von Sven Osterberg / Otto Brenner Stiftung
Bilanz der Nebenverdienste der Abgeordneten in der 19. Wahlperiode
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Nicht nur der 19. Deutsche Bundestag ist mit seinen 709 Sitzen so groß wie noch nie – auch der Anteil an Abgeordneten, die eine entgeltliche Tätigkeit neben dem Mandat bei der Bundestagsverwaltung gemeldet haben, war nie höher als gegen Ende der laufenden Legislatur. Ein recht stabiler, wieder leicht steigender Sockel von einem Drittel der Abgeordneten widmet sich in jeder Wahlperiode neben dem Mandat entweder mindestens einer Aufgabe in einem Unternehmen oder ist mit bezahlten Nebenjobs beschäftigt. Dagegen scheint das Interesse oder die Attraktivität, sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu engagieren, seit der 17. Wahl-periode stetig abzunehmen – ein beachtliches Phänomen, das insbesondere auf neu in den Bundestag eingezogene Abgeordnete zutrifft, vor allem Mitgliedern aus der AfD-Fraktion. Gleichzeitig beobachten wir eine Zunahme der Zahl von Organisationen, die durch einzelne Abgeordnete bei längerer Zugehörigkeit repräsentiert werden. Das Mandat strahlt offenbar doch eine gewisse Attraktivität aus.
Im Kern zeigte sich jedoch trotz der erheblichen fraktionellen und personellen Veränderungen über alle Wahlperioden hinweg eine stabile Verteilungsstruktur der veröffentlichungspflichtigen Angaben. Die beiden größten Problemgruppen hinsichtlich bezahlter Nebentätigkeiten waren und sind die Unions- und FDP-Fraktion. Sowohl bei der Zahl der Stufenangaben als auch bei den Gesamteinnahmen bilden sie die größten Gruppen. Aber auch die AfD-Fraktion, die sich den Kampf gegen Lobbyismus und Nebentätigkeiten von Abgeordneten ins Wahlprogramm geschrieben hat, hat ein Problem – zumindest mit einigen ihrer Abgeordneten. Gleichermaßen problematisch ist der viel zu geringe Anteil von Frauen im Deutschen Bundestag. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Tätigkeiten neben dem alimentierten Mandat eher im gesellschaftlichen Engagement. Aber es gibt starke fraktionelle Unterschiede, die die bezahlten Nebentätigkeiten vor allem zu einem Problem von Männern aus der Unionsfraktion macht.
Die Zahl der aus Nebentätigkeiten angegebenen Nebeneinnahmen hat sich gegenüber den vorangegangenen Wahlperioden mehr als verdoppelt und die mittleren Gesamteinkünfte sind insgesamt um 40 Prozent auf fast 53 Millionen Euro gestiegen. Unabhängig von der Gesamtsumme der Nebeneinnahmen, ist die stark gestiegene Zahl der gemeldeten Einnahmen viel kritischer zu betrachten. Es kann angenommen werden, dass mit jeder Meldung einer Nebentätigkeit auch eine Gegenleistung erbracht wurde – also Zeit auf Kosten des Mandats in Anspruch genommen wurde. Aber auch die künftigen Regeln geben über den tatsächlichen Zeitaufwand keinerlei Auskunft. Dennoch sollte sich jeder Abgeordnete aus der „Fraktion der Aufstocker“ darüber bewusst sein, dass die Abgeordnetenentschädigung eine Vollalimentation ist. Sinn der Diäten ist es, die Abgeordneten von anderen Einkommens­quellen unabhängig zu machen.
Hier ist ein grundlegendes Problem, das auch durch die neuen Transparenzregeln nicht transparenter oder besser geregelt wird. Es wird weiter Zweifel geben, ob das Mandat im Mittelpunkt steht, auch wenn die Abgeordneten ihre Nebeneinkünfte auf Euro und Cent genau angeben müssen. Der Souverän hat das Recht zu erwarten, dass sich die Abgeordneten mit ganzer Kraft und Zeit ihrem Verfassungsauftrag widmen, der durch die komplexe Wirklichkeit und ihre Krisen aller Art eine voll auslastende und hochprofessionelle Tätigkeit geworden ist. Nebentätigkeiten ernsthaft wahrzunehmen und gegen Entgelt auszufüllen, ist im Grunde vollkommen unrealistisch. Es ist aber auch zu konstatieren, dass sich das Problem zum größten Teil auf eine kleine Minderheit von Abgeordneten erstreckt. Der viel größere Teil der Abgeordneten nimmt den Verfassungsauftrag an und führt ihn mit ganzer Kraft aus. Andererseits nährt die extreme Steigerung der Stufenmeldungen in den letzten Monaten den Verdacht, dass in den vergangenen Wahlperioden das Melden von Nebeneinnahmen und Nebentätigkeiten nicht ganz so ernst genommen wurde. Aktuell, unter erhöhtem öffentlichem Druck, scheint einiges eiligst nachgeholt worden zu sein. Das betrifft nicht nur Angaben über Nebeneinnahmen, sondern auch das Nachmelden von Funktionen in Unternehmen oder Vereinen, die nur bedingt im Einklang mit der Wahrnehmung des Mandats stehen.
Auch ohne die skandalösen Affären und Einzelfälle, die Anfang 2021 bekannt wurden, hatte der Deutsche Bundestag ein Problem, das die Änderung der bisher geltenden und unzulänglichen Regeln notwendig machte. Wir haben immer wieder in den Vorgängerstudien darauf hingewiesen, dass das bestehende Regelwerk unzulänglich war, weil es den Eindruck nicht unterbinden konnte, dass der Bundestag in der Hand von Lobbyisten und Karrieristen sei – er ist es nicht, aber einzelne Abgeordnete leisten immer wieder einen Beitrag, dieses Bild zu verfestigen. Bei jeder einzelnen Verfehlung von Abgeordneten wird das gesamte Parlament in Mithaftung genommen. Insofern liegt es auch in seiner Hand, diesen Missstand zu beheben. Noch im Vorwort der Eröffnungsbilanz zur 19. Wahlperiode haben wir festgestellt, dass das Signal „Wir haben verstanden!“ nicht aus dem Bundestag zu hören war. Am Ende einer unvergleichlichen Affäre um Bereicherung und Korruption einzelner Abgeordneter aus dem Bundestag und am Anfang des Gesetzgebungsprozesses zur Verbesserung der Transparenzregeln konnten wir nun endlich das lang erhoffte Signal „Wir haben verstanden, und wir handeln!“ von Patrick Schnieder (CDU/CSU) hören.
Das trifft auf die Einigung der Koalition zum Lobbyregister nur bedingt zu, welches trotz aller Kritik, immerhin ein Einstieg in eine „Marktordnung für Lobbyisten“ sein kann. Wir werden dennoch auch in Zukunft nichts darüber erfahren, wer mit wem Kontakt hatte und welcher Gesetzgebungsprozess davon betroffen ist. Es wird keinen exekutiven Fußabdruck geben und es bleibt nur die Frage nach dem cui bono, um auf mögliche lobbyistische Interventionen zu schließen. Auch die Tiefe der Lobbyaktivitäten in den Bundestag und die Bundesregierung sind nicht weit genug gefasst, weil die Definition von Lobbykontakten auf der Ebene der Entscheider stehen bleibt und die Fachreferate, die in der Regel Gesetzes-texte verfassen, nicht berücksichtigt werden.
Grundsätzlich ist die breite und fraktionsübergreifende Initiative von Union, SPD, Die Grünen und Die Linke zur Verschärfung der Transparenzregeln zu begrüßen. Genauso bedauerlich ist, dass sich FDP und AfD nicht dazu durchringen konnten die Initiative mitzutragen. Aber trifft das Gesetz den Kern des Problems oder schafft es nur neue Probleme?
Das große Versprechen ist mehr Transparenz. Kann aber noch mehr Transparenz überhaupt Korruption oder persönliche Bereicherung verhindern? Wir wissen schon heute sehr viel über das Tun und Lassen der Abgeordneten außerhalb des Parlaments anhand der Daten, die auf den persönlichen Webseiten der Abgeordneten des Deutschen Bundestages veröffentlicht werden und können uns ein eigenes Bild darübermachen, wie sehr sich der einzelne Abgeordnete dem Mandat widmet oder nicht. Aber es hat sich mittlerweile gezeigt, dass diese Daten auch von der persönlichen Bereitschaft der Mandatsträger, sie zu veröffentlichen, abhängig sind. Daran ändert auch das neue Gesetz nichts und hier liegt ein großes Problem: Wer kontrolliert, ob die Angaben korrekt oder überhaupt gemacht werden? Der bisher einmalige Vorgang der Verhängung eines Ordnungsgeldes im Deutschen Bundestag wegen falscher bzw. nicht gemachter Angaben wurde durch eine Untersuchung von Sonderermittlern des Europarates ermöglicht, die Korruptionsvorwürfen im eigenen Haus nachgegangen waren. Es war nicht das Ergebnis einer Untersuchung durch die Bundestagsverwaltung. Philip Amthor hat seine Anzeigepflichten gegenüber der Bundestagsverwaltung nicht verletzt, aber allein aus den Angaben war nie ersichtlich, dass es sich um eine entgeltliche Lobbytätigkeit handelte. Unentgeltliche Interessenvertretung hingegen ist nicht als Lobbytätigkeit definiert, d.h. ehrenamtliche Lobbytätigkeiten bleiben vom neuen Gesetz unberührt. Was davon sind gewünschte und zulässige Nebentätigkeiten?
Wie kann die Freiheit des Mandats einerseits und eine Kontrolle der selbst gesetzten Regeln zu den Nebentätigkeiten andererseits vernünftig miteinander vereinbart werden? Dass die Bundestagsverwaltung allein diese Aufgabe zukünftig stärker ausfüllt bzw. ausfüllen kann, muss bezweifelt werden. Es muss eine Aufzeichnungspflicht über die Nebentätigkeiten und die dafür verwendete Zeit geben, so wie es bereits in Großbritannien üblich ist. Nur dann lässt sich auch wirklich nachvollziehen, ob das Mandat tatsächlich noch im Mittelpunkt steht. Möglicherweise braucht es eine neue Institution, die mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, eigene Untersuchungen anzustrengen. Eine permanente Kommission beim Deutschen Bundestag muss eingerichtet werden, die Zweifelsfragen und Unklarheiten in Bezug auf das rechtlich richtige Verhalten von Abgeordneten löst. Sie könnte aus von den Fraktionen benannten Abgeordneten und externen Fachexperten bestehen.
„Entgeltliche Interessenvertretung für Dritte liegt vor, wenn Einfluss auf den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundestages und der Bundesregierung gegen Entgelt erfolgt“ – so lautet die Definition im neuen Gesetz. Ob sich über eine entgeltliche Tätigkeit von Abgeordneten für Unternehmen und Verbände deren Einfluss auf das Parlament oder die Regierung tatsächlich erhöht oder die Abgeordneten umgekehrt politischen Einfluss auf die Unternehmen und Verbände nehmen, wer also letztlich die Gewinner des Informationsaustausches sind, bleibt eine offene, im Einzelfall, zu prüfende Frage.
Ein praktischer Fall: Ein direkt gewählter Abgeordneter, Arzt, Mitglied im Gesundheitsausschuss, Mitglied im Beirat der Ärzte- und Apothekerbank, Mitglied des Beirates der Deutschen Ärzteversicherung AG, Präsident einer Ärztekammer mit monatlichen Einkünften der Stufe 3 (7.001–15.000 Euro), Vorsitzender des Verwaltungsausschusses einer Ärzteversorgung, Vorsitzender des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen e.V. (ABV), Berlin, mit monatlichen Einkünften der Stufe 2 (3.501– 7.000 Euro), Mitglied des Vorstandes der Bundesärztekammer und Mitglied des Kuratoriums von zwei Stiftungen, die sich mit Fragen ärztlichen Interesses beschäftigen. Anhand der Daten kann nicht entschieden werden, ob mittels der Nebentätigkeiten die lobbyistische Einflussnahme auf das Parlament oder die Einflussnahme der Politik auf die Gesellschaft mehr gestärkt wird. In vielen Fällen geschieht das eine oder das andere oder beides in einem komplexen Wechselspiel. Inwiefern greift in diesen Fällen die neue Vorschrift des Gesetzes?
Viele der Funktionen stehen sicherlich auch im Zusammenhang mit dem Mandat, doch bei den angegebenen Einnahmen und einer entsprechenden Gegenleistung erschließt sich nicht, dass das Mandat den Mittelpunkt der Tätigkeiten darstellen kann, schon gar nicht zeitlich. An diesem exemplarischen Fall werden die zwei grundsätzlichen Probleme entgeltlicher Nebentätigkeiten deutlich. Sie privilegieren die Beteiligten und sie erzeugen auf der anderen Seite Nachteile und Benachteiligungen für Wähler wie für gesellschaftliche Gruppen, die nicht über einen besonderen Zugang zur Politik durch eigene Funktionsträger im Parlament verfügen. Transparenz ist und bleibt gut, löst aber nicht das Problem.
Die entgeltlichen Tätigkeiten sind in doppelter Hinsicht ein Privileg: Die Abgeordneten verschaffen sich ein höheres Einkommen – eine eigene Klasse von Abgeordneten entsteht, die sich in einer anderen ökonomischen Situation befindet als ihre Parlamentskollegen. Herbert Hönigsberger analysierte für die erste Studie der Reihe einschlägige Parlamentsdebatten anhand derer sich nachzeichnen ließ, dass diese „ein eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Status quo (entwickelt), quasi ein poli­tisches Programm in eigenem Interesse, das es rechtfertigt, das Bild von der sechsten Fraktion zu wählen.“ Eine Minderheit von Unternehmen, Verbänden usw. wird gegenüber anderen privilegiert, da „ihre“ Abgeordneten, sei es entgeltlich oder ehrenamtlich, ihnen einen exklusiven Zugang zu politischen Informationen verschaffen, aus denen sie möglicherweise Vorteile gegenüber Konkurrenten ziehen.
Auf der anderen Seite werden die Wähler dieser Abgeordneten benachteiligt, denn ein Entgelt für eine Funktion in einem Unternehmen oder einem Verband kann als starkes Indiz dafür gedeutet werden, dass sich die Abgeordneten stärker auf Einzelinteressen fokussieren als auf die Belange ihrer Wähler. Wähler werden gegenüber Wählern benachteiligt, deren Abgeordnete keine Funktionen für Einzelinteressen übernommen haben und ihre Zeit ganz für das Mandat aufwenden. Letztlich geht dem Souverän insgesamt Zeit durch Nebentätigkeiten verloren.
Solange Nebentätigkeiten neben dem Mandat möglich sind, werden immer wieder neue Probleme entstehen, die der Integrität und dem Ansehen des Parlaments insgesamt schaden und Regulierungen erfordern. Ob das Vertrauen in die parlamentarische Arbeit mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz zurückgewonnen werden kann, wird sich in den kommenden Wahlperioden zeigen müssen. Doch der Zeitpunkt, zu dem mehr Transparenz noch einen signifikanten und positiven Einfluss auf das Bild der Politik und des Parlaments hat, ist möglicherweise schon überschritten. Dem Ansehensverlust der Politik nachhaltig Einhalt gebieten, kann wohl nur noch eine massive Einschränkung oder Einstellung von Nebentätigkeiten. Das gilt auch für Problemfelder wie Parteienfinanzierung, Parteispenden oder Seitenwechsel von ehemaligen Abgeordneten und Ministern. Um den Gestus „Wir haben verstanden!“ glaubwürdig zu untermauern, braucht es mehr als demonstrative Schritte oder symbolische Taten.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme des Schlusskapitels des OBS-Arbeitspapiers “Aufstocker im Bundestag IV”. Den vollen Wortlaut mit Tabellen und Fussnoten finden Sie hier.
Beachten Sie zum gleichen Thema auch die ARD-Dokumentation “Geld.Macht.Politik.” von Julia Lehmann und Tobias Seeger, heute 22.55 h, und hoffentlich auch zügig in der Mediathek.

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