Im März dieses Jahres wird die EU (als Nachfolgerin der EWG) 65 Jahre alt. Ich gehe davon aus, dass schon heute die Festlichkeiten geplant und die Festreden entworfen wer­den. Der Jubel über das Erfolgsmodell für Frieden, Wohlstand und Demokratie wird der bestimmende Inhalt sein. Immerhin hat die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Al­lerdings lohnt sich gewiss auch ein kritischer Rückblick, nicht um aufzurechnen, sondern um aufzuzeigen, dass nicht alles geglückt ist. Folgende Punkte sind mir ein- bzw. aufgefal­len:

Es ist nicht nachvollziehbar, welches EU-Gremium mit welcher Mehrheit über welche The­men entscheidet. Der aktuelle Fall: Die EU-Kommission will Atomkraft und fos­siles Gas als nachhaltige Energien einstufen und somit Investitionen in diesen Feldern er­leichtern. Nur mindestens 20 Mitgliedstaaten mit mindestens 65 % der Gesamtbevölke­rung können die­sen Beschluss kippen. Andererseits kann ein einzelner Staat mit seinem Veto EU-Ent­scheidungen in der Steuerpolitik, der sozialen Sicherheit, der polizeilichen und militäri­schen Zusammenarbeit und der Migrationspolitik verhindern. Wie soll man das je­mandem erklären?

Das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament widerspricht (notgedrungen?) elemen­taren demokratischen Grundsätzen. Zum Beispiel stehen Malta 12 Sitze je 1 Mio. Einwoh­ner/innen zu, Griechenland 2 Sitze und Deutschland 1,2 Sitze. Hier wird deutlich, wie Sachzwänge die Struktur der Institution bestimmen. Würde der Schlüssel von Malta auf die gesamte EU übertragen, so müsste das Europäische Parlament 5.364 Mitglieder ha­ben.

Die EU ist auf Einstimmigkeit fixiert. Besonders deutlich zeigt dies die aktuelle Entwicklung in Ungarn und Polen. Maßnahmen gegen Staaten, die gegen die Werte verstoßen, auf die die EU sich gründet (Art. 2 des EU-Vertrags), sind kaum machbar. Die Möglichkeit des Aus­schlusses eines Mitglieds aus der EU sehen deren Statuten nicht vor. Zwar kann der Mi­nisterrat mit 4/5-Mehrheit feststellen, dass die Gefahr einer schwerwiegenden und an­haltenden Verletzung der Werte der EU vorliegt, doch bedarf die Feststellung eines sol­chen Verstoßes der Einstimmigkeit. Diese ist unwahrscheinlich. Erst dann können jedoch Sank­tionen wie Entzug von Rechten oder Suspendierung ergriffen werden.

Die Entscheidungen der EU-Kommission werden zu wesentlichen Teilen von Wirtschafts­lobbyisten bestimmt. Rund 25.000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro nehmen in Brüssel Einfluss auf die EU-Institutionen. Etwa 70 Prozent von ihnen ar­beiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Sie genießen privilegierte Zugänge zu den Kommissaren. In vielen Fällen fordert die EU-Kommission die Lobbyisten sogar zur Beratung und zur Vorlage von Gesetzesentwürfen auf. So stellen die Banken im offiziellen Beratungsgremium für die Regulierung der Finanzmärkte die überwältigende Mehrheit.

Für die EU gilt der unbedingte Vorrang des freien Wettbewerbs. Echte oder vermeintliche Handelshemmnisse werden bekämpft, oft ohne Rücksicht auf soziale oder ökologische Notwendigkeiten. So hat die EU-Kommission versucht, das Zwangspfand auf Plastikfla­schen und Einwegverpackungen zu verhindern, sie ist gegen das PVC-Verbot bei öffentli­chen Aufträgen vorgegangen, und sie hat Steuererleichterungen für PKW mit Katalysator beanstandet. Offenbar folgt die EU-Kommission einem neoliberalen Leitprinzip. 2019 hat das Europäische Parlament daher eine grundlegende Reform der EU-Wettbewerbspolitik gefordert, u.a. die vorrangige Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien bei wettbe­werbspolitischen Entscheidungen.

Die Subventionspolitik der EU ist schwer zu durchschauen und oftmals unverständlich. So förderte die EU lange Zeit Betriebsverlagerungen von einem EU-Land in ein anderes, obwohl damit kein einziger neuer Arbeitsplatz entstand. Erst seit 2007 gilt, dass keine Strukturförderungsmittel der EU mehr für große Betriebsverlagerungen (ab 50 Mio. Euro) innerhalb der EU bereit gestellt werden sollen. Kaum beherrschbar ist die Korruption. Ob­wohl das EU-Amt für Betrugsbekämpfung im letzten Jahrzehnt die Rückforderung von über 7,5 Mrd. € und gut 3 000 rechtliche, finanzielle, disziplinäre und administrative Sankti­onsmaßnahmen empfahl (nicht: „anordnete“!) hat, sind etliche Milliarden an EU-Förder­mitteln unkontrolliert in Mitgliedstaaten wie Griechenland, Italien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien versickert.

Das im EU-Vertrag verankerte Subsidiaritätsprinzip (Vorrang für die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten) wird immer wieder missachtet. Dies führt nicht nur zu abwegigen Regulierungen oder Harmonisierungen, sondern auch zu rechtsstaatlich be­denklichen Auswüchsen. Die Mitgliedstaaten können zwar Einspruch einlegen und sogar klagen, bleiben jedoch in der Regel erfolglos. So verbietet beispielsweise der Europäische Haftbefehl, dass das angefragte Land die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls prüft, und zwingt es sogar zur Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Angesichts der bedenklichen staatlichen Eingriffe in das Rechtswesen mancher Mitgliedstaaten ist dies nicht hinnehm­bar.

Die EU beteiligt sich am Ausbau des Überwachungsstaates. Beispielsweise hat sie dafür gesorgt, dass den USA eine unvertretbar hohe und kaum überschaubare Zahl von Flug­gastdaten übermittelt wird und dass der maschinenlesbare Ausweis mit biometrischen Da­ten und Fingerabdrücken Pflicht wurde. Dieser Plan war zuvor im Deutschen Bundestag nicht durchsetzbar gewesen. Geradezu skandalös ist die Rechtslage zur Todesstrafe. Zwar wird diese im EU-Grundlagenvertrag von 2007 (Lissabon-Vertrag) grundsätzlich un­tersagt, in einer Fußnote dann jedoch erlaubt, und zwar im Falle von Kriegen, Aufstand oder Aufruhr.

Die EU entwickelt sich zunehmend zu einer militaristischen Gemeinschaft. Der Verfas­sungsentwurf von 2007 (der an ablehnenden Volksentscheiden scheiterte) und der Grund­lagenvertrag (Vertrag von Lissabon, 2009 in Kraft getreten) enthalten ein Rüstungsgebot für alle Mitgliedstaaten mit einer dafür zu schaffenden Agentur, verpflichten die Mitglieds­taaten zur gegenseitigen militärischen Unterstützung und ermächtigen die EU zu weltwei­ten Kampfeinsätzen, sogar zur Durchsetzung so schwammiger Ziele wie die „Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen“. Ein UN-Mandat dazu wird nicht als er­forderlich angesehen.

Die Einführung des Euro in der bestehenden Form war offenbar eine Fehlentscheidung. Seinerzeit haben die Politiker/innen alle wissenschaftlichen Hinweise verworfen, wonach eine Währungsunion ohne vorherige politische und Finanzunion nicht funktionieren könne. Wie soll das denn klappen, wenn die Inflationsrate in Deutschland 1,5 % beträgt und der gleiche Euro in Italien 8 % verliert? All jene, die vor einer übereilten Währungsunion warn­ten, wurden damals als Europagegner abgetan. Heute zwingt uns der Euro zu milliarden­schweren Rettungspaketen, die wenig überzeugend damit begründet werden, dass der Bestand der EU vom Euro abhängig sei und dieser wiederum bei einem Ausscheiden ei­nes Mitgliedstaates aus dem Eurosystem zusammenbrechen würde.

Seit 1992, also seit fast 30 Jahren, bemüht sich die EU vergeblich darum, das Gemeinsa­me Europäische Asylsystem (GEAS) für die Durchführung von Asylverfahren und die Un­terbringung, Versorgung und Verteilung von Asylsuchenden zu verwirklichen. Ziel ist die EU-weite Harmonisierung der Schutz- und Aufnahmenormen, um sicherzustellen, dass Asylsuchenden in der gesamten EU unter gleichen Bedingungen internationaler Schutz gewährt wird. Obwohl die Werte der EU (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleich­heit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte) für alle Menschen gelten, bricht die EU im­mer wieder das Völkerrecht und setzt bei Flüchtlingen auf Abschreckung und Abschie­bung, oft in Folter und Tod. Berichte über bestürzende Katastrophen und unmenschliche Methoden sind nahezu alltäglich.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.