Das ZDF-Mittagmagazin berichtete gestern über die aktuelle Realität der deutschen Außenpolitik gegenüber Frauenrechtlerinnen in Afghanistan. Während der Flucht der westlichen Truppen aus Afghanistan vor rund zwei Jahren hatte die Merkel-Bundesregierung zögernd und halbherzig versprochen, mindestens 1.000 Familien, Ortskräfte der Afghanen, die die Bundeswehr, deutsche Institutionen und internationale Frauenaktivistinnen, die den Westen in der Armee, bei der Ausbildung, in Schulen und Universitäten und in der Verwaltung unterstützt hatten, in Deutschland aufzunehmen.

Wenn der Bericht des ARD zutrifft, ist seither nichts geschehen.  Noch immer verstecken sich Frauen und ihre Familien in Afghanistan, müssen die Verfolgung der Taliban fürchten und sind ihrer Existenz als Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen und vielen anderen Berufen beraubt. Wer nun glaubt, die “feministische Außenpolitik” Annalena Baerbocks hätte daran etwas geändert, sieht sich getäuscht. Das Mima interviewte eine Frauenaktivistin, die sich derzeit mit ihrer Familie im Iran aufhält. Grund ist, dass sie das gültige Visum für sich und ihrer Familie in der deutschen Botschaft in Teheran bekommen konnte und auch bekommen hat. Voraussetzung für die Reise war wiederum ein iranisches Visum, das zeitlich begrenzt ist. Nun hat die Bundesregierung selbst gültige und erteilte Visa widerrufen und der Frauenrechtlerin mitgeteilt, dass ihre Visa “ausgesetzt” seien.

“Aussetzung” von Visa illegal?

Als Grund gibt das Auswärtige Amt den angeblichen “Mißbrauch” solcher Visa in einer kleinen Zahl von Einzelfällen an, denen man nachgehen wolle. Für die betroffene Frauenrechtlerin hat das zur Folge, dass sie nicht reisen kann und sobald ihr iranisches Visum abläuft, nach Afghanistan zurückkehren muss, wo ihr Verfolgung durch die Taliban droht.  Der vom Mima interviewte Anwalt der Familie hält dieses Vorgehen des AA für irritierend und rechtswidrig. Erteilte Visa für bestimmte Personen mit dem Hinweis auf einen abstrakten allgemeinen Mißbrauchsverdacht auszusetzen oder zu widerrufen, sei nicht nur unüblich, sondern für die Betroffenen unverhältnismäßig. Die Frage ist nun, ob Baerbock ihr Ministerium nicht im Griff hat oder gar nichts von den Vorgängen weiss. Wie kann es sein, dass die Chefin des Hauses öffentlich “feministische Außenpolitik” verkündet und dann einer afghanischen Frauenrechtlerin in ihrem Verantwortungsbereich ein derartiges Unrecht widerfährt? Haben die Mitarbeiter*innen, die für die Visaerteilung zuständig sind, den Schuss nicht gehört? Oder hat Baerbocks Zögern noch andere Gründe?

Erinnerung an “Visa-Affäre” 2005

In der ersten rot-grünen Koalition liberalisierte Außenminister Joschka Fischer per Erlass den Entscheidungsspielraum von Beamten des Auswärtigen Amtes in den Botschaften und Konsulaten, zur Familienzusammenführung und aus humanitären Gründen erleichtert Visa erteilen zu können. Die CDU/CSU-Opposition machte daraus nach Berichten des “Spiegel” und der “FAZ” und anderer Medien eine angebliche Korruptionsaffäre zugunsten von Schleusern und internationalen Menschenhändlern, der “Stern” schrieb gar von “Fischers Reisebüro”.  Die Konsulate in verschiedenen Staaten, unter anderem der Ukraine in Kiew, sollten mit der erleichterten Visapraxis Schindluder getrieben und u.a. Visa für Opfer des Frauenhandels zu Zwecken der Prostitution erteilt haben. Dafür wurde unter anderem versucht, den damaligen Staatsminister Ludger Volmer MdB verantwortlich zu machen.

Politische Schmutzkampagnen gegen liberalisierte Visapolitik

Unter dem zunehmenden öffentlichen Druck nahm die rot-grüne Koalition 2004 den Erlass selbst zurück und Außenminister Joschka Fischer die Verantwortung auf sich. Einen Grund für einen Rücktritt sah er nicht. Der von CSU-Migrationsgegner und Rechtsaußen Hans-PeterUhl geleitete Untersuchungsausschuß brachte letztendlich keine neuen Erkenntnisse, außer dass in Einzelfällen auch Visa erteilt worden waren, die für illegale Einreisen genutzt wurden. Uhl nannte Ludger Volmer im Bundestag einen „einwanderungspolitischen Triebtäter“.  Otto Schily stellte einen Rekord deutschen parlamentarischen Filibusterns auf, indem er dem Ausschuss fünf Stunden  und 16 Minuten im Allgemeinen und Speziellen erläuterte, was er unter Visapolitik verstand – freilich auch, um sich dabei  bewusst gegen das grün geleitete Auswärtige Amt zu profilieren – und, so entstand der Eindruck,  mit seinem ehemaligen Weggefährten Joschka Fischer aus gemeinsamen grünen Zeiten abzurechnen.

Visapolitik als Gegenstand rechter Agitation

Auch 2010 wurde durch den “Spiegel” eine erneute Visaaffäre vermutet, für die sich allerdings keine konkreten Anhaltspunkte fanden. Wieder wurden Mitarbeiter*innen, in diesem Falle “Ortskräfte” der deutschen Konsulate verdächtigt, gegen Bestechung Visa ausgestellt zu haben. Ist es die Erfahrung mit diesen Kampagnen, die die Außenministerin davon abhält, klare Entscheidungen zugunsten verfolgter Frauen zu treffen? Reicht der Arm der rechten Agitation – damals der CDU/CSU, heute der AfD – so weit, dass Barbocks “feministische Außenpolitik” davor einknickt? Die Leidtragenden sind – und das ist das schlimmste an der Entwicklung, egal welche Gründe dem Handeln des AA zugrunde liegen – die betroffenen Frauen, die sich für Freiheit und Emanzipation einsetzen. Der Schaden für unsere Werte und die Glaubwürdigkeit der Regierung ist schwer zu ermessen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net