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Das eingehegte Denken

Eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit hat bei den Grünen keine Heimat mehr. Nötig ist eine politisch-philosophische Gegenkultur

Was ist Gewalt – und für wen? Was ist Sicherheit – und vor wem? Antworten darauf sind für ein emanzipatorisches Denken essenziell. Und an den Antworten scheiden sich Weltentwürfe.

Es gibt Gründe, darüber gerade in diesen Tagen zu schreiben. Denn mir ist, als befände ich mich in einem sich ständig verkleinernden Raum. Die Wände rücken auf mich zu. Ich weiß, ich bin falsch in diesem Raum, es ist ein falscher Ort, aber ich scheine dort hineinzugehören, so sieht das Script es vor. Ich bin unentrinnbar Teil eines sich verengenden, verhärtenden, aufrüstenden Europas, und meine Hilflosigkeit schützt nicht davor, mitschuldig zu werden. Denn für das Kind in einem Grenzgefängnis ist mein Widerwille bedeutungslos.

„Nicht in meinem Namen!“ zu rufen, hätte nur Berechtigung, wenn es eine geistige, eine politisch-philosophische Gegenkultur gäbe, die sich der aufgezwungenen Versicherheitlichung unseres Lebens widersetzt. Doch scheint das Gespür für die ethische Unerträglichkeit bestimmter Verhältnisse verloren gegangen zu sein und damit die Voraussetzung, über diese Verhältnisse hinaus zu denken.

Die Entwicklung, welche die Grünen genommen haben (und lange zuvor die Sozialdemokratie), hat zur Folge, dass radikal fortschrittliche Politik in essentiellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit und die Überzeugung: „Eine andere Welt ist möglich“, haben bei den Grünen keine Heimat mehr.

Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen Opposition, gerade zu den Anliegen einer globalen Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter gehören. Das grüne Führungspersonal scheint gar nicht mehr zu begreifen, dass es andere Auffassungen dessen gibt, was politisch ist, etwa bei der ersten Generation: Stören wollen, provozieren, irritieren, den kapitalistischen Lebensalltag unterbrechen.

Dabei lehrt alle Erfahrung, wie der politische Betrieb von außen her zu beeinflussen ist; der Aufstieg der Grünen wäre anders gar nicht vorstellbar. Heute sind sie indes eine Kraft der Disziplinierung, der Einhegung geworden, der Betäubung und Verbravung des Denkens. Während sich andere verzweifelt ans Pflaster kleben, sind die Grünen mit den herrschenden Verhältnisse verleimt. In der Ampelregierung hat sich diese politische Degeneration in ungeahnter Weise beschleunigt.

Gerade zu einer Zeit, wo radikales Andersdenken und -handeln so nötig ist, wird Radikalität nun bekämpft, diffamiert, inhaftiert. Jüngst sprachen territoriale Demonstrationsverbote in mehreren Städten trotz ganz verschiedener Anlässe eine gemeinsame Sprache: Ganze Gruppen der Bevölkerung werden pauschal der Neigung zu Gewalttätigkeit bezichtigt, weswegen ihre Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können.

Die Präventivhaft, die mittlerweile gegen Klimaschützer angewandt wird, damit sie sich einem geplanten Protest gar nicht erst nähern können, ist die kleine Schwester der präventiven Internierung von Asyl­be­wer­be­r:in­nen an den EU-Grenzen. Die Politik der Versicherheitlichung setzt Grundrechte außer Kraft, die Allgemeinheit nimmt daran keinen Anstoß, und bestimmte Medien hetzen zuverlässig gegen jene, denen die Rechte genommen werden.

Der Polizeikessel jüngst in Leipzig erinnerte mich an den ersten bundesdeutschen Kessel dieser Art; Hamburg 1986. Danach protestierten 50.000 Menschen gegen die Polizeigewalt; ein Gericht erklärte den Kessel später für rechtswidrig. 37 Jahre ist das her. Die Grünen waren damals ein verlässliches Element in einem Milieu, das einen Begriff von Solidarität, Bürgerrechten und Widerstand hatte. Heute stehen sie häufig eher auf der anderen Seite.

Wie sich die Definitionen von Gewalt und Sicherheit sukzessive verschieben, das markiert durchaus den Geländegewinn rechter Gesellschaftskonzepte – und wenn sie nun gegendert daherkommt, ändert das nicht ihren Charakter. Während die Angriffe gegen Geflüchteten-Unterkünfte steigen, denkt sich die Bundesinnenministerin ein Verbot von Küchenmessern in Bussen und Bahnen aus, mit „stichpunktartigen Kon­trol­len“ – mit anderen Worten: Racial Profiling. Die „Messermänner“ von Alice Weidel sind in der Sozialdemokratie angekommen, so wie Seehofers Grenzgefängnisse nun grün angestrichen Wirklichkeit werden.

Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen Opposition

Als dies sind nicht allein deutsche Phänomene; doch hat die Hinnahme von Jahrzehnten neoliberaler Politik hier auf breiter Ebene eine Lähmung links-oppositionellen Handelns bewirkt. Es geht anders, wie ein Blick nach Frankreich beweist, wo Militanz bis weit hinein in die Gewerkschaften legitim ist. Frankreich zeigt aber ebenso: Bei der Unterdrückung einer derart entschlossenen Opposition verwischt heute die Grenze zwischen demokratischen und autoritären Staaten. Gummigeschosse sind dort zur Standardbewaffnung geworden. Sie werden jederzeit eingesetzt, trotz schwerster Verletzungen bei den Opfern, früher gegen die Gelbwesten, nun gegen die Renten-Proteste. Der Umstand, dass 70 Prozent der Franzosen die sogenannte Reform ablehnen, ist für die Wahl der Mittel unerheblich. Kaum anders als in autoritären Staaten gilt hier die Devise: „der Straße widerstehen“. Und zwar mit einer Härte, für die sich der Begriff „Politik der Verachtung“ eingebürgert hat.

Sicherheit für wen, Gewalt gegen wen? Verstörend, nicht ergründet das Ausmaß europäischer Gewaltgläubigkeit im Ukrainekrieg. Kaum dass öffentlich noch ein Leiden spürbar wäre an der Logik eines sogenannten Abnutzungskriegs, auf Jahre prognostiziert. Vielleicht leiden viele allein, in einem sich verengenden Raum.

Über Charlotte Wiedemann / Gastautorin:

Charlotte Wiedemann ist Autorin von Auslandsreportagen, Essays und Büchern, seit 2003 mit dem Schwerpunkt "Islamische Lebenswelten". Recherchen in etwa 30 außereuropäischen Ländern, darunter Iran, Pakistan, Ägypten, Jemen, Libyen, Saudi-Arabien, Libanon, Türkei, Syrien, Oman, Tunesien, Marokko, Usbekistan, ferner Nigeria, Swasiland, Kamerun, Senegal, Tansania, Sudan und besonders häufig Mali. Ihre hier übernommenen Texte sind zuerst in ihrer "Schlagloch"-Kolumne auf taz.de, für die sie in den 90ern als Korrespondentin in Bonn gearbeitet hat, erschienen.

Ein Kommentar

  1. Peter Lessmann Kieseyer

    Liebe Charlotte Wiedemann, vielen Dank für diesen schönen Text. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden: von dieser Grünen Partei und ihren Führungsleuten ist nichts zu erwarten; sie sind zu einem, wie Sie präzise schreiben, „Instrument der Disziplinierung und Einhegung“ geworden und mit den „herrschenden Verhältnissen verleimt“.

    Das Fehlen von Gegenkonzepten und radikal politischen Entwürfen, die sich gegen die neoliberale Grundfesten und unsere imperialen Lebenseisen wenden und damit ein anderes, radikales Denken ermöglichen, ist in der Tat das Dilemma, in dem sich nicht wenige befinden.. Das trifft die meisten Sphären unseres Lebens – das Soziale, die Ökonomie und Politik und das Militärische. Das lässt auch mich oft verzweifeln und ich fühle mich exakt, wie von Ihnen beschrieben, in einem sich verengenden Raum. Doch es gibt sie, die Menschen, die sich diesen herrschenden Narrativen und der Verrohung unserer Gesellschaft entgegen stellen.

    So sind durchaus Perspektiven erkennbar, wenn auch in kleinen Ansätzen, die sich aus sozialen Bewegungen heraus zu einem Größeren entfalten können. Die letzte/erste Generation gehört dazu, die Klima-Gerechtigkeits- und degrowth-Bewegung, der Widerstand gegen Klinikschliessungen zum Beispiel oder die Vergesellschaftung von Wohnungsgesellschaften wie in Berlin mehrheitlich gewollt, aber nicht umgesetzt. Das alles ist oft mühselig, auch frustrierend – doch es soll uns auf dem Weg und bei der Suche nach einem besseren Leben, dem Einsatz für einen „kompromisslosen Schutz von Menschenrechten“ und der Durchsetzung einer „universalistischen Ethik der Gerechtigkeit“ nicht entmutigen.

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