Bürgerrechtsorganisationen und Datenschützer*innen, so wie viele linksliberal denkende Wähler*innen setzen große Hoffnungen in eine neue Bundesregierung. Seit Jahren wurden die Bürger*innen*rechte in Deutschland immer weiter eingeschränkt. Dabei spielte das Bundesinnenministerium, egal unter welchem Minister, sowohl auf der politischen, als auch der fachlichen Arbeitsebene eine ebenso fatale wie entscheidende Rolle. Mit Gerhart Rudolf Baum verließ im November 1982 der letzte liberale, freiheitlich orientierte Innenminister das Bundeskabinett. Seit 39 Jahren wird das Bundesinnenministerium von Ministern von CDU/CSU oder SPD – egal in welcher Koalition – geführt. Die überwiegende Mehrheit von ihnen war genau das Gegenteil von liberal. Es schien eher oft, als hätten sie sich George Orwell als Vorbild erkoren.
Was 1986 mit maschinenlesbaren Ausweisen begann, mit biometrischen Merkmalen über verknüpfte Melderegister, kleinen und großen Lauschangriffen, Vorratsdatenspeicherung, Kompetenzerweiterung der Geheimdienste aufwuchs, brachte immer neue Verdachtsdateien, die die Bürger*innen*rechte einschränkten. All dies, ohne dass diese Gesetze und Techniken das politische Versprechen ihrer Verfechter erfüllt hätten, erfolgreich Kriminalität, Extremismus und Terrorismus zu bekämpfen. Allein dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das viele dieser Normen aufhob oder einschränkte, ist zu verdanken, dass die Grundrechte der Verfassung noch immer uneingeschränkt gelten.
Vom Freiheits- zum Sicherheitsstaat
Seit Jahrzehnten wurden in den Fachabteilungen und im Führungskreis immer neue Gesetze und Techniken erdacht, vom Gedanken geleitet, Bürgerinnen und Bürgern zu misstrauen und von ihnen Risikoprofile oder Bewegungsbilder anzufertigen. Aber nicht nur im Bereich der öffentlichen Sicherheit spielte das Bundesinnenministerium eine unselige Rolle. Die permanente Verschärfung der einfachen Einwanderungs- und Asylrechtsgesetzgebung seit der Grundgesetzänderung 1994 geht auf das Bundesinnenministerium unter “schwarzer” und “roter” Führung zurück – etwa das “Asylbewerberleistungsgesetz” mit seinen Gutscheinen und anderen sozialen Diskriminierungen. Bekanntermassen hat auch Otto Schily (SPD) durch die Sicherheitsgesetzgebung nach dem 11. September 2001 so tief in Bürgerrechte eingegriffen, dass selbst der als Hardliner bekannte bayerische CSU-Innenminister Beckstein bekannte, Otto Schily habe ihn “rechts überholt”.
Misstrauen des Staates gegenüber den Bürger*innen
Wesentliche Gesetze, die vom BMI ausgearbeitet und von verschiedenen Bundesregierungen verabschiedet wurden, erwiesen sich als verfassungswidrig. Der “Große Lauschangriff”, das sogenannte Luftsicherheitsgesetz, anlasslose Rasterfahndungen, die Vorratsdatenspeicherung, der “Staatstrojaner” und die Online-Durchsuchung. Die Erweiterung der Abhörmöglichkeiten in der Telekommunikation, die ungezügelte Speicherung und Weitergabe von Fluggastdaten, die Einführung des schwammigen Rechtsbegriffs der “drohenden Gefahr”, Videoüberwachung mit biometrischen Gesichtskontrollen – all diese Entwicklungen beinhalten eine Gefahr für die Freiheitsrechte und sind eine Misstrauenserklärung des Staates gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die dem Geist unseren freiheitlichen Grundgesetzes zuwider läuft. Rund zwanzigmal wurden in den letzten Jahrzehnten Gesetze verabschiedet, die vom Bundesverfassungsgericht aufgrund von Klagen liberaler und bürgerrechtlicher Jurist*inn*en wieder eingeschränkt oder aufgehoben wurden.
Strukturelle Blindheit gegen rechts
Die Gesetze zur Erweiterung der Kompetenzen von Geheimdiensten in der Terrorbekämpfung und die faktische Aushöhlung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Geheimdiensten, wie auch die operative Führung des Verfassungsschutzes haben nicht zu einer Verbesserung der Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern beigetragen. Der Fall Anis Amri und die Skandale um den NSU-Komplex haben gezeigt, dass die Geheimdienste nicht sicher auf dem Boden der Demokratie stehen. Die Tatsache, dass mit Hans-Georg Maaßen ein am Rande des Rechtsextremismus agierender “furchtbarer Jurist” Chef des Inlandsgeheimdienstes werden konnte, deutet auf einen Fehler im System hin. Maaßen, der bereits im Frühstadium seiner Karriere dafür verantwortlich war, dass der deutsche Staatsbürger Murat Kurnaz in Guantanamo interniert blieb und vom Kanzleramt nicht in seinen Rechten als deutscher Staatsbürger unterstützt wurde, hätte dadurch für das Amt disqualifiziert sein müssen. Dass er trotzdem Chef des Verfassungsschutzes werden konnte, zeigt ein strukturelles demokratisches Defizit des Ministeriums und seiner nachgeordneten Behörden.
Datenschutz torpediert und als Täterschutz diffamiert
Das Bundesinnenministerium hat in den letzten Jahrzehnten vor allem im Bereich der Europäischen Datenschutzgesetzgebung zudem die Bürger*innen*rechte geradezu torpediert und Datenschutz immer wieder als Täterschutz diffamiert. So hat das BMI im Bereich der öffentlichen Sicherheitsgesetze systematisch nationale Kompromisse über die europäische Ebene unterlaufen. So wurde z.B. ein mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar in der Gesetzgebung 2007 erzielter Kompromiss über das Personalausweisgesetz, das die Speicherung von Fingerabdrücken nur aufgrund von Freiwilligkeit vorsah, torpediert. Das geschah, indem die Fachabteilung des BMI zunächst die zwingende Abgabe dieser Fingerabdrücke bei der Europäischen Kommission durchsetzte, um dann den Bundestag 2020 mit Verweis auf die europäische Norm damit zu konfrontieren, dass europäisches Recht nun die zwangsweisen Abgabe von Fingerabdrücken im Personalausweisgesetz vorschreibe. Diese Form der bewussten Aushöhlung der Parlamentsrechte auf Umwegen durch die Exekutive muss beendet werden.
Grundrechtsschutz gegenüber US-Konzernen: Fehlanzeige
Im Bereich des privaten Datenschutzes hat das BMI jahrelang völlig versagt. Das BMI hat weder auf nationaler, noch auf europäischer Ebene irgendwelche Anstrengungen unternommen, um das informationelle Selbstbestimmungrecht gegenüber den US-Großkonzernen wie Google, Facebook, Whatsapp, Amazon oder Microsoft zu stärken. Trotz anderslautender Bekundungen ist das BMI gegen Hasssprache, Verleumdung, Fake News sowie Verschwörungstheorien und Bedrohungen im Internet und auf den (a)sozialen Netzwerken nie konsequent vorgegangen. Aus dem BMI sind keine Vorschläge zur wirkungsvollen Verbesserungen des privaten Datenschutzes bekannt. Man ist auch nicht zusammen mit dem BMJ tätig geworden. Stattdessen fördert das BMI mit Millionensummen “Deutschland sicher im Netz”, einen Alibi- Verein, hinter dem unter anderem Google, Facebook und Microsoft stehen und “Greenwashing” ihres Images betreiben. So aktuell durch einen “Digitalführerschein”, den es in ähnlicher Form seit 20 Jahren gibt, mit 3,8 Millionen Euro – in Personalunion von Pia Karger, fördernde Abteilungsleiterin im BMI und zugleich Beiratsvorsitzende von DESIN in einer Person, wie Otto Fricke MdB (FDP) kürzlich aufgedeckt hat – ein förderpolitischer Sumpf, der den Bundesrechnungshof interessieren sollte. Die im BMI organisatorisch angesiedelte, einst von der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ins Leben gerufene Bundesstiftung Datenschutz kann dagegen von einer solchen Projektförderung nur träumen.
Vom Irrweg eines “Grundrechts auf Sicherheit”
Die Janusköpfigkeit des Apparats zeigt sich darin, dass die Gesetzesvorschläge, die regelmäßig in diesem Haus erarbeitet werden, trotz seit Jahren sinkender Kriminalstatistik an der Ideologie eines Präventions- und Sicherheitsstaates festhalten – sowohl Otto Schily als auch Horst Seehofer verstiegen sich in ihrer Amtszeit zur unhaltbaren Behauptung, es gäbe ein “Grundrecht auf Sicherheit”. Damit weckten sie Erwartungen, die kein freiheitliches Gemeinwesen erfüllen kann. Es kann in einem freiheitlichen Rechtsstaat keine absolute Sicherheit geben. Wer diesen falschen Eindruck erweckt, provoziert Enttäuschungen und spielt Populisten und politischen Extremisten in die Hände. Nach 39 Jahren ohne liberalen Innenminister, und 26 Jahre nach dem Ausscheiden des letzten liberalen, sozialdemokratischen Landesinnenministers Herbert Schnoor (NRW), darf die Innenpolitik in Bund und Ländern nicht länger allein CDU/CSU und SPD überlassen bleiben. Dies ist eine klare Herausforderung an Grüne und FDP.
Den liberalen Neuanfang der Innenpolitik organisieren
Staatsgläubige Innenpolitik hat nicht nur Einschränkungen der Freiheitsrechte mit sich gebracht, sondern mit Begriffen wie “Null Toleranz”, Strafverschärfungen und Abschreckungspolitik den Blick auf die Ursachen und den Nährboden für Kriminalität, Extremismus und Terrorismus verstellt. Eine Politik der Feindbilderklärung und Ausgrenzung im Hinblick auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen haben zu einem Sicherheitsstaat geführt, der den eigenen Ansprüchen gar nicht gerecht werden kann. “Wer die Freiheit opfert, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren” sagte Benjamin Franklin schon 1776. Das gilt in gleichem Maß für die seit Jahren allein auf Abschreckung und Abschiebung ausgerichtete Migrations- und Flüchtlingspolitik, die den Realitäten der aus vielen Gründen resultierenden Migration in Europa und an den Außengrenzen nicht mehr gerecht wird. Diese Entwicklung müssen Grüne und FDP beenden. Es geht nicht nur um eine Energie- und Verkehrswende, um das 1,5 Grad Ziel der Erderwärmung noch zu erreichen. Es geht auch darum, dies in einer freiheitlichen Gesellschaft und unter Wahrung von Grundrechten zu gestalten. Das wäre ein weit über eine Legislaturperiode hinausweisendes gesellschaftspolitisches Reformprojekt, dessen gemeinsame Basis FDP und Grüne teilen. Es gilt in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD, dies auch personell umzusetzen. Der oder die nächste Innenminister*in muss grün oder liberal werden.
Im Sondierungspapier hat die F.D.P. immer dort, wo’s konkret wird, sich durchgesetzt: Keine Steuererhöhungen, kein Tempo 130, keine Bürgerversicherung usw. Der vereinbarte Rest ist leider weitgehend Prosa…
Das BMI wird sich die SPD kaum entgehen lassen – so setzt sich die traditionelle und machtpolitisch bewährte Erweiterung des politischen Spektrums im Bereich öffentlicher Sicherheit fort (BMJ: Grüne oder FDP.
Mal sehen was nun Konkretes für Klimaschutz und Soziales in den Koalitionsverhandlungen übrig bleibt.