Brasiliens Wahlkampf konzentriert sich auf den Zweikampf Lula – Bolsonaro
Am 2. Oktober ist es so weit. 156,4 Millionen Brasilianer*innen haben das Recht, neben Abgeordneten auch den zukünftigen Präsidenten zu bestimmen. Seit dem 16.°August ist die Werbung sowohl im Radio als auch im Fernsehen auf allen Kanälen freigegeben, und dies bedeutet täglich vor der Novela minutenlange Berieselung. Die Wahl der Abgeordneten für den Kongress und den Senat spielt im Wahlkampf eine zweitrangige Rolle. Alles konzentriert sich auf den Zweikampf um die Präsidentschaft zwischen dem Kandidaten der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, und dem jetzigen Amtsinhaber, dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro. Alle weiteren Kandidat*innen sind chancenlos.
Die Bestrebungen der PT sind derzeit darauf gerichtet, Lula bereits im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit zu verhelfen. Dementsprechend gibt es vielfältige Aktivitäten in alle Richtungen. Gelungen ist der PT, ein Bündnis mehr oder weniger linker Parteien zu schließen, bestehend aus PSB („Sozialistische Partei Brasiliens“), PSOL (linkssozialistische „Partei für Sozialismus und Freiheit“), Rede Sustentabilidade (ökologisches „Netz Nachhaltigkeit“), PC do B (ehemals maoistische, heute sozialreformistische „Kommunistische Partei von Brasilien“), PV (Grüne) und Solidariedade („Solidarität“). Bis auf die dem Namen nach sozialistische, aber in der Praxis sehr heterogene PSB, die häufig auch Teil von Mitte-Rechts-Allianzen ist, sind dies kleine Parteien, und Lula ist sich bewusst, dass er weitere Quellen der Unterstützung benötigt.
Er selbst hat von Beginn seiner Kandidatur an versucht, konservative Kräfte auf seine Seite zu ziehen, um den Wähler*innen die Angst vor einem Linksruck zu nehmen. Umstritten in der eigenen Partei, aber aus pragmatischen Gründen nicht weiter diskutiert, ist die Nominierung von Geraldo Alckmin von der PSB als Vize, einstmals ein entschiedener politischer Gegner und auch am Amtsenthebungsverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff 2016 beteiligt.
Hierbei sucht Lula auch den Kontakt mit Kräften, die selbst seinen treuen Anhänger*innen Bauchschmerzen bereiten, haben sie doch bereits die Berufung von Geraldo Alckmin zu seinem Stellvertreter akzeptieren müssen. Während seine Treffen mit Unternehmen noch nachvollziehbar sind, ist es schwer zu vermitteln, wenn er das Gespräch mit Vertreter*innen der Agroindustrie beziehungsweise mit Leuten sucht, die am Putsch, der Amtsenthebung seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (ebenfalls PT) 2016, maßgeblich beteiligt waren. Hierzu gehört vor allem auch die Annäherung an die MDB, die Partei des Ex-Präsidenten Temer, der bis 2016 Vizepräsident unter Dilma Rousseff war, nach ihrem Sturz das Präsidentenamt übernahm und einen strammen Rechtskurs fuhr.
Fragwürdig ist auch eine Vereinbarung zwischen Lula und seinem Stellvertreter Geraldo Alckmin mit dem Anführer der „Bancada Ruralista“, der parlamentarischen Vertretung der Agroindustrie im Kongress, Neri Geller (PP, rechtskonservative „Volkspartei“). Dieser hat zugesagt, sich für Lula auszusprechen, im Gegenzug erhält er von diesem die Unterstützung bei seiner Kandidatur für einen Senatssitz. Umweltschützer*innen sind über diesen Deal entrüstet, setzt sich Geller doch für die Amnestie illegaler Invasionen und den Schutz von Goldsuchern ein und stimuliert so weitere Invasionen in den Regenwald.
Auch in den Bundesstaaten im Norden, Nordosten und Zentralwesten stoßen manche Vereinbarungen der Parteispitze auf großen Widerstand an der Parteibasis. Dies musste Lula beispielsweise im Juli bei seinem Besuch im Bundesstaat Pernambuco erfahren. Als er seine Unterstützung für den PSB-Kandidaten Danilo Cabral (die Partei seines Vize) für den Posten des Gouverneurs verkündete, wurde er von den PT-Aktivist*innen zur Unterstützung der progressiven Kandidatin Marília Arraes (Solidariedade) aufgefordert. Immer wenn er den Namen Cabral erwähnte, setzte ein Pfeifkonzert ein. Lulas Auftritt hatte Kalkül: Im Gegenzug spricht sich die PSB für die PT-Senatskandidatin Teresa Leitão aus.
Noch bedenklicher ist, was sich in Amazonien abspielt. Dort unterstützt die PT die Kandidatur von Eduardo Braga (MDB) zum Gouverneur – er stimmte 2016 ebenfalls für die Amtsenthebung von Dilma Rousseff – und Omar Aziz (PSD, konservativ) bei dessen Versuch einer Wiederwahl zum Senat. Beide Parteien sind offiziell keine Verbündeten Lulas: Die MDB unterstützt die Senatorin Simone Tebet als Präsidentschaftskandidatin (chancenlos), und die PSD erklärte ihre Neutralität.
Indessen artikuliert der PT-Vorsitzende im Bundesstaat Amazonas, Sinésio Campos, Ansichten, die Umweltschützer*innen und Indigene empören. „Ich bin seit 20 Jahren für den Abbau von Mineralien im Amazonas und auf Indigenengebiet, Bolsonaro vertritt dies erst seit drei Jahren“, erklärte er im März im Sender BandNews Difusora. Damit steht er in totalem Gegensatz zu Lula, der sich gegen die Ausbeutung auf Indigenengebiet ausgesprochen hat.
Dubiose Agroindustrie
Entsprechend skeptisch sieht die ehemalige Umweltministerin Marina Silva (Rede Sustentabilidade) die Zukunft Amazoniens, auch unter einem Präsidenten Lula. Sie hält es für unmöglich, dass dessen Zusagen gegenüber den Indigenen und den Umweltschützer*innen umgesetzt werden können. Nicht zuletzt, da Lula auch die Nähe zur Agroindustrie sucht und bereits signalisierte, dass sich seine Regierung für die Finanzierung von landwirtschaftlichen Maschinen zu niedrigen Zinsen einsetzen würde. Dies stieß bei der Agroindustrie, die die für riesige Flächen konzipierten Agrarmaschinen einsetzt, auf freudige Resonanz. Es ist offenkundig, dass Bolsonaros Basis auch bei der Agroindustrie bröckelt und diese sich bereits auf eine Lula-Regierung vorbereitet.
Unterstützung, gleich welcher Seite, ist derzeit für Lula und seine Arbeiterpartei willkommen. Alles wird diesem Ziel untergeordnet, politische Ziele werden hintenangeschoben. Eine wichtige Rolle spielen auch die Medien. Hier gilt es, möglichst viel Sendezeit bei den mehrmals wöchentlich ausgestrahlten Werbeblöcken von jeweils zwölf Minuten und 30 Sekunden zu ergattern. Proportional zur Stärke der Parteien werden diese Zeiten vergeben. Die PT Lulas liegt mit drei Minuten und drei Sekunden knapp vor der Partei Bolsonaros mit zwei Minuten und 50 Sekunden. Entsprechend suchen beide Seiten weitere Werbezeiten bei anderen Parteien. Große Hoffnung machte sich Lula auf die Unterstützung der neu entstandenen Partei „União-Brasil“ (Einheit Brasiliens). Diese entstand aus dem Zusammenschluss der DEM mit der ehemaligen Bolsonaro-Partei PSL, und ihr stehen über zwei Minuten Sendezeit zu. Bis zum Redaktionsschluss verhielt sich „União-Brasil“ jedoch neutral. Für einen Sieg Lulas aber ist mehr Präsenz, sprich Werbezeit in den Medien, außerordentlich wichtig. Daneben findet natürlich, ungleich unsichtbarer, in den Sozialen Medien das Werben für den jeweiligen Kandidaten statt.
Freiheit für Mordwaffen
Überschattet wird der Wahlkampf von immer neuen Meldungen über gewalttätige Auseinandersetzungen. So erschoss im Juni ein Anhänger Bolsonaros in Foz do Iguaçu den ihm unbekannten Marcelo de Arruda, Schatzmeister der lokalen PT, auf dessen Geburtstagsfeier. Dies war der traurige Höhepunkt einer seit dem Amtsantritt Bolsonaros zu beobachtenden Eskalation in der brasilianischen Politik. Mit seinen unsäglichen, nicht selten hasserfüllten, polarisierenden Äußerungen ist es ihm gelungen, die brasilianische Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager zu spalten. Die Liberalisierung der Waffengesetze führte zu einem Anstieg der Waffenverkäufe, zwischen Juli 2019 und März 2022 um 262 Prozent. Nach Erhebung der Tageszeitung Folha de São Paulo bekommen seit Beginn der Regierung Bolsonaro jeden Tag 449 Personen eine Waffenlizenz.
In ganz Brasilien ist zu beobachten, wie sich Angst in der Bevölkerung breit macht, nicht nur in Rio de Janeiro, wo Meldungen über gewaltsame Auseinandersetzungen zum Alltag gehören. Darüber in den Medien zu berichten, ist zunehmend gefährlich. Dies musste der Journalist Gabriel Luiz von TV Globo erfahren. Nach seiner Reportage über verängstigte Anwohner*innen in der Nähe eines Schießplatzes, bei der er auch Einschläge in die Häuser zeigte, wurde er zwei Tage nach Ausstrahlung von zwei Männern vor seinem Haus niedergestochen. Er überlebte den Anschlag nur knapp. Die polizeiliche Untersuchung verlief im Sande.
Bolsonaros Anhänger machten in den letzten Monaten mobil, immer wieder kam und kommt es zu Veranstaltungen „Pro Armas“ (Für Waffen). An vorderster Linie dabei ist Bolsonaros Sohn und Abgeordneter Eduardo Bolsonaro. Ziele sind die absolute Freigabe von Waffenkäufen und die Stärkung der Waffenlobby im Parlament.
Rund drei Monate vor der Präsidentenwahl in Brasilien hat Staatschef Jair Bolsonaro bei einem Treffen mit Botschaftern das elektronische Wahlsystem in Brasilien erneut in Zweifel gezogen. Und dies obwohl im Mai das brasilianische Wahlsystem einen Sicherheitstest des Obersten Wahlgerichts bestanden hatte. Das Wahlsystem in Brasilien ist vollständig elektronisch, und eine Umfrage ergab, dass über 70 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in dieses System haben. Es hat den Anschein, dass Bolsonaro sich bereits auf eine Niederlage einstellt und das Ergebnis der Wahl im Oktober möglicherweise nicht anerkennen möchte.
Des Weiteren kam es in den vergangenen Monaten zu heftigen verbalen Angriffen gegen den Obersten Gerichtshof, dessen Unabhängigkeit er anzweifelte. Auch hiermit hatte er bei der Bevölkerung keinen Erfolg, und auch sein Putschgerede fand kein Gehör. Dessen bewusst, erfolgte der Griff zu sozialen Wohltaten.
Mit verschiedensten Maßnahmen versucht Bolsonaro, Boden gutzumachen, seinen Amtsbonus zu nutzen. Hierzu gehört ein Paket von sozialen Leistungen, hervorzuheben vor allem die Erhöhung der Unterstützung für bedürftige Familien von 400 auf 600 Reais (umgerechnet 110 Euro). Durch Steuernachlässe sank zudem der Benzinpreis um mehr als 20 Prozent, davon profitiert wiederum vor allem die Mittelschicht. Ob es gelingt, auf diese Weise Stimmen zu gewinnen, ist nicht ausgemacht, ist dies doch ein allzu durchsichtiges Manöver.
Mobilisierung gegen Bolsonaro
Gleichzeitig formierten sich landesweite Proteste gegen die Bolsonaro-Regierung. In der Kampagne „Fora Bolsonaro” (Bolsonaro raus) hatten sich bereits in früheren Zeiten zahlreiche soziale Bewegungen zusammengefunden, darunter „Volk ohne Angst“ (Povo sem Medo), die Obdachlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Sem Teto“ MTST, die Landlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Sem Terra“ MST, die Studierendenvereinigung „União Nacional dos Estudantes“ UNE und die Koordination „Central de Movimentos Populares“ CMP.
Am 22. Juli verständigte man sich unter Federführung der CMP darauf, am 6. August und 10. September unter dem Motto „Verteidigung der Demokratie, freie Wahlen, gegen politische Gewalt“ landesweit auf die Straße zu gehen. Gelang bereits am 6.°August eine landesweite Mobilisierung, so wird für den September eine noch größere Beteiligung erwartet. Dies auch als Reaktion darauf, dass Bolsonaro den 7. September, den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit, für sich zu instrumentalisieren sucht.
Begleitet werden die Demonstrationen durch die Veröffentlichung eines „Briefes zur Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaates“. In diesem überparteilichen, von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft verfassten Schreiben wird an den berühmten Brief an die Brasilianer*innen („Carta aos Brasileiros“) aus dem Jahr 1977 angeknüpft. Damals, inmitten der Militärdiktatur, forderten engagierte Bürger*innen die Umsetzung demokratischer Werte. Das jetzige Schreiben ist das Ergebnis von Bolsonaros Angriffen auf den Obersten Gerichtshof, seiner Infragestellung des elektronischen Wahlsystems und seinen immer wieder nebulös geäußerten Putschandeutungen.
Dieser Brief findet derzeit landesweit große Verbreitung und ist – obwohl das Schreiben keine parteipolitische Aussage beinhaltet – doch indirekt auch eine Unterstützung von Lulas Kandidatur. Dies ist auch seinen Gegner*innen klar. Inzwischen gab es laut der Tageszeitung Folha de São Paulo über 2500 Hackerversuche.
Derzeit sieht alles danach aus, dass Lula der künftige Präsident Brasiliens sein wird, dies eventuell bereits nach dem ersten Wahlgang. Er wird ein schweres Erbe antreten und sicher nicht allzu viel verändern können. Es gilt, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, aber auch die vielfältigen sozialen Probleme anzugehen. Für alles benötigt er im Parlament eine Mehrheit, von der die PT und die anderen Mitte-Links-Parteien auch diesmal weit entfernt sein werden. Er wird wohl, wie in seiner Regierungszeit von 2003-2011, weitgehende Kompromisse eingehen, die eine echte Neuorientierung nicht zulassen.
Dass Lula derzeit einen solchen Zuspruch hat, ist der Tatsache geschuldet, dass diese Wahl vor allem eine Abwahl Bolsonaros ist. So wird er wohl auch Stimmen von denjenigen erhalten, die normalerweise die PT nicht wählen würden, Hauptsache Bolsonaro ist weg.
Die Hoffnung auf tiefer greifende Veränderungen in Brasilien könnte in vier beziehungsweise acht Jahren in den Händen des jetzt 40-jährigen Guilherme Boulos von der Linkspartei PSOL liegen. Er ist ein Vertreter einer neuen Generation und hat im Großraum São Paulo durch sein Engagement sowohl in der Wohnungslosenbewegung MTST als auch in der Politik bereits positiv auf sich aufmerksam gemacht. Guilherme Boulos wird Zeit benötigen, um sich landesweit bekannt zu machen, und auch seine Partei muss größere Akzeptanz erlangen.
Allerdings wird auch er einen Rückhalt im Kongress bzw. Senat benötigen, in dem derzeit 23 Parteien vertreten sind, von denen die wenigsten politisch-programmatisch festgelegt sind. Ihre Abgeordneten bieten bei Abstimmungen denjenigen Unterstützung an, die ihnen am meisten bieten. Die brasilianische Demokratie braucht dringend Reformen, um mit Stimmenkauf und Vetternwirtschaft zu brechen. Die müssten aber die beschließen, die vom jetzigen System profitieren. Freiwillig werden sie das sicher nicht tun. Dafür wäre eine breite öffentliche Mobilisierung notwendig, die alleine ein funktionierendes demokratisches System, in welchem Korruption keinen Platz hat, erreichen könnte.
Günther Schulz ist Herausgeber der BrasilienNachrichten und Vorsitzender der Brasilieninitiative Freiburg e.V. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 458 Sep. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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