Passgenau zum 70. Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention werden in Polen und Kroatien Asylsuchende mit Gewalt zurück über die Grenze getrieben. Die Zahl der Menschen, die aus Belarus nach Polen fliehen (wollen), steigt weiterhin, und die polnische Regierung ergreift immer härtere Gegenmaßnahmen. Nachdem die Grenze zunächst mit Stacheldraht bewehrt wurde, soll nunmehr eine Mauer gebaut werden. Polen fordert dazu finanzielle Zuschüsse der EU. Frei nach dem Motto: Europäisches Recht: bitte nein. Europäisches Geld: bitte ja. Elf weitere EU-Staaten, aber auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, teilen diese Forderung.
Die polnische Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt. Nun dürfen sich nur noch Anwohner/innen näher als drei Kilometer der Grenze nähern. Alle anderen dürfen die “Sperrzone” nicht betreten, sie müssen ansonsten mit Verhaftungen und Anzeigen rechnen. Damit soll jede Unterstützung für die Flüchtlinge, die im Niemandsland zwischen Belarus und Polen lagern, unterbunden werden. Selbst Ärzte/innen, den Medien und dem UN-Flüchtlingswerk ist der Zutritt verboten. Eingriffe und Einschüchterungsversuche durch den Grenzschutz und die Polizei sind alltäglich.
Zwangsläufig wird die Lage der Flüchtlinge, die sich bei Eiseskälte in dem dünn besiedelten Sumpfgebiet zwischen Belarus und Polen aufhalten, immer unzumutbarer. Trinkwasser und Essen wird nicht geliefert, es hat bereits einige Todesfälle gegeben. Flüchtlinge, die nach Polen gelangt sind, werden zum Teil wieder nach Belarus zurückgetrieben. Die Verantwortung für den Ansturm auf die polnische, litauische und lettische Grenze liegt zwar eindeutig bei Belarus, doch kann und darf dies keine Rechtfertigung für das unmenschliche und völkerrechtswidrige Vorgehen der polnischen Regierung sein.
Selbstverständlich weiß die polnische Regierung, dass sie mit ihrem Vorgehen an der Grenze gegen internationales Recht verstößt. Doch sie hat dazu eine eigenwillige Meinung: Was kümmert uns das Völkerrecht, die Europäische Menschenrechtskonvention, die UN-Menschenrechtscharta und die Genfer Flüchtlingskonvention? Ach so, die haben wir unterzeichnet. Mag ja sein, aber nur weil wir gedacht haben, sie nie anwenden zu müssen. Die gilt doch eigentlich nur für die Dritte Welt. Bei uns gilt polnisches Recht. Und das richtet sich nach den polnischen Interessen und der polnischen Regierung.
Und kommt uns besser nicht mit Vorwürfen oder Sanktionen. Immerhin hat die Flüchtlingskonvention eine Kündigungsklausel. Eine Austrittserklärung wird nach einem Jahr wirksam. Solange halten wir noch durch. Übrigens hat die AfD im Oktober 2018 im Landtag von Sachsen-Anhalt einen Antrag auf Kündigung eingebracht. Der wurde zwar abgelehnt, doch wir könnten den Text ja übernehmen.
Wie, die Genfer Konvention ist bereits 70 Jahre alt? Wahrscheinlich ist sie deshalb veraltet. Was steht da eigentlich drin? Wir sollen Menschen Schutz und Aufnahme garantieren, die in ihrem eigenen Land verfolgt werden. Und wir wären verpflichtet, niemanden dorthin zurückzuschicken, wo ihm Verfolgung droht. Da steht aber auch drin, dass das nicht für Menschen gilt, die woanders ein besseres Leben suchen. Na also! Ob jemand ernsthaft verfolgt wird oder ob er aus wirtschaftlichen Gründen einreist, das können wir als Regierung doch wohl besser beurteilen und entscheiden als ein einfacher Flüchtling.
Was kann uns überhaupt passieren, wenn wir gegen die Flüchtlingskonvention verstoßen? Gibt es da etwa Geldstrafen wie bei der EU? Oder Entzug des Stimmrechts? Das würde uns nicht jucken. In dieser Konvention wollen wir gar kein Stimmrecht haben. Wie, Polen war 1951 Gründungsmitglied der Genfer Konvention ? Na und – das war doch noch zu kommunistischen Zeiten. Heute würden wir das anders entscheiden.
Wir wissen übrigens, dass sich auch andere Staaten nicht an die Genfer Konvention halten. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge hat noch im Juli eine Reihe von Staaten aufgerufen, die Prinzipien der Flüchtlingskonvention zu verteidigen. Er zeigte sich alarmiert, dass immer mehr Länder – darunter auch europäische – versuchten, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.
Soweit die fiktive, aber realitätsnahe Schilderung der Haltung der polnischen Regierung. In der Tat: Die Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention nehmen zu. Der UNHCR-Kommissar erwähnte ausdrücklich das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten Richtung Türkei und Nordafrika, ohne den Anspruch auf Asyl zu prüfen. Und er warnte vor Plänen wie in Dänemark und Großbritannien, Asylsuchende in Drittländer zu schaffen, um dort ihre Anträge zu prüfen.
Nach Ansicht des UNHCR ist die Konvention jedoch immer noch die beste Basis für den Flüchtlingsschutz, nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl an Mitgliedstaaten. Diese verpflichteten sich laut Statut, Flüchtlinge nicht an den Landesgrenzen zurückzuweisen. Die Konvention legt fest, wer ein Flüchtling ist und welchen rechtlichen Schutz, welche Hilfe und welche sozialen Rechte sie oder er von den Unterzeichnerstaaten erhalten soll. Aber sie definiert auch die Pflichten, die ein Flüchtling gegenüber dem Gastland erfüllen muss. Und sie schließt bestimmte Gruppen – z.B. Kriegsverbrecher/innen – vom Flüchtlingsstatus aus.
Im Gegensatz zu anderen Menschenrechtsabkommen gibt es in der Genfer Konvention allerdings nicht die Möglichkeit, Verstöße zu ahnden. Diese fehlende Kontroll- und Sanktionsmöglichkeit führt dazu, dass immer mehr Vertragsstaaten gegen die Konvention verstoßen, ohne dass dies Konsequenzen nach sich zieht. Dies gilt bedauerlicherweise auch für die EU und ihre Mitgliedstaaten, wie die Zurückweisungen oder Zurückführungen an den Außengrenzen der EU belegen, ohne dass das Anliegen der Asylsuchenden in einem fairen Verfahren überprüft wurde. Übrigens wird auch der Vorschlag der EU, an ihren Außengrenzen ein Vorverfahren für bestimmte Flüchtlingsgruppen, ein sogenanntes “Screening”, einzuführen und sie im Grenzbereich festzusetzen, bis über den Zugang zum Asylverfahren entschieden ist, von Völkerrechtlern als Verstoß gegen die Flüchtlingskonvention gewertet.
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist als Konsequenz aus den Menschenrechtsverbrechen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstanden. Damals hatten viele Länder Flüchtlinge an den Grenzen zurückgewiesen, obwohl diese Zuflucht vor Verfolgung benötigt hätten. Die Konvention sollte den Schutz, die Rechte und die Würde eines jeden Menschen verbindlich machen. Es ist bestürzend, welche Praktiken heute wieder Platz greifen können. Und es ist beschämend, dass gerade die reichen europäischen Staaten mit einfallsreichen bürokratischen Hemmnissen, mit restriktiven Verfahren und teilweise sogar mit Gewalt versuchen, die Grenzen Europas für Flüchtlingen unpassierbar zu machen.
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