Ulrike Guérot und Adam Tooze

Frau Guérot war vor noch nicht so langer Zeit der heisse Scheiss deutscher TV-Talkshows. Sie ist intelligent, rhetorisch beschlagen, kann sehr schnell sprechen, sieht – aus meiner Perspektive als heterosexueller Mann – gut und telegen aus. Und wirkt absolut unschüchtern. Seit einem Semester lehrt sie hier in Bonn Europapolitik. Was sonst. Und ist offensichtlich in einem Bitterkeitsmodus, in dem sie auf die nachdenkseiten passt.

Guérot

Neben den zahlreichen ernsthaft zu wägenden Argumenten, die sie zur deutschen Coronadebatte anbringt, fällt mir auf, dass sie die in jüngster Vergangenheit absolvierte Fallhöhe offensichtlich nur schwer verkraftet hat: von einem Stargast der Medienanstalten zur Nicht-Mehr-Eingeladenen. Von Karl Lamers und Jacques Delors über die Direktion zahlreicher schwerer Denkpanzer (“Thinktanks”) zur Coronapolitik-Kritikerin. Das ist kein Vergnügen.

Die Deutung ihres persönlichen Erlebens zum “System” (von Politik und Medien) wird von ihr frappant übergewichtet, wenngleich es persönlich verständlich ist. Wobei ich nicht weiss, welche Beiträge sie dazu selbst geleistet hat. Als Glotzer, Hörer und Leser habe ich nichts gegen sie. Ich kann mich gedanklich an ihr reiben. Das gilt nicht für Viele aus ihrem Business. Und ist mit das Beste, was ein Medium bei mir erreichen kann.

Darum lohnt sich die Lektüre ihres nachdenkseiten-Interviews mit Marcus Klöckner.

Tooze

Was Frau Guérot von sich und der deutschen Coronadebatte beschreibt, wiederholt sich gegenwärtig in der Mediendebatte zum Ukrainekrieg. Ein Grund, warum die Zugriffszahlen in diesem Blog exponentiell steigen. Die “autoritäre Schliessung”, wie Frau Guérot es seit der von einer Banken- zur Eurokrise umgedeuteten Zeit 2007/8 wahrnimmt, schafft neue Nischenmärkte. Als radikalbürgerliche Fundamentalistin ruft sie früher “Alarm!”, bevor es zu spät sein wird. Das ist ein nützlicher Job.

In Österreich sind sie nicht ganz so vernagelt in der Russophobie, wie bei uns grossen Brüdern. It’s the economy, stupid! Der Zwergstaat ist weit abhängiger von russischen Rohstoffen, ist für seine minimale Staatsgrösse ein Weltzentrum der Geheimdienste dieses Planeten, sowie der Wäsche osteuropäische Grosskapitals. Politiker*innen, die kein Typus “Gerhard Schröder” sind, sind dort die Ausnahme. So findet im “Standard”, in meiner Wahrnehmung so eine Art Ösi-SZ, Adam Tooze mit seiner konstruktiven Kritik an der Politik der Russland-Sanktionen Platz. Der Mann läuft nicht heiss, hat das Denken nicht zugunsten Freund-und-Feind-Propaganda abgestellt, und sollte ein kleines Einführungsreferat vor dem Bundeskabinett halten.

Aber auf mich hört ja keine*r.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net