Wg. grosser Nachfrage: anlässlich der Verleihung des Arnold-Freymuth-Preises präsentiert am 2. Dezember 2018 in Hamm

Sehr verehrter, lieber Christian, liebe Julia Ströbele-Gregor, sehr geehrte Festversammlung, Hans-Christian Ströbele wird heute der Arnold-Freymuth-Preis des Jahres 2018 verliehen. Dazu möchte ich Dir, Christian, herzlich gratulieren.

Hans-Christian Ströbele, 1939 in Halle geboren, zog bald mit seinen Eltern nach Marl, eine Stunde von Hamm entfernt, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Er war sechs Jahre alt, als der Krieg endete, Hitlerdeutschland kapitulierte. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag trat das Grundgesetz in Kraft und mit ihm entstand die Bundesrepublik Deutschland.

Zehn Jahre später machte er in Marl das Abitur und leistete den Wehrdienst für diesen Staat. Dann begann er Politik- und Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin zu studieren. Noch einmal zehn Jahre später, 1969 erhielt er seine Zulassung als Rechtsanwalt. Da war er dreißig. 1969 wurde Willy Brandt Bundeskanzler.

Vor den Augen des erwachsen werdenden Jungen, in dieser lebenswichtigen Spanne zwischen seinem zehnten und dreißigsten Jahr, formte sich das Land, das wir Bundesrepublik Deutschland nennen.

Es ist die Bundesrepublik Deutschland, die für die Ideale der Aufklärung, Rationalität und Wissenschaft steht, ein Land, das Armut bekämpft, in die Entwicklung anderer Länder investiert, für die Rechte der Frauen eintritt. So das Selbstbild, aber auch häufig die Wahrnehmung von außen.

Ein Land, in dem Marlene Dietrich eine „Ami-Hure“ genannt werden durfte.

Doch die Bundesrepublik Deutschland, die Christian Ströbele als junger Mensch kennen lernte, war ein auch anderes Land. Es war ein Land, in dem nach Gesetz Frauen kein eigenes Bankkonto führen und nur mit Erlaubnis ihrer Männer eine Arbeit aufnehmen durften. In Bayern konnten Frauen nur als Lehrerinnen tätig sein, wenn sie im Zwangszölibat lebten. Auch die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. Es war ein Land, das das Apartheid-Regime in Südafrika aktiv unterstützte und diplomatische Beziehungen zum faschistischen Spanien unterhielt. Ein Land, das Bertolt Brecht boykottierte und dessen Außenminister den Dichter mit Horst Wessel im Bundestag vergleichen durfte. Ein Land, in dem Opfer des Faschismus kein Recht auf Entschädigung erhielten, wenn sie im kommunistischen Widerstand gegen Hitler gekämpft hatten. Ein Land, in dem Marlene Dietrich eine „Ami-Hure“ genannt werden durfte. Wie schwer sich das Land mit der Verfolgung nationalsozialistischer Täter in den 50er und 60er Jahren tat, muss ich Ihnen nicht erzählen.

Der Widerspruch zwischen dem Selbstbild der Bundesrepublik und ihren vielen Realitäten konnte größter nicht sein. Diese Lücke, die da klaffte, war die Wunde auf die Hans- Christian Ströbele immer wieder verweisen wird. Er und seine Frau haben sie am eigenen Leibe verspüren können, als Sie – liebe Frau Juliana Ströbele-Gregor – Mitte der 70er Jahre als Lehrerin Berufsverbot erhielten, weil sie die Frau dieses Mannes sind.

Hans-Christian Ströbeles Anstrengung und Arbeit war darauf gerichtet, den Selbstanspruch der Bundesrepublik, durch das Grundgesetz definiert gegen die realen Verhältnisse zu verteidigen. Aber nicht als ein Bild, sondern als eine ganz konkrete, praktische, für jedermann erfahrbare Sache. Die Arbeit als Anwalt erlaubte ihm genau das.

Ich muss Ihnen heute nichts über die Leistung Arnold Freymuths erzählen, seinen Kampf um die Republikanisierung der deutschen Justiz. Durch Ihre Arbeit, Ihre Gesellschaft, durch die nach ihm benannte Schule und Straße in Hamm bleibt er in Erinnerung. Ihre Gesellschaft steht in seiner Tradition. Sie ist gegründet aus der Empörung über die neofaschistischen Anschläge in Mölln, Solingen und Hoyerswerda. Das Bewusstsein, dass die Demokratie ein Gut ist, das wir nicht ein für alle Mal haben, sondern dass sie immer wieder verteidigt werden muss, verbindet Ihre Gesellschaft und Hans-Christian Ströbele. Der – das nicht nur nebenbei – einen der Nebenkläger im Prozess um den Mordanschlag von Mölln anwaltlich vertrat. Dass er heute diesen Preis erhält, ehrt ihn und es ehrt auch die Arnold-Freymuth-Gesellschaft.

Erste Begegnung in vier Minuten

Meine erste Begegnung mit Hans-Christian Ströbele war sehr kurz. Es war im Jahr 1982. Ich war als Student aus Amerika nach Deutschland gekommen, war Gasthörer an der FU in Berlin und hatte kein Geld. Also habe ich Kohlen geschippt, im Keller eines Hauses am Bayerischen Platz. Jeden Morgen und jeden Abend um sieben für eine halbe Stunde. Eigentlich ein ganz guter Job, auch nicht schlecht bezahlt. Ich arbeitete einen Monat und bekam meinen Lohn. Dann arbeitete ich noch einen Monat und bekam keinen Lohn, arbeitete aber weiter. Am Ende des dritten Monats fragte ich nach. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich als Gasthörer aus Amerika ohne Arbeitserlaubnis keine Rechte geltend machen konnte, dass ich schwarz gearbeitet hatte. Ich wohnte zu der Zeit in Kreuzberg, wo Hans-Christian Ströbele bereits eine Legende war. Als ich um Rat herumfragte, sagten mir die Leute: „Wend’ dich an Ströbele.“ Das habe ich dann gemacht.

Unsere Begegnung war kurz. Ich schätze vier Minuten. In diesen vier Minuten erklärte er mir, dass keine Papiere wandern zwischen Arbeits- und Aufenthaltsrechtsabteilungen, dass ich mir also keine Sorgen machen müsse. Wir haben dann geklagt, oder besser, er für mich. Und er hat für mich gewonnen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich „Im Namen des Volkes“ ein Urteil. Mein Arbeitgeber wurde verpflichtet, mir über 3000 DM zu zahlen. Ein Geld, dass ich nie gesehen habe. Der Arbeitgeber behauptete, er sei bankrott.

Aber ich habe aus der Sache zwei Dinge gelernt. 1. Man muss sich das Recht erkämpfen und 2. Es kann sein, dass man Recht bekommt und dennoch leer ausgeht. Recht haben heißt nicht, dass man gewinnt. Und einen Prozeß mit einem Urteil zu gewinnen heißt nicht, daß man dieses auch geldwert durchsetzen kann.

Ich war damals 19 Jahre alt. Kam aus New York und hatte keine Ahnung, was Hans- Christian Ströbele bereits alles gemacht hatte. Ich wusste nicht, dass er die taz mitgegründet hatte, ich wusste nicht, dass er Andreas Baader als Anwalt vertreten hatte, ich wusste auch nicht, dass er die Alternative Liste in Berlin mitgegründet hatte. Auch das Sozialistische Anwaltskollektiv war mir kein Begriff.

Ich kehrte nach New York zurück um mein Studium zu beenden – und dachte nicht, dass ich den netten Anwalt, der mir mit dieser Geld-Sache geholfen hatte, jemals wiedertreffen würde.

Doch dann kam die „Wende“ und ich kehrte im Jahr 1989 als Journalist nach Deutschland zurück. Ich dachte an einen kurzen Aufenthalt von einigen Monaten, um über den Zusammenbruch der DDR zu berichten. Als ich in Westberlin ankam, regierte dort ein neuer Senat, eine Koalition aus SPD und „Alternativer Liste“. „Konstrukteur“ dieser Koalition war Hans-Christian Ströbele gewesen.

CDU-Parteispendenaffäre

Aus einigen Monaten wurden Jahre. Ich begegnete Hans Christian Ströbele zur Jahrtausendwende wieder. Ich arbeitete nun nicht mehr für angloamerikanische Zeitungen, sondern als investigativer Journalist für das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen. Wir sahen uns im Rahmen des Untersuchungsausschusses zur CDU-Partei-Spendenaffäre. Man muss ein Moment erinnern, worum es damals ging. Der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, Holger Pfahls, war auf der Flucht, weil er sich hatte bestechen lassen. Als das Netzwerk, das die CDU illegal mitfinanziert hatte, aufflog, versuchte die Partei sich zuerst herauszureden, in dem sie behauptete, das Geld stamme von jüdischen Emigranten, die in Argentinien lebten und von dort aus Einfluss auf die deutsche Politik nehmen wollten. Der Begriff, den die CDU verwendete, hieß „jüdische Vermächtnisse“. Später fanden wir heraus, dass die Namen der vermeintlichen „Spender“ von Grabsteinen auf einem jüdischen Friedhof in Argentinien stammten.

Wer könnte vergessen, der Auftritt von Hans-Christian Stroebele als Schäuble von seiner Begegnung mit dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber berichtete: „Hatten Sie einen Koffer dabei?“ fragte Stroebele. Schäuble log und ist eventuell dadurch auch gestürzt von seiner Position als Parteivorsitzender.

Was so außerordentlich angenehm an Christian ist, wenn man mit ihm als Journalist zusammenarbeitet ist, dass er sich – was für einen Politiker nicht selbstverständlich ist, sondern eher selten – an die Fakten oder noch besser, an die Akten hält. Oder mehr noch, dass es ihm wirklich um belegbare Fakten geht. Es mag den einen oder anderen Politiker geben, dessen Ansichten mir näher sind, als die Hans-Christian Ströbeles, doch was auf mich wirklich Eindruck machte und mich mit ihm verband war eine einfache, aber eben nicht selbstverständliche Tatsache: Er liest wirklich die relevanten Akten und merkt sich auch die Namen.

Er ist nicht nur wegen der Felder, die er beackert, eine so wichtige Quelle für Journalisten, sondern auch, weil es ihm um die Beweise geht. Seine Wurzeln als Strafverteidiger waren immer sichtbar. Ein Mann, der keine Behauptung ohne einen entsprechenden Aktenvermerk aufstellt. Wenn ich ihn frage, woher er denn dies oder das wisse, steht er von seinem mit einem Lammfell bedeckten Stuhl auf, holt einen handbeschrifteten Ordner und blättert zum betreffenden Vermerk.

Für einen Journalisten wie mich schafft das ein Gefühl der Sicherheit und des Friedens. Mit jedem Schritt tritt man auf festen Boden. Hans-Christian Ströbele schaut auf die Dinge als Politiker, aber bei solchen Gesprächen ist bei ihm nichts Behauptung. Egal ob wir einer Meinung sind oder nicht – am Schluss entscheiden die Belege. Was ist besser und wichtiger als ein Diskurs, der sich ausschließlich auf nachprüfbare Fakten bezieht?

Er ist, und das ist etwas wirklich Besonderes, bei aller politischer Arbeit und parteipolitischer Zugehörigkeit ein freier Bürger geblieben. Als er bei der Bundestagswahl keinen sicheren Listenplatz innerhalb seiner eigenen Partei erringen konnte, lies er sich als einziges Mitglied seiner Partei direkt wählen. Das demonstriert und schafft eine ungeheure Unabhängigkeit. Politiker sind oft Sklaven ihrer Partei und ihre Karriere hängt von der Gunst und Ungunst des aktuellen Machtgefüges ab. Sich davon frei zu machen, eine wirkliche Eigenständigkeit zu bewahren – dafür gab uns Christian Ströbele ein Beispiel.

Kosovo- und Irak-Krieg

Besonders in Erinnerung ist mir auch seine Haltung im Kosovo-Krieg, wo er sich gegen die Außenpolitik seiner eigenen Partei stellte und damit von heute aus gesehen die Ehre seiner Partei rettete.

In den Jahren nach der Parteispendenaffäre trafen wir uns immer wieder, weil wir an ähnlichen Themen arbeiteten. Aber es gibt ein Ereignis aus dem Jahr 2006, das, glaube ich, wirklich deutlich macht, wer Hans-Christian Ströbele ist.

Es war Januar. Die erste große Koalition unter Merkel nahm gerade ihre Arbeit auf. Im ARD-Magazin „Panorama“ hatten wir einen Beitrag, in dem es darum ging, dass der BND 2003 zwei Agenten nach Bagdad entsandt hatte, um den Amerikanern zu helfen, Ziele für ihre Bombenangriffe zu bestimmen. Es ging um die Zielerfassung.

Heute fällt es schwer sich daran zu erinnern, wie wichtig es vielen Deutschen war, dass Deutschland nicht in diesem extrem unpopulären Krieg mitmischte. Gerhard Schröder war 2002 nicht zuletzt deshalb wiedergewählt worden, weil er sich gegen diesen Krieg ausgesprochen hatte. Viele Deutsche waren sehr stolz darauf, dass ihr Land sich diesem Krieg verweigerte. Als unser Bericht gesendet wurde, war die Empörung groß. Diese Kluft zwischen behaupteter Bundesrepublik und realer Bundesrepublik war noch mal klar. Die neue Regierung handelte nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Ihre vielen loyalen Journalisten benutzte sie dazu, auch uns zu attackieren.

Erst hieß es: Der „Panorama“-Bericht stimmt hinten und vorne nicht – die beiden BND-Agenten seien „aus humanitären Gründen“ nach Bagdad entsandt worden. In diesem Zusammenhang entstand der Begriff der „humanitären Geheimdienstarbeit“: Die BND-Agenten waren plötzlich dazu da, so hieß es, Schulen und Kindergärten zu beschützen. Der BND selbst, damals unter der Leitung von Ernst Uhrlau, argumentierte gar, dass die Agenten die Synagoge von Bagdad und ihre wertvollen Torah-Rollen beschützen sollten. Die Kritik war enorm, beide Regierungsparteien wollten die Koalition retten. Der NDR plante sogar einen Film, in dem wir uns entschuldigen und zugeben sollten, dass wir Fehler gemacht hätten. Ein Ressortleiter dachte über den Rücktritt nach.

Dann kam Hans-Christian Ströbele.

Er war Mitglied des parlamentarischen Kontrollgremiums – welches für die Kontrolle der Nachrichtendienste zuständig ist. Auf der Agenda des PKG stand nun die Frage, ob unser Bericht stimmte oder nicht.

Ströbele sah die Akten ein und studierte sie. Wie gesagt, das ist nicht selbstverständlich. Darum sage ich es noch einmal: Er las und las und las. Manchmal kann die Macht in Frage gestellt werden, wenn nur ein Mensch gründlich die Akten liest.

Die Sitzungen des Gremiums sind nicht öffentlich, aber das Gremium gibt am Ende seiner Sitzungen meistens eine Pressemitteilung heraus, eine einstimmige Einschätzung der zu verhandelnden Fragen. Doch auch das PKG ist von Parteiinteressen dominiert.

Christian Ströbele bekam die Genehmigung seine eigene Pressemitteilung herausgeben zu dürfen. Es wurde ihm gegeben in der Annahme, dass die Medien seinen kurzen Pressetext ignorieren würden. Seine Pressemitteilung war aber nicht kurz. Sie war über 40 Seiten lang und listete die Koordinaten und militärischen Ziele detailliert auf, die die BND-Agenten den Amerikanern zugespielt hatten. Er hatte außerdem herausgefunden, dass die deutschen Agenten vom US-Militär für ihre Zuarbeit mit Medaillen ausgezeichnet worden waren.

Die peinliche Verteidigungsstrategie der Regierung, die Agenten hätten „humanitäre Geheimdienstarbeit“ geleistet, war damit hinfällig. Hans-Christian Ströbeles Erkenntnisse bestätigten unseren Bericht. Die deutsche Öffentlichkeit durfte wissen, was wirklich in Bagdad passiert war. Und mein Job war gerettet.

In diesem Moment, wie in so vielen anderen, schaffte er uns allen einen Dienst an der Wahrheit jenseits aller Parteigrenzen! Er griff in die Geschichtsschreibung ein. Er verschaffte uns allen, auch denen die es gar nicht wollten, Klarheit über die Verhältnisse in diesem Land.

Gemeinsame S-Bahnfahrt durch Berlin – Ziel Edward Snowden in Moskau

Im Oktober 2013 fuhren wir gemeinsam S-Bahn. Sie kennen vielleicht sein Verhältnis zu Bundestags-Limousinen. Wir sind im Bahnhof Friedrichstrasse eingestiegen. Der Zug fuhr durch die Stadt, und ich konnte sehen, wie das ist, mit ihm durch seinen Wahlkreis zu fahren. Da kamen Menschen auf ihn zu, begrüßten ihn, schüttelten ihm die Hand. Bewunderung und doch Nähe. Ich weiß nicht, wie es in anderen Teilen Deutschlands ist, aber in Berlin ist das so. Das liegt vermutlich an der Unabhängigkeit, die er sich bewahrt hat. Unser Ziel war der Flughafen Schönefeld und im ferneren Moskau. Wir wollten Edward Snowden treffen. Ich, um über ihn zu berichten. Christian hatte anderes im Sinn.

Die Lage war die: Trotz der Sympathien die Snowden weltweit entgegenschlugen, hatte es die USA geschafft, international das Recht nach ihren Interessen zu beugen.

Während sich Snowden noch am Flughafen befand, war Moskau Gastgeber für die Staatsoberhäupter der Gas Exporting Countries Forum. Unter ihnen Nicolas Maduro und Evo Morales aus Venezuela und Bolivien. Aus irgendeinem Grund waren die Vereinigten Staaten zu der Annahme gelangt, dass Snowden kurz davor war, im Präsidentenflugzeug des bolivianischen Staatsoberhauptes nach Lateinamerika zu fliegen. In direkter Verletzung des Übereinkommens über diplomatische Beziehungen, das besagt, dass Staatsluftfahrzeuge fliegendes Hoheitsgebiet des jeweiligen Landes sind, forderten die Vereinigten Staaten von Amerika ihre europäischen Verbündeten auf, ihren Luftraum für das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten zu schließen. Das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten musste daher auf dem Wiener Flughafen landen. Als das Flugzeug durchsucht wurde, war Snowden jedoch nicht an Bord.

In der gleichen Nacht beschloss die deutsche Regierung in ihrer Kabinettssitzung folgendes: nach Kabinettsbeschluss sollte Snowden in Deutschland landen, würde man ihm nicht erlauben einen Asylantrag zu stellen und ihn stattdessen sofort an die Vereinigten Staaten ausliefern.

Das regelbasierte System der internationalen Beziehungen

Ein Beispiel dafür, wie die Macht – in diesem Fall die der Vereinigten Staaten – das regelbasierte System der internationalen Beziehungen immer dann ignoriert, wenn es seine Interessen durchsetzen will. Aber auch ein trauriges Beispiel dafür, wie die deutsche Regierung sich unterwarf.

In dieser Situation fuhr Hans-Christian Ströbele also nach Moskau, um Edward Snowden zu bewegen, vor einem Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre in Deutschland auszusagen. Er kam aus Moskau zurück mit einem Brief, in dem sich Snowden dazu bereit erklärte.

Wie die Geschichte endete, wissen wir. Nach jahrelangem Tauziehen gab der Bundesgerichtshof einer Klage der Opposition recht, dass Snowden zu einer Befragung vor dem Untersuchungsausschuss einzuladen sei. Eine Verpflichtung ergab sich für die Bundesregierung aber daraus nicht. Wenn Christian Ströbele in diesem Fall der Erfolg ausblieb, weil es nie zu einer Befragung Snowdens kam, so gibt uns sein Handeln dennoch – oder vielleicht gerade dadurch – eine Lektion. Alle seine juristischen Anstrengungen waren einerseits konkreter, praktischer Natur, andererseits auch immer Lehrvorführungen in Sachen Demokratie.

Indem er uns auf die Lücke zwischen Rechtsprechung und gesellschaftlicher Praxis hinweist, zwischen einer Bundesrepublik wie sie sich gerne darstellt und wie es wirklich ist, zeigt er uns, dass Recht kein Zustand ist, den wir als gegeben voraussetzen können, sondern dass das Recht erkämpft werden muss. Und wenn das Recht erkämpft ist und dennoch keine Gerechtigkeit herrscht, verstehen wir, dass es politischer Mittel bedarf, um die Gesellschaft zu verbessern.

In diesem Sinne, lieber Christian, sei Dir gedankt und seiest Du geehrt. Nicht nur, weil Du mir einmal den Job gerettet hast, sondern weil Du ein Beispiel bist für das, was wir lernen können, und verstehen können: dass es möglich ist, sich einzumischen und doch innerlich unabhängig und frei zu bleiben.

Die Textübernahme wurde möglich durch die urheberrechtliche “Bürgschaft” unseres Autoren und Goetz’ Kollegen Andreas Zumach. Herzlichen Dank an alle Beteiligten. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über John Goetz / Gastautor:

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