu rechnen. Das Unvermutete geschah nach der Niederlage gegen England: Fußballreporter kritisierten Bundestrainer Löw. Die Kritik beschränkte sich nicht auf die aktuelle Leistung der Nationalmannschaft. Bemängelt wurden auch schwere Fehler und Versäumnisse der vergangenen Jahre.
Zu den Akten gelegt
Lange war dem Trainer trotz mäßiger Leistung der Mannschaft Kritik weitgehend erspart geblieben. Selbst dann noch, als das Team bei der WM in Russland 2018 schon in der Gruppenphase ausschied. In den Medien wurde ein wenig gemurrt. Dann wurde der Fall zum Ausrutscher erklärt und zu den Akten gelegt. Konsequenzen aus dem Versagen blieben aus.

Und nun das: Mit dem Schlusspfiff im Spiel gegen England ging Löw in Pension. Als wäre ein Damm gebrochen, überschwemmte den Trainer die Kritik. Das Elend der Nationalmannschaft habe schon vor fünf Jahren begonnen und sich ständig verschärft, heißt es nun. Man hörte und staunte.

Zwei Aufführungen in einer

Warum war von den Kritikern all die Jahre nichts zu hören? Warum war niemand von denen, die das Elend seit langer Zeit kommen sahen, Löw frühzeitig in die Parade gefahren, als er anfing, die Basis für das heutige Desaster der Mannschaft zu legen?

Die Krise der Teams, das lässt sich kaum noch verbergen, ist auch eine Krise der Fußballberichterstattung. Wer die Spiele der Nationalmannschaft bei ARD und ZDF am Fernseher verfolgt, erlebt seit Jahren bei der Übertragung zwei Inszenierungen in einer: das Spiel der Mannschaften und den Auftritt der TV-Bediensteten, der Reporter, Kommentatoren und Experten.

In den Hintergrund gedrängt

Bei ihnen handelt es sich um Fußballspieler, die nicht mehr aktiv sind. Sie dienen offensichtlich dazu, die TV-Fußballbediensteten zu unterstützen. Ihnen trauen die Sendeanstalten, der DFB und die DFL offenbar nicht mehr zu, den Verlauf von Spielen der Nationalmannschaft sach- und fachgerecht zu erklären.

Sie dauern, inklusive Halbzeitpause, im Normalfall 105 bis 110 Minuten. Was über solch ein Spiel zu sagen ist, wurde früher in dieser Spanne gesagt: die Übertragung begann kurz vor dem Anpfiff, sie endete kurz nach dem Abpfiff. Diese Zeiten sind vorbei. Die Sendeanstalten und die Fußballorganisatoren haben das Geschehen auf dem Rasen immer mehr zur Werbeveranstaltung degradiert und seinen sportlichen Aspekt in den Hintergrund gedrängt.

Ohne Distanz zum Thema

Heute ist das Spiel Bestandteil eines abendfüllendes Unterhaltungsprogramms, das weit vor dem Anpfiff beginnt und lange nach dem Abpfiff endet. Es kommt als nationales Großereignis daher, obwohl mehr als die Hälfte aller TV-Gebührenzahler gar kein Interesse an Fußball haben.

Die Sendeanstalten haben das Spiel in Plauderei eingebettet, die längst auch dessen Reportage erfasst hat. Der Rahmen des Spiels dient auch dem Zweck, Kritik weichzuspülen und Sponsoren bei der Stange zu halten.

Begeisterung schüren

In den Fußballinszenierungen vor und nach den Spielen agieren Sportjournalisten als Animateure, die fast unverhohlen den wirtschaftlichen Interessen der Spieler, der DFL und des DFB dienen.

Die Fußballanimateure zeigen kaum noch Distanz zu ihrem Thema. Selbst während des Spiel arbeiten die Reporter eisern darauf hin, Begeisterung zu schüren und sachliche Bewertungen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Unsinnige Lautstärke
Sie benehmen sich am Mikrofon wie die Fans in den Fanblocks. Sobald der Ball in die Hälfte des Gegners rollt, heben die Reporter die Stimme. Nähert sich der Ball dem Strafraum, beginnen sie zu schreien. Rollt der Ball in den Strafraum, steigern sie sich zum Gebrüll. Rollt der Ball dort Richtung Tor, geraten sie lauthals völlig aus dem Häuschen.

Ob der Ball das Tor trifft oder zehn Meter vom Torpfosten entfernt ins Aus fliegt, macht keinen Unterschied. Harmlose Spielzüge werden gnadenlos dramatisiert. Je harmloser sie sind, desto stärker werden sie hochgedreht.
An den Rand der Ekstase gejauchzt
Gerät der Ball in die Nähe des Tores, jauchzt sich der Reporter oft an den Rand der Ekstase. Die Lautstärke der Reporter scheint meist unsinnig, weil die Spielzüge, denen der Lärm gilt, erkennbar harmlos sind und folgenlos bleiben.

Die Reporter zielen offenbar darauf ab, die Zuschauer auf ihren Sofas mitzureißen. Als wären wir in Südamerika und bräuchten den Fußball als Daseinszweck und Lebensinhalt, um all die Not und all das Elend um uns herum zu verdrängen und erträglich zu machen.

Auf der siebten Sohle angekommen

Öffentlich-rechtlichen Berichterstattern scheint nicht mehr bewusst zu sein, dass sie Gast im Wohnzimmer sind und dass viele ihrer Gastgeber von ihnen erwarten, sich angemessen zu benehmen. Viele Menschen finden es sehr befremdlich, dass in ihren vier Wänden Besucher, die sie finanzieren, unablässig herumbrüllen, als säßen sie mitten im Fanblock oder in der Kneipe.

Das Gebrüll ist auch deshalb schwer zu ertragen, weil das sprachliche Niveau der Fußballreporter immer stärker verfällt, obwohl sie doch auch vom mündlichen Ausdruck leben. Er ist inzwischen zu einer kruden Mischung aus Fan- und Fachjargon verkümmert. Die TV-Fußballreporter sind auf der siebten Sohle angekommen.

Angestaubte Infos aus den Archiven

Der Konjunktiv ist ihnen fremd. Verben scheinen sie zu hassen. Minutenlang reihen sie nur Satzfetzen aneinander. Man könnte meinen, sie wären gerade eingewandert und hätten eben erst mit dem Grundkurs Deutsch für Zuwanderer begonnen.

Statt den Spielverlauf zu erklären und zu schweigen, wenn es nichts zu erklären gibt, füllen sie große Zeitspannen während der Spiele langatmig mit angestaubten Infos aus den Archiven, die viele Zuschauer längst aus dem Internet kennen. Die Spielanalysen werden immer dürftiger. Ein EM-Reporter befand: „Ein geiles Spiel“. Sein Urteil über das Spiel gipfelte in einem kräftigen: „Boah“.
Ohne Zwang zur Korrektur
Die Nationalmannschaft konnte sich fehl entwickeln, weil sich die DFL und der DFB der Berichterstattung bemächtigt haben. Sie dient weniger der kritischen Begleitung des Profifußballs als seiner Vermarktung. Es fehlt an Kritik und deshalb am Zwang der Fußballorganisatoren, Fehler zu korrigieren.

Wohin Selbstbetrug führt, weiß man aus der Politik. Mancher Regierungschef und seine Clique setzen alles daran, die Berichterstattung über ihr Tun und Lassen zu steuern. Dort, wo es gelingt, verschlechtert sich über kurz oder lang die Lage.

Die Berichterstattung befreien

Derzeit reift in Deutschland die Einsicht, der Fußball müsse reformiert werden. Damit es gelingen kann, müssten zunächst die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Sportberichterstattung reformieren. Sie muss sich aus dem Griff der Spieler, Vereine, Verbände, ihrer Sponsoren und der Fußballfanatiker befreien und Distanz zum Fußball gewinnen.

TV-Reporter dienen den Zuschauern, nicht der DFL oder dem DFB. Es sind die Gebühren- und Steuerzahler, die den Reporter, seine Sendeanstalt, den DFB und die DFL finanzieren und es den Fans ermöglichen, ihr Dasein über Fußball zu definieren. Wenn sich der deutsche Fußball erneuern soll, verbietet sich jeder Anschein von Kumpanei mit seinen Akteuren. Sonst wird das nichts.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.