Schuberts „Winterreise“ als Musik der multiplen Krise Es gibt viele Deutungen von Schuberts „Winterreise“, nach Texten von Wilhelm Müller – einem Dichter aus dem „Schwäbischen Dichterkreis“, einer wahren Hauptveranstaltung der Deutschen Romantik. Naheliegend ist die Deutung aus der romantischen Liebesvergeblichkeit: Die Kälte und Fremdheit der Musik ist eine der vergeblichen und scheiternden Liebe. Das ist unmittelbar evident beim Zuhören. Die politische Deutung geht eher auf die Zeitsituation nach dem „Wiener Kongress“: Die bürgerliche Revolution ist gescheitert, alles erstarrt in der Kälte der Restauration. Auch das ist gut hörbar. Was aber, wenn man die vielen Anspielungen auf die erfrorenen Blüten und die bleichen Wiesen einfach einmal wörtlich nimmt. Wilhelm Müllers Gedichte sind kurz nach „Eighteen hundred and froze to death“ entstanden, dem Jahr ohne Sommer 1816. Der Vulkan Tambora war ausgebrochen und eine gewaltige Staubwolke hatte über mehrere Jahre die Atmosphäre verfinstert und die Durchschnittstemperaturen dramatisch abgesenkt: Dauerregen, Schnee im Juli, Hungersnöte in den nach den napoleonischen Kriegen sowieso schon ausgezehrten europäischen Ländern waren die Folge. Vielleicht ist Schuberts/Müllers Musik die Musik einer multiplen Krise, wie sie im Augenblick nur zu sehr zu Bewusstsein kommt. Wer nach Benjaminschen Geschichtskonstellationen für die Jetztzeit sucht, wird hier fündig. Und wer angesichts der „Winterreise“ noch Traumata aus dem Musikunterricht abzuarbeiten hat, könnte sich das Werk einmal in Hans Zenders Instrumentation für Kammerorchester anhören. Hier wird manches noch evidenter. Mehr zum Autor hier.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.