Der EU-Italien-Streit 2018 und die Verhandlungen um die Corona-Hilfen 2020 im Vergleich – ein Projekt der Otto Brenner Stiftung

Vorwort

„Die Erpressung: Italien greift an. Europa droht die nächste Schuldenkrise“ – mit diesem Titel versah Der Spiegel eines seiner Cover im Oktober 2018. Im dazugehörigen Artikel ging es um die Pläne der damals neuen italienischen Regierung aus rechtsradikaler Lega und der „Fünf-Sterne-Bewegung“, die Neuverschuldung Italiens auf das Dreifache dessen zu erhöhen, was vorab mit der EU-Kommission vereinbart wurde. Mit einem Bündel aus wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen – unter anderem der Absenkung des Rentenalters sowie der Einführung eines Bürgergelds und einer Niedrigsteuer – wollte die Regierung auf Kosten einer höheren Staatsverschuldung die Armut bekämpfen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Der Tenor des Spiegel war eindeutig: Ein Vertrauensverlust an den Finanzmärkten, ein (weiterer) ökonomischer Niedergang Italiens und die Gefährdung des politischen Projektes Europa – dies drohe „alles nur, weil ein Land wie Italien sich nicht an die Regeln hält“, die doch eingeführt worden seien, damit sich ein europäischer Staat nicht „auf Kosten der anderen haushaltspolitisch gehen lässt“. Kurzum: Der Haushalt mit der geplanten Schuldenaufnahme sei „eine Provokation gegen Brüssel“.

Zwei Jahre später, im April 2020, macht der Spiegel-Leitartikel zu den Verhandlungen über die Corona-Hilfsmaßnahmen auf europäischer Ebene mit ganz anderer Stoßrichtung auf: „Deutschland ist unsolidarisch, kleingeistig und feige“. Es ging um die deutsche Ablehnung der insbesondere von Italien geforderten „Euro-Bonds“, die den europäischen Staaten eine deutlich höhere Schuldenaufnahme ermöglichen sollten, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie abzufedern. Statt den Deutschen „ehrlich zu sagen“, dass es zu Eurobonds und höherer staatlicher Verschuldung (sämtliche europäischen Vorgaben für die Staatsverschuldung waren zu diesem Zeitpunkt bereits aufgehoben) „in einer Krise wie dieser keine Alternative gibt“, empörte sich der Spiegel, werde suggeriert, dass „Italiener mit Geld angeblich noch nie umgehen konnten“.

Der Sinneswandel zwischen beiden Artikeln – heuristisch gesprochen: von der Ablehnung der Idee, mittels schuldenfinanzierter Politik auch gegen die Vorgaben der europäischen Schuldenregeln ökonomische und soziale Probleme zu lösen, hin zu deren umfänglicher Rationalisierung – steht symptomatisch für das, was die Medien- und Kommunikationswissenschaftler*innen Victoria Teschendorf und Kim Otto vom Lehrstuhl für Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg in der vorliegenden Studie aufzeigen: Ökonomische Paradigmen, insbesondere „neoklassische“ und „keynesianische“ Ansätze, beeinflussen, wie wirtschaftspolitische Ereignisse in der Medienberichterstattung gerahmt werden. Mit einer umfassenden quantitativen Inhaltsanalyse der Berichterstattung von FAZ, Handelsblatt, SZ, Die Welt, taz, BILD und Der Spiegel über den „Haushaltsstreit“ zwischen EU-Kommission und italienischer Regierung im Jahr 2018 und über die europäischen Verhandlungen zur Ausgestaltung der Corona-Hilfsmaßnahmen (2020), zeichnet das Forscher*innenteam diesen Einfluss detailliert nach.

Die materialreiche Untersuchung macht dabei einerseits deutlich, dass das mediale Framing der Ereignisse relativ eng der politischen Konjunktur ökonomischer Paradigmen folgte. Wenn relevante Akteure bestimmte Perspektiven in den politischen Diskurs einbrachten, reflektierte die Presseberichterstattung diese Ansichten – war der politische Zeitgeist 2018 noch fest in neoklassischer Hand, kann spätestens für 2020 eine Rückkehr des „Meister Keynes“ (Süddeutsche Zeitung) auf die politökonomische Bühne konstatiert werden. Ihre „Chronist*innenpflicht“ haben die Medien also durchaus erfüllt. Allerdings weist der Umstand, dass 2018 95 Prozent der Artikel die neoklassische Problemdefinition übernahmen (welche die hohe italienische Verschuldung anprangerte) und nur sechs Prozent auf die keynesianische Sichtweise rekurrierten (die die europäischen Sparvorgaben kritisierte), auf eine problematische Marginalisierung letzterer Perspektive hin. War die Berichterstattung 2020 dann unter umgekehrten Vorzeichen deutlich ausgewogener, bleibt jedoch ein markantes Defizit in der Einbettung einzelner Forderungen in komplexere Sinnzusammenhänge festzuhalten: Insbesondere die keynesianische Sichtweise wurde 2018 nicht als kohärente Perspektive präsentiert. Wenn jedoch auf unterschiedlichen Paradigmen beruhende Deutungen verkürzt und einseitig abgebildet werden, erhöht sich die Gefahr, dass den Träger*innen marginalisierter Sichtweisen die Rationalität abgesprochen wird. Was zum eingangs erwähnten Spiegel-Artikel aus 2018 zurückführt: Durch die Darstellung der Fiskalregeln Europas als letztlich alternativlos, müssen Vorschläge, die diesen zuwiderlaufen, grundsätzlich irrational erscheinen. Es ist nur konsequent, dass der Artikel im Anschluss über die „Konsequenz in der Erziehung“ des „störrische[n] Kind[es]“ Italien sinniert (wobei zugestanden werden muss, dass das provokante Gebaren der italienischen Regierung und ihrer Vertreter*innen diese Absprache der Rationalität erheblich begünstigte).

Eine bewusst paradigmatisch-plural(er)e Gestaltung der Wirtschaftsberichterstattung könnte zukünftig dazu beitragen, verständigungsorientiertere Debatten zu befördern. Stiftung und Autor*innen hoffen, dass die vorliegende Studie ihren Beitrag dazu leistet.

Kurzfassung der Studie für die Otto Brenner Stiftung
Auf einen Blick

– Die wirtschaftspolitische Berichterstattung ist grundsätzlich stark von fundamentalen Paradigmen der Ökonomie geprägt
– Im „Haushaltsstreit“ zwischen EU-Kommission und Italien (2018) dominierte die Neoklassik die Berichte deutscher Medien: 95 Prozent der Artikel übernahmen die Problemdefinition dieser Perspektive
– Während der EU-weiten Verhandlungen zur Gestaltung der Corona-Hilfsmaßnahmen (2020) überwogen hingegen keynesianische Problemdefinitionen (74 Prozent der Artikel)
– Die Berichterstattung folgte damit (zu) stark der politischen Konjunktur ökonomischer Paradigmen auf europäischer Ebene
– Notwendig ist eine dauerhaft paradigmatisch plurale Wirtschaftsberichterstattung

Allgemeiner Kontext zur Studie

Die Studie untersucht das Framing der deutschen Presseberichterstattung in zwei zentralen wirtschaftspolitischen Konflikten Europas der jüngeren Vergangenheit: Dem „Haushaltsstreit“ zwischen Europäischer Kommission und italienischer Regierung 2018 sowie den europäischen Verhandlungen über wirtschaftspolitische Hilfsprogramme in der Corona-Pandemie 2020. In beiden Fällen standen sich konträre Ansichten gegenüber, wie wirtschaftliche Krisen gelöst werden können. Die im Jahr 2018 gewählte italienische Regierung intendierte durch eine deutlich höhere Neuverschuldung als mit der EU-Kommission anfänglich vereinbart, das Wirtschaftswachstum im Land zu stärken, während die EU-Kommission auf die Einhaltung der Austeritäts und Sparvorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes drängte. Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie Ende 2019 rutschte Italien erneut in eine schwere Rezession und stritt bei EU-weiten Verhandlungen – an der Spitze einer Gruppe weiterer südeuropäischer Länder – abermals für leichtere Neuverschuldungsmöglichkeiten aller europäischen Staaten als bestem Weg, um der Wirtschaftskrise zu entkommen. Einige nordeuropäische Länder sowie anfänglich auch Deutschland opponierten gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen und sprachen sich für die Beibehaltung spezifischer Budgetrestriktionen aus. Die verschiedenen wirtschaftspolitischen Anti-Krisen-Strategien der Länder resultierten dabei aus unterschiedlichen Ansichten über die Funktionsweise von Märkten, die in den wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen „Keynesianismus“ und „Neoklassik“ wurzeln. In der vorliegenden Studie wurde untersucht, wie sich diese Paradigmen in der deutschen Wirtschaftsberichterstattung manifestierten und ob eine ausgewogene Gegenüberstellung konkurrierender und auf unterschiedlichen Paradigmen beruhender Deutungen (Frames) vorlag.

Methode

Mittels quantitativer Inhaltsanalyse wurde die Presseberichterstattung von FAZ, Handelsblatt, SZ, Die Welt, taz, BILD und Der Spiegel im Zeitraum 18.05.-31.12.2018 (Haushaltsstreit, 684 Artikel) bzw. 15.02.-31.07.2020 (Corona-Hilfsmaßnahmen, 623 Artikel) untersucht. Auf der Grundlage eines deduktivinduktiv hergeleiteten Kategoriensystems, welches beispielsweise „Problemdefinitionen“ und „Handlungsempfehlungen“ erfasste, wurden einzelne Ausprägungen dieser Kategorien erhoben und den beiden Paradigmen (Neoklassik/Keynesianismus) zugeordnet. Anschließend erfolgte eine Darstellung der (relationalen) Häufigkeiten der jeweiligen keynesianischen und neoklassischen Ausprägungen. Da es sich um eine Längsschnittanalyse handelt, konnten Veränderungen im Zeitverlauf dargestellt werden. Des Weiteren wurde mittels multivariater logistischer Regression statistisch ermittelt, ob sich einzelne Frame-Elemente bzw. deren Ausprägungen zu Frames eines bestimmten Paradigmas gruppierten.

Ergebnisse

Paradigmatisch einseitige Berichterstattung im Jahr 2018

Die hauptsächlich durch die EU-Kommission repräsentierte neoklassische Perspektive auf den Konflikt mit der italienischen Regierung im Jahr 2018 dominierte die deutsche Berichterstattung stark. 95 Prozent der Artikel stellten die Verletzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch die Pläne Italiens als das zentrale Problem dar, während der durch die EU-Kommission verlangte Sparkurs in nur sechs Prozent der Fälle problematisiert wurde. Zusätzlich wurde die neoklassische Sichtweise in komplexeren Sinnzusammenhängen präsentiert, die Ursachen identifizierten, Bewertungen vornahmen und Lösungen vorschlugen. Demgegenüber brachte die mediale Darstellung die keynesianische Kritik am Sparkurs kaum mit Handlungsempfehlungen in Zusammenhang. Insgesamt stand eine Konfliktperspektive im Fokus, eine lösungsorientierte und ausgewogene Darstellung der Thematik wurde verfehlt. Die große Verbreitung negativer Bewertungen der Politik und Perspektive der italienischen Regierung kann jedoch auch auf deren provokantes Auftreten zurückgeführt werden, was eine neoklassische Rahmung der Ereignisse begünstigte.

Ausgewogenere Darstellung zwei Jahre später

Im Gegensatz dazu war der mediale Diskurs über die Corona-Hilfsprogramme im Jahr 2020 von der keynesianische Perspektive geprägt: Dass unzureichende Möglichkeiten der Schuldenaufnahme (bspw. aufgrund der europäischen Budgetregeln) als Kernproblem zu behandeln sind, konstatierten 74 Prozent der Artikel. Allerdings wurde in mehr als einem Drittel (36 Prozent) der Berichte (auch) die gegenteilige, neoklassische Ansicht dargestellt. Des Weiteren wurden die aus der jeweiligen paradigmatischen Sicht identifizierten Probleme meist in komplexe Sinnzusammenhänge eingebettet und somit der Anspruch an die Medien, politische Vorgänge einzuordnen und zu kontextualisieren, zum großen Teil erfüllt. Auffällig ist, dass die Politik Deutschlands in der Presseberichterstattung zwar häufig negativ bewertet wurde, diese Bewertung jedoch kein Teil eines paradigmatisch eindeutigen Frames war – ein Umstand, der dem wirtschaftspolitischen Richtungswechsel der Bundesrepublik von einer rein neoklassischen zu einer moderateren Position im Verlauf der Verhandlungen zuzuschreiben ist.

Chronist*inn*enpflicht statt pluralistischer Berichterstattung?

Die Untersuchungsergebnisse lassen darauf schließen, dass die mediale Darstellung der Paradigmen relativ eng der politischen Agenda auf europäischer Ebene folgte. Wenn relevante Akteure bestimmte Perspektiven in den politischen Diskurs einbrachten, reflektierte die Presseberichterstattung diese Ansichten. Daraus ergab sich die Dominanz neoklassischer Erklärungsmuster in der Berichterstattung 2018 und die Dominanz keynesianischer Perspektiven 2020. Allerdings wurde insbesondere die keynesianische Sichtweise 2018 (zu) stark marginalisiert und nicht als kohärenter Frame präsentiert – während die neoklassische Perspektive auch im Jahr 2020 in vielen Artikel eine Rolle spielte und in größeren Sinnzusammenhänge dargestellt wurde. Einseitige und verkürzte Abbildungen ganzer Perspektiven erhöhen die Gefahr, dass marginalisierten Sichtweisen und ihren Träger*innen die Rationalität abgesprochen wird.

Fazit

Die überdeutliche Dominanz der neoklassischen Perspektive in der Berichterstattung deutscher Medien über den „Haushaltsstreit“ zwischen EU-Kommission und Italien im Jahr 2018 muss kritisiert werden, ebenso die mangelnde Einbettung der italienischen Positionen in einen kohärenten keynesianischen Deutungsrahmen. Dahingegen ist die Berichterstattung über die europäischen Verhandlungen der Hilfsprogramme in der Corona-Pandemie zwei Jahre später deutlich ausgewogener, die Medien haben den Diskurs hier adäquat abgebildet. Zukünftig könnte eine bewusst plural gestaltete Wirtschaftsberichterstattung dazu beitragen, diese von der politischen Konjunktur ökonomischer Paradigmen unabhängig(er) zu machen.

Mehr Infos sowie die Langfassung der Studie finden Sie hier.

Über die Autor*innen

Victoria Teschendorf, M.Sc. ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg.

Prof. Dr. Kim Otto ist Professor für Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg und arbeitet als Journalist für das ARD Politikmagazin “Monitor” und “die Story”

Dieser Beitrag ist eine Übernahme der gleichnamigen Veröffentlichung der Otto Brenner Stiftung, mit deren freundlicher Genehmigung.

Über Victoria Sophie Teschendorf, Kim Otto und Jupp Legrand (Vorwort):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.