Bürokratie ist unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Verwaltung
Vermutlich gibt es in Deutschland kaum noch Bürokratie. Eher ein Bürokratiedefizit. Wenn man sich all die Aussagen der letzten Jahrzehnte vor Augen führt, in denen ein Bürokratieabbau angekündigt und versprochen wurde, dann kann nicht mehr viel übrig geblieben sein. Jedes Wahlprogramm, jeder Koalitionsvertrag, nahezu jedes Reformgesetz und viele internationale Vereinbarungen enthalten eine entsprechende Verlautbarung. Solche Versprechen lassen sich auch leicht machen. Kaum einer ist hinterher willens oder in der Lage, zu ermitteln und zu beurteilen, ob wirklich Bürokratie abgebaut wurde. Oder ob nicht sogar neue Regelungen eingeführt wurden, die ein Mehr an Bürokratie bedeuten.
Für einen Unbedarften dürfte in der Tat schwierig sein, solche Bewertungen und Feststellungen zu treffen. Wie will und soll man denn den Grad der Bürokratisierung messen? Welche Maßstäbe kann man anlegen? Die Vergangenheit, Umfragen, Nachbarstaaten oder theoretische Modelle? Woran kann man einen Bürokratieabbau erkennen? Man braucht dazu passende Indikatoren. Am besten nicht nur für den Bürokratieabbau, sondern auch für den Bürokratiezuwachs.
Aber aufgepasst: Dazu muss man nicht bei Null anfangen. Der Bürokratie und dem Bürokratieabbau wird in Deutschland große Aufmerksamkeit geschenkt. So gibt es einen Nationalen Normenkontrollrat, einen Leitfaden zur Ermittlung und Darstellung des Erfüllungsaufwands und einen Bürokratiekostenindex. In Gesetzentwürfen wird angegeben, welchen Vollzugs- und Erfüllungsaufwand sie bewirken. Da muss es also schlaue Menschen geben, die dies berechnen können.
Der Nationale Normenkontrollrat ist ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung. Er prüft seit 2006 die transparente und nachvollziehbare Darstellung der Bürokratiekosten und seit 2011 die gesamten Folgekosten (Erfüllungsaufwand) in allen Gesetzes- und Verordnungsentwürfen der Bundesregierung.
Der Erfüllungsaufwand umfasst die gesamten Kosten sowie den gesamten messbaren Zeitaufwand, die durch eine Rechtsvorschrift des Bundes entstehen. Betroffene Gruppen sind Bürger, Wirtschaft und öffentliche Verwaltung. Teil des Erfüllungsaufwandes sind die entstehenden Bürokratiekosten und die Kosten aus Informationspflichten. Berechnet werden sowohl die Aufbaukosten (z. B. neue Gesetze und Verordnungen) als auch die Abbaukosten (Abschaffung von Gesetzen und Verordnungen). In einem „Leitfaden zur Ermittlung und Darstellung des Erfüllungsaufwands“ wird genau vorgegeben, wie dieser zu berechnen ist.
Der Bürokratiekostenindex zeigt an, wie sich die Bürokratiekosten der Wirtschaft im Laufe der Zeit verändern. Seit 2012 gibt er an, wie sich die Kosten der Informationspflichten entwickeln. Datengrundlage ist die vom Statistischen Bundesamt geführte Datei über Bürokratiekosten. Laut Index kann von einer zunehmenden Bürokratisierung nicht gesprochen werden. Seit 2015 liegt er etwa bei 99, also unter dem Ausgangswert von 100 im Jahre 2012, und anno 2021 sogar bei 98.
Offenbar ist Bürokratie jedoch etwas Negatives, dem man mit allen möglichen Mitteln entgegentreten muss. Schlagzeilen unterstreichen dies: „Bürokratie lähmt ganz Deutschland“ (Die Welt 2004), „Die wildesten Auswüchse der Bürokratie“ (Focus 2015) oder „Deutschland erstickt an seiner Bürokratie“ (Neue Zürcher Zeitung 2021). Auch die Parteien haben sich auf die Bürokratie eingeschossen: „Entbürokratisierung hat konsequent höchste Priorität“ (FDP 2013), „Unternehmen sollen in Millionenhöhe von Bürokratiekosten entlastet werden“ (CDU 2013), CDU will Wirtschaft mit einem „Entfesselungspaket“ von Steuer und Bürokratie entlasten (2021), SPD will Verwaltungswege kürzen und Bürokratie abbauen (2013), „Deutsche Bürokratie nimmt groteske Ausmaße an“ (AfD 2021). Die Grüne Fraktion forderte 2015, die Bundesregierung solle sich verbindliche und überprüfbare Bürokratieabbauziele setzen.
Bürokratieabbau scheint also etwas Positives zu sein, mit dem man punkten kann. Bei Unglücken und Katastrophen, egal ob Brand, Flut, Sturm oder Erdbeben, hört man stets das Versprechen, dass die Hilfe rasch und unbürokratisch erfolgt (anschließend werden dann die Vergabekriterien festgelegt und seitenlange Antragsformulare erarbeitet). Ähnliche Ziele oder Ansagen finden sich auch in manchen internationalen Vereinbarungen. Für das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP wurde u.a. damit geworben, dass es „den Bürgerinnen und Bürgern sowie großen und kleinen Unternehmen Vorteile bringt, und zwar durch Bürokratieabbau beim Export und neue Vorschriften, die Einfuhren, Ausfuhren und Auslandsinvestitionen vereinfachen.“
Im Oktober 2019 wurde im Bundestag das Dritte Bürokratieentlastungsgesetz verabschiedet. Es veranlasste 22 Änderungen bestehender Gesetze. Als „Erfüllungsaufwand“ wird angegeben, dass die Wirtschaft um 78,2 Mio. € und um 20,5 Mio. Stunden jährlich entlastet wird. Gleichzeitig wird angegeben, dass 146 Mio. €/a Mehrkosten bei der Verwaltung entstehen (die Arbeitsstunden werden nicht beziffert). Da staunt man. Offenbar ist das kein Bürokratieabbaugesetz, sondern ein Bürokratieverschiebungsgesetz. Doch es soll so weitergehen. Die Koalition hat im August 2020 eine Arbeitsgruppe benannt, die Regelungsinhalte für ein viertes Bürokratieentlastungsgesetz identifizieren soll.
Besonders die Europäische Union steht im Fokus der Bürokratiegegner. Ihr wird immer wieder der Vorwurf der Überbürokratisierung gemacht, und sie versucht, dem entgegenzuwirken. So gönnt sie sich einen eigenen „Chefberater für Bürokratieabbau“, den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, und legt jährlich einen Bericht über ihre Bemühungen zum Bürokratieabbau vor. Da heißt es z.B.: „2019 wurden insgesamt 31 Initiativen zur Verminderung des Bürokratieaufwands beschlossen und 14 Evaluierungen und Fitness-Checks bestehender Rechtsvorschriften abgeschlossen.“
Die Bundesregierung lobte sich 2011, dass „unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 das Aktionsprogramm zum Abbau von Verwaltungslasten initiiert wurde: Bis Ende 2012 sollen 25 Prozent der bestehenden Bürokratie-Lasten aus EU-Recht abgebaut sein.“ Dieses Abbauziel soll als Nettoziel ausgestaltet werden. Belastungen aus neuen EU-Regelungen wären dann durch einen entsprechenden Abbau an anderer Stelle auszugleichen (siehe unten). Zudem plädiert die Bundesregierung „für die Stärkung der Folgenabschätzungen auf EU-Ebene, insbesondere durch Einführung einer unabhängigen Prüfung der Bürokratie-Kosten nach Vorbild des Nationalen Normenkontrollrates.“
Unter dem Stichwort „Bürokratiebremse“ wendet Deutschland seit 2015 die sogenannte „One-In-One-Out-Regel“ (OIOO) an. Ziel ist es, den Anstieg der Belastungen für die Wirtschaft dauerhaft zu begrenzen. Bei neuen Gesetzen muss der zusätzliche Erfüllungsaufwand in gleicher Höhe durch Entlastungen an anderer Stelle kompensiert werden. Diese Regel gilt nur für die Wirtschaft, nicht für Bürger/innen, Verwaltungen u.a. sowie nicht für die Umsetzung von EU-Recht, für die Gefahrenabwehr, für höchstrichterliche Urteile und für internationale Verträge. Auch die EU will eine solche Regel einführen.
Die Schwerpunktsetzung der OIOO auf monetäre Belastungen der Wirtschaft wird vor allem von Umweltverbänden und Gewerkschaften kritisiert. Sie befürchten durch die dadurch bedingten Rechtsvereinfachungen eine Absenkung ökologischer und sozialer Schutzstandards. Der Deutsche Naturschutzring sieht insbesondere die Fähigkeit der EU bedroht, im Umwelt- und Klimaschutz sowie im Sozial- und Arbeitsrecht neue ambitionierte Gesetze zu realisieren. Das Umweltbundesamt fordert die Abschaffung von OIOO, weil es befürchtet, dass nicht nur ökologisch nützliche Regelungen unterbleiben, sondern sogar bestehende abgebaut werden.
Es ist nicht auszuschließen, dass Bürokratieabbau und vor allem OIOO als Deckmantel einer Deregulierungspolitik missbraucht werden. Eigentlich soll Deregulierung nur dazu dienen, ineffiziente und überflüssige Normen, Vorschriften und Beschränkungen abzubauen, um Unternehmen größere Entscheidungsräume zu bieten. Regelmäßig tritt die Wirtschaft für mehr Deregulierung ein als Gesellschaft und Politik es für verantwortbar halten. Da überrascht es nicht, dass sie in OIOO ein geeignetes Instrument zur Wahrnehmung ihrer Interessen sieht. Wenn die Regierung gezwungen ist, aufgrund des mit einem neuen Gesetz verbundenen Bürokratiezuwachses an anderer Stelle Entlastungen vorzunehmen, so öffnet sich ein Einfallstor für Lobbyisten und deren Deregulierungsideen.
Vieles ist also nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt worden. Dennoch hört das Gejammer über allzu viel Bürokratie nicht auf. Nachvollziehbar ist das nicht. Bürokratie ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Verwaltung. Sie kennzeichnet eine fortschrittliche Organisationsform, nämlich die Wahrnehmung von Verwaltungstätigkeiten im Rahmen festgelegter Kompetenzen, mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung sowie einer ausgeprägten Formalisierung und Regelgebundenheit der Entscheidungsprozesse. Wenn diese gut durchdacht und organisiert sind, liefern sie eine hilfreiche Basis für neue Vorhaben oder Strategien. Deshalb gibt es bürokratische Strukturen und Verfahren nicht nur in der Verwaltung, sondern z.B. auch in Unternehmen, Kirchen und Organisationen. Erst die Übersteigerung der Bürokratie (Bürokratismus), also ein Handeln, das die Vorschrift über den Menschen bzw. das Unternehmen stellt und ihn/es weitgehend als Objekt behandelt, wird zum Übel.
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