Abschied von Antje Vollmer
Anfang April 1984 erschien im Spiegel unter der Überschrift „Der Weiberrat wird es nicht leicht haben“ ein Text von Joschka Fischer. Mit „Rums, da geht die Pfeife los!“ begann der Liebling des Hamburger Magazins seinen Gastbeitrag, Wilhelm Busch zitierend – und, wie er schrieb „angesichts des überraschenden Ausgangs der Vorstandswahlen in der grünen Bundestagsfraktion. Nur dass es diesmal, um bei der literarischen Vorlage zu bleiben, weder Lehrer Lämpel noch gar Witwe Bolte erwischt hat, sondern – ritze, ratze – die bösen Buben selbst“.
Ungeheuerliches war geschehen. Die Führung der immer noch neuen Fraktion war abgelöst worden. Prominente Grüne hatten sie durchs erste Jahr ihres Bestehens geführt: Petra Kelly, eine der Parteigründerinnen, Otto Schily, wortgewaltiger Anwalt, und eben auch Fischer, dessen Reden zu rhetorischen Höhepunkten des Parlaments gehörten. Sechs Frauen hatten sich zusammengetan. Sie kandidierten im Block – und wurden gewählt. „Weiberrat“ wurden sie genannt oder auch „Feminat“: Christa Nickels, Waltraud Schoppe, Erika Hickel, Heidemarie Dann, Annemarie Borgmann – und Antje Vollmer, die zu den Initiatorinnen des Machtwechsels gehörte und von nun an die Fraktionsspitze repräsentierte. Dabei schienen Fischer und Schily den Laden fest im Griff zu haben. Ihre Vertrauten saßen auf einflussreichen Posten. Der Journalismus in Bonn war von Männern beherrscht. Doch der Schein trog. Die Fraktion war des Dominanzgehabes und des Streites ihrer Führung überdrüssig geworden. Vollmer selbst hatte das Stichwort in Umlauf gebracht: Die Fraktion werde von einer „Fischer-Gang“ geführt.
Antje Vollmer, geboren 1943 in Ostwestfalen, war promovierte Pastorin. Als Studentin zählte sie zum Umfeld sogenannter maoistischer K-Gruppen – wie andere spätere Grüne mit kirchlichen Bezügen auch, Winfried Kretschmann etwa. Über ihre Tätigkeit in der Heimvolkshochschule bei den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld kam sie in Kontakt zu den entstehenden Grünen. Zusammen mit Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, der ins Europaparlament gewählt wurde, verkörperte sie den mit ökologisch orientierter Landwirtschaft befassten Teil der grünen Bewegung.
Erst 1985 trat sie der Partei bei. Von „Fundis“ und „Realos“ hielt sie sich fern. Vollmer plädierte für einen Dialog des Staates mit den Häftlingen der terroristischen RAF. Der Vereinigung Deutschlands stand sie skeptisch gegenüber. Gleichwohl wurde sie 1994 – gegen das Votum der SPD – mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP zur ersten Bundestagsvizepräsidentin der Grünen gewählt. Gegen den Mainstream zu opponieren war ständiger Bestandteil ihres Wirkens – bis zuletzt im Februar, als die Pazifistin im Angesicht ihres Todes testamentarisch noch vor Waffenhilfen für die Ukraine warnte. Ideenreichtum und eine breit gefächerte Dialogbereitschaft waren Wesen ihres Engagements. Weit über die Parteiarbeit hinaus und gekennzeichnet durch eine Fülle von Mitgliedschaften in Gesprächskreisen, Kuratorien, Kulturstiftungen und Kirchengemeinden, auch nach ihrem Ausscheiden 2005 aus dem Bundestag und trotz ihrer wachsenden Distanz zur machtorientierten Entwicklung der Grünen. In unterschiedlichen Milieus wurde Antje Vollmer zugehört. An diesem Montag verabschieden sich in einem ökumenischen Gottesdienst in Berlin Familie, Weggefährten, Parteifreunde und Gesprächspartner von der im März Verstorbenen.
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