Die Union liegt am Boden. Sie verlor bei der Bundestagswahl ihren Vorrang. Sie ist zerstritten. Beide Parteichefs sind diskreditiert. Die CSU ist inhaltlich verdorrt. Die CDU leidet unter ihrer langen Führungskrise. Der Partei fehlt die Kraft zu kämpfen. Dennoch leistet sie sich einen Richtungskampf. Der rechte Flügel will die CDU übernehmen. Ihr größter Landesverband NRW steckt in der Bredouille. Er muss ein halbes Jahr vor der NRW-Wahl im Mai seine Führungskraft Laschet gegen Wüst austauschen.

Zwei Nackenschläge

Spätestens seit der Bundestagswahl sollte die Union wissen: Die Wähler verstehen keinen Spaß, und sie verzeihen keinen Streit. Sie bestraften die beiden Schwesterparteien bei der Wahl mit schweren Verlusten für die Unverfrorenheit, sich tief zerstritten um Mandate und das Kanzleramt zu bewerben.

Den zweiten Nackenschlag verpasste der Union ein Intrigant aus der eigenen Führungsmannschaft. Er fütterte die Bild-Zeitung mit vertraulichen Informationen aus Gesprächen mit den Grünen und der FDP über eine Jamaikakoalition. Sein Vertrauensbruch schreckte FDP und Grüne ab, die Gespräche fortzuführen.

Der Intrigant agierte anonym. Viele glauben zu wissen, um wen es sich handelt. Er führt sich als Autokrat der Union auf. Er pfeift auf Parteitage, Mitgliederbefragungen und Vorstandsbeschlüsse. Er geht nach eigenem Ratschluss vor. Er setzte über die Köpfe der rund 560.000 Unionsmitglieder hinweg das durch, was ihm in den Kram passte: Er schickte die Union in die Opposition.
Sich verschließen statt sich öffnen
Die Union rühmt sich gerne, sie habe schon oft die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt. Nun muss sie hinnehmen, dass ein Intrigant in ihren Reihen sie von der Modernisierung Deutschlands weitgehend ausschloss.

Sie kann nun nur noch die dürftigen Reste ihrer Kraft auf die narzisstische Beschäftigung mit sich selbst konzentrieren. Ob und wie sie sich erneuert, interessiert viele CDU-Funktionäre, aber nur wenige Wähler. Dass sich die CDU unablässig mit sich selbst beschäftigt, werden viele Wähler für ein weiteres Zeichen des Verfalls halten.

Die Partei ist sich im Laufe der Zeit so sehr zum Problem geworden, dass sie sich schon lange vor der Aufgabe drückt, Deutschland zu modernisieren. Im Wahlkampf unterließ sie es, die Perspektiven der Landes zu thematisieren. Stattdessen belästigte sie die Wähler mit ihren internen Konflikten und den schäbigen Mitteln, mit denen sie ausgetragen wurden.

Einmauern statt modernisieren

Seit Jahren streitet sich die CDU um ihren Vorsitz, im Wahlkampf stritt sie dann auch noch um die Kanzlerkandidatur. Die Lust an der Selbstverstümmelung verdrängte den Willen zu regieren. Besser kann man sich nicht für einen Platz in der Opposition bewerben.

Die ersten Ansätze zur Erneuerung der Partei weisen darauf hin, dass sich die CDU nicht modernisieren, sondern einmauern will. Statt sich den Wählern zu öffnen und an ihnen die eigene Sanierung auszurichten, verschließt sie sich vor den Wählern und zieht sich auf sich selbst zurück.

Die Mitglieder, nicht die Funktionäre, sollen nun den nächsten Vorsitzenden auswählen. Als wenn sie wüssten, wer die Partei voranbringen kann. Kürzlich noch hielten sie Söder für kanzlerfähig, obwohl selbst die CSU-Jugend längst weiß und erklärt, dass er schon mit dem CSU-Vorsitz überfordert ist.
Neuen Geist einhauchen
Ausgerechnet jenes Personal, das die CDU ins Elend führte, drängt es nun, die Partei zu erneuern. Merz, Röttgen, Linnemann, Spahn und Brinkhaus lassen sich für den Vorsitz handeln. Sie profilierten sich als Merkels Kritiker. Sie sind eng mit den Defiziten der CDU in der Ära Merkel verbunden.

Diese Bürde macht sie für die Aufgabe ungeeignet, die paralysierte Partei auf Trab und auf die Höhe der Zeit zu bringen. Jeder der fünf Politiker hat sich daran beteiligt, die Kultur der CDU zu beschädigen. Sie sind Teil des Problems. Deshalb taugen sie nicht dazu, es zu lösen.

Jeder von ihnen unterließ es, den unbeholfenen Parteichef Laschet vor den niederträchtigen Angriffen des CSU-Vorsitzenden zu schützen und Söder wirkungsvoll in die Schranken zu weisen. Keiner der fünf kann der CDU glaubwürdig neuen Geist und neues Leben einhauchen.

Gegen den Strich

Dennoch werden die Mitglieder wohl einen von ihnen zum Zuge kommen lassen. Wen würde es wundern? Die Einsicht, dass die Kultur der Partei gelitten hat, ist unter CDU-Mitgliedern nicht allzu weit verbreitet. Viele hatten ihren Spaß an Laschets Demontage und machten fleißig mit, ihn und die eigene Partei zu beschädigen.

Dieses Verhalten stieß viele Wähler ab. Sie nahmen Laschets Tölpelei, Söders Ausfälle und deren Widerhall in der CDU als Ausdünstungen des Verfalls wahr. Diese strenge Duft haftet – dem einen mehr, dem anderen weniger – allen fünf Aspiranten auf den Vorsitz an.

Sie gehören zur konservativen Minderheit in der CDU, die Laschet wie Merkel für zu liberal hält. Diese Minderheit ist laut und einflussreich. Sie leidet jedoch seit jeher daran, dass ihren Exponenten das Zeug fehlt, die gesamte Spannbreite der CDU zu repräsentieren.

Die Risse verbreitert

Jeder der fünf Männer ließ Courage und Solidarität vermissen. Jeder von ihnen trägt noch weitere Belastungen mit sich, die dem Zusammenhalt der CDU und ihrer Suche nach neuen Wählern entgegenstehen.

Merz kandidierte in kurzer Folge zweimal erfolglos für den Vorsitz. Hätte er aus seinen Niederlagen gelernt, ließe er sich nicht schon wieder für diesen Posten handeln. Merz wird mit seinen Defiziten nicht fertig. Seine Kandidaturen haben die Risse in der CDU verbreitert.

Röttgen hat vor Jahren als Vorsitzender der NRW-CDU diesen Landesverband heruntergewirtschaftet. Er demonstrierte in NRW, womit die Bundes-CDU rechnen muss, wenn sie ihm auf den Leim geht. Dass er noch Unterstützer findet, zeigt, wie desolat die Partei ist.

König der Sprechblasen

Gesundheitsminister Spahn avancierte zum König der Sprechblasen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er keine Presseerklärung absetzt und nicht in den Nachrichten erwähnt wird. Doch wenn es gilt, etwas zu bewegen, macht er sich rar. Der verpatzte Impfstart, der ältere Stammwähler bewog, der CDU den Rücken zu kehren, geht auch auf seinen Deckel.

Linnemann ist als Organisator der CDU-Mittelstandsvereinigung ausgewiesen. Sich aus dieser Rolle zu lösen, dürfte ihm schwerfallen. Er lebt von seiner Funktion in der CDU. Er muss über sie hinaus erst selbst an Gewicht gewinnen, ehe er der Partei Gewicht verschaffen kann.

Brinkhaus hat nur eine kleine Hausmacht. Seine Wirkung über die Bundestagsfraktion hinaus ist unerprobt. Ob er Wähler für die CDU zurückgewinnen und ihr neue Wählergruppen erschließen könnte, ist zu bezweifeln.

Bindekraft verloren

Die Erfahrung lehrt: Wer die Führung der CDU übernimmt, kann nicht damit rechnen, dass sich Funktionäre und Mitglieder einträchtig hinter ihm sammeln. Fällt die Wahl der Mitglieder auf einen Kandidaten, der nicht der Intrigant ist, wird der neue Vorsitzende nur ein Mann des Übergangs sein.

Er kann womöglich 2025 als Kanzlerkandidat antreten. Doch seine Aussicht zu gewinnen ist gering, wenn die Ampelkoalition halbwegs umsichtig regiert. Die Wähler sind der CDU ein Stück weit überdrüssig. Der Intrigant in der CDU-Spitze wird das Seine tun, um zu verhindern, dass ihm jemand in die Quere kommt.

Der nächste Vorsitzende hat nur einen Schuss. Verliert er die Wahl 2025, wird er als Verlierer seinen Platz räumen müssen. Dann könnte die Stunde des Intriganten für die Wahl 2029 schlagen, mag er hoffen. Bis es so weit kommt, wird er den nächsten Vorsitzenden als Platzhalter ertragen.
Wählergruppen abschrecken
Besonders stark drängt es Merz zum CDU-Vorsitz. Er setzte sich vehement für die Mitgliederbefragung ein, weil er sich von ihr Erfolg verspricht. Mit ihr will er den Widerstand der Funktionäre unterlaufen, die ihm zweimal die Mehrheit für den CDU-Vorsitz versagten.

Bisher wünschte die Mehrheit der Funktionäre keinen Rechtsruck der Partei, wie ihn Merz verheißt. Er weckt die Sorge, als Vorsitzender und Kanzlerkandidat wichtige Wählergruppen abzuschrecken, vor allem Frauen.

Diese Befürchtung könnte nach der jüngsten Wahlniederlage der Überlegung weichen, die CDU würde mit einem konservativen Kurs stärker reüssieren und dann auch für jene Wähler attraktiv werden, die bisher die AfD wählten.

Der NRW-CDU geschadet

Die Aspiranten auf den CDU-Vorsitz profilierten sich, indem sie in der Partei polarisierten. Keiner zeigt jene Fähigkeiten, die vermuten ließen, er könnte die Partei zusammenzuhalten. Alle kommen vom rechten Parteiflügel, dessen Bindekraft selbst in den ländlichen Hochburgen der Union nachgelassen hat.

Alle fünf Politiker kommen aus der NRW-CDU. In diesem größten CDU-Landesverband spreizen sich die Flügel besonders breit. Keiner der Aspiranten brachte es fertig, den Landesverband so hinter sich zu versammeln, wie es Laschet und nun seinem Nachfolger Wüst gelang.

Keiner der fünf Männer fand den Mut, den schwächelnden Söder zu stoppen. Unter seiner Beteiligung verlor die CSU die Hälfte ihres Gewichts. Dennoch gestatteten sie ihm, sich als Kraftprotz aufzuführen und die NRW-CDU zu schwächen. Sie hat über den Konflikt zwischen Söder und Laschet und die Untätigkeit der fünf Aspiranten viel Ansehen verloren.
Ein Drittel schwächer
Die NRW-CDU kämpft seit Langem darum, die SPD-Dominanz zu brechen. 2005 gelang es ihr nur für fünf Jahre, 2017 dann aber erneut. Nun mindern die Aspiranten auf den CDU-Vorsitz die Aussicht, den Führungsanspruch in NRW 2022 zu verteidigen.

Wüst muss mit einem Landesverband starten, der in Umfragen ein Drittel schwächer ist als seine Konkurrentin, die NRW-SPD. Ob sich Wüst zwischen den fünf Aspiranten Spielraum verschaffen kann, um sich und sein Tun zur Geltung zu bringen, ist noch nicht ausgemacht.

Er hat nur wenig Zeit, die Wähler von sich und der NRW-CDU zu überzeugen. Der Machtkampf um den Vorsitz der Bundespartei und das Bestreben der Bundes-SPD, mit ihrem Kanzler Scholz und der Ampel-Koalition für einen guten Start der neuen Regierung zu sorgen, werden Wüst das Geschäft erschweren.

Modernisierung gestalten

Gut möglich, dass er der NRW-Regierungschef mit der kürzesten Amtszeit wird. Scheitert er bei der Wahl im Mai 2022, wird die CDU in NRW und im Bund so schnell nicht wieder in die Nähe der Macht geraten.

Ob der CDU diese Gefahr bewusst ist? Allzu weit ist es mit ihrer Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen, nicht her. Die Partei kann nicht darlegen, wofür sie steht. Sie schneidet ihre Inhalte auf den Vorsitzenden zu, statt ihn nach Maßgabe ihrer Inhalte auszuwählen.

Gelingt es Wüst, sich über die NRW-Wahl hinaus zu behaupten, kann er die Modernisierung des Landes, die unter der rot-grünen Regierung Kraft zwischen 2010 und 2017 sträflich vernachlässigt wurde, weiter vorantreiben und gestalten.

Integrationskraft entfalten

Er kann dann vormachen, wie sich dieser Prozess in Kooperation und im Wettstreit mit der Ampelkoalition in Berlin ohne soziale Schäden steuern lässt. Dieses Vorhaben wird aber nur gelingen, wenn Wüst genügend Integrationskraft entfaltet.

Die Schwäche der Bundes-CDU rührt auch von der Schwäche der NRW-CDU her. Es gibt im Landesverband kein Kraftzentrum, das die Interessen der Mehrheit hinreichend geltend macht und Egoisten in den eigenen Reihen Grenzen setzt. Dieses Defizit zu beheben ist Wüsts Chance.

Er kommt wie die Aspiranten auf den CDU-Vorsitz vom Wirtschaftsflügel. Er wird sich nun um alle Teile der Partei und der Gesellschaft kümmern müssen. Einen Rechtsruck der CDU kann ihm und der NRW-CDU schaden und die Partei noch stärker isolieren.

Hoffnungsträger werden

Von Merkel kann Wüst lernen, dass man Sympathie gewinnen und bewahren kann, wenn man gelassen agiert und darauf verzichtet, bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine große Welle zu machen und aus jeder trüben Suppe Schaum zu schlagen.

Von Laschet kann Wüst lernen, dass Politiker scheitern, wenn sie auf sich allein gestellt sind. Von Söder kann er lernen, dass Inszenierungen schweren Schaden anrichten, wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen und sich als Inszenierungen entlarven.

Wüst kann wie eine Eintagsfliege enden oder zum Hoffnungsträger werden. Verliert er sich in Parteihändeln, wird er die NRW-Wahl verlieren. Gewinnen kann er nur, wenn ihm die Bürger abnehmen, dass er zu ihrem Wohl und dem des Landes sachgerecht und lösungsorientiert arbeitet. Sollte er nicht wissen, mit welchen Vorhaben sich dieser Zweck bis zur Wahl erreichen lässt, wäre er fehl am Platz.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.