Sabaudia ist eine in der Mussolini-Zeit zwischen 1932-34 entstandene Retortenstadt. Sie liegt ca. 90 km südlich von Rom und ist heute Ausflugsort und Urlaubsdomizil eines wohlsituierten römischen Bürgertums. Der Gründungsmythos ist natürlich heroisch. Der Duce (er selbst?) hat hier die Pontinischen Sümpfe trockengelegt – eine Jahrtausendplage, heftigstes italienisches Malariagebiet. Das Ganze soll entsprechend auch eine Art Augias-Stall-Aktion zur Begründung von Zivilisation darstellen. Hitler, der mitten in der Bauzeit von Sabaudia an die Macht kam, hat daraus möglicherweise einige Inspirationen gezogen, nicht zuletzt in Richtung Autobahnbau.

In Sabaudia herrscht der rechte Winkel – nicht nur im Sinne des architektonischen Reißbretts, sondern immer noch auch in der Stadtverordnetenversammlung, wo sämtliche 16 Mitglieder rechts bis rechtsextrem sind, mit einer Mehrheit der Meloni-Partei. Aber ganz so einfach sind die Dinge doch nicht. Zunächst fällt einmal der architektonische Modernismus auf.

Die Bauten stehen ästhetisch in der Nähe von Bauhaus und internationaler Moderne, sie sind 1920er-Jahre-Avantgarde. Die Kirche des Ortes erinnert in ihrem Äußeren krass an den Motorenblock eines Sechs-Zylinder-Motors, das ist eigentlich unerhört. Und natürlich hat man auch schon spirituellere Innenräume gesehen. Die Kirchendecke könnte aus einem Großkino der Epoche stammen. Und die Villenviertel könnten auch Teil der Stuttgarter Weißenhofsiedlung sein – und die ist heute bekanntermaßen Weltkulturerbe.

Die frühen 1930er Jahre sind eine Zeit, die wir wohl noch nicht richtig verstanden haben. Überraschenderweise auch deshalb, weil es eine Zeit ist, in der nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 der Schrei nach „Rationalität“ laut wurde. Er wurde nicht nur mit dem Razionalismo von Sabaudia bedient, sondern zum Beispiel auch mit der Abwendung von Lenins Akkomodation an den Markt durch die ersten sowjetischen Fünf-Jahres-Pläne, sowie mit Stalins „Zweiter Revolution“, der Kollektivierung und „Rationalisierung“ der Landwirtschaft, an deren Folgen auch über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer qualvoll an Hunger starben. Man habe die „demographischen Verhältnisse“ in der Ukraine etwas verändert – kommentierte damals ein hoher stalinscher Funktionär den Völkermord. Vom „Razionalismo“ einer solchen Prägung führt wohl ein ziemlich direkter Weg zu Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“, die die Kosten der modernen Rationalisierung noch einmal neu berechnet.

Was mich interessiert, ist der „Standpunkt der Vernunft“ in diesen frühen 1930er Jahren: Wie und woran sich orientieren, wenn die vermeintlichen „Rationalisierungen“ weithin die Projekte von Henkermeistern und ihren Knechten sind? Der Ort der Vernunft wird hier so klein wie die Spitze eines Stecknadelkopfs. Und nur ganz wenige Intellektuelle (Orwell?) schaffen es, von diesem Ort aus über ihre Zeit reflektieren.

Wir sind heute in einer vergleichsweise besseren Lage. Nur bei manchen der Zeitgeistläufte, die wir so mit ansehen – bis hin zu Ostermärschen, die das Wort „Russischer Angriffskrieg“ nicht über die Lippen bekommen – überfällt mich wieder ein gewisses 1930er-Gefühl.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.