Das Prigoschin-Rätsel – Was wir aus den USA, Großbritannien, Russland und der Ukraine hör(t)en
Im Ukraine-Krieg war bisher keine andere Einheit im Westen medial so präsent wie die “Wagner-Gruppe” und deren „Chef“, Prigoschin. Dahinter verschwanden alle regulären russischen Militärkräfte (die nichts taugen, wie „man“ weiß) – von den Tschetschenen bis zu den Donbass-Milizen (die auf Seiten Russlands kämpfen). Im Mai berichtete die Washington-Post mit Verweis auf die angeblich geleakten Peixera-Dokumente von tiefen Spannungen zwischen Prigoschin und der russischen Militärführung, die anscheinend auch schon im Januar/Februar bestanden und darüber, dass Prigoschin mit dem ukrainischen Geheimdienst zusammenarbeite.
Dank der merkwürdigen Reaktion des ukrainischen Präsidenten auf die unverblümte Frage der Washington Post zur Zusammenarbeit des ukrainischen Geheimdienstes mit Prigoschin im Interview vom 13. Mai 23 dürften allerspätestens auch in Moskau Alarmglocken geläutet haben. Sei es, wie es war, ab April konnte jeder, der Zeit und Nerven dafür hatte, Prigoschin live erleben und sich wundern, wieso er mit seinen unflätigen Bemerkungen und verbalen Attacken auf die russische Armeeführung durchkam. Niemand stopfte ihm den Mund, niemand kassierte den Mann ein (ist das so in einer Diktatur, genoss er Privilegien und/oder wurde er benutzt?)
Mal beschwerte sich Prigoschin über mangelnde Munition, mal warf er der russischen Armeeführung „Sesselfurzerei“ vor, mal drohte er, dass „Wagner“ Bakhmut verlassen würde. Am 24. Juni sorgte er für seinen „historischen Moment“, als er und ein kleiner Teil der Wagner-Truppe erst nach Rostow/Don zog, dort angeblich das militärische Hauptquartier einnahm (aber verlauten ließ, dass er die Kriegshandlungen auf keinen Fall stören wolle; noch später wurde klar, er hatte das Hauptquartier nie betreten). Zu Beginn der Meuterei erklärte Prigoschin, dass der ganze Krieg gegen die Ukraine auf russischen Lügen beruhe. Dann zog er mit einer Wagenkolonne Richtung Moskau, mit dem erklärten Ziel, Schoigu und Gerassimow, also den Verteidigungsminister und den Chef des Generalstabs der russischen Armee, festzusetzen. (Anm.: Tatsächlich war Schoigu in Rostow/Don).
Einige starben
Unterwegs gab es anscheinend ein Gefecht mit der russischen Luftwaffe, und einige russische Flieger starben.
Putin sprach öffentlich von einer „Meuterei“ und warnte vor russischem Blutvergießen. General „Armageddon“ (Surowikin) warnte ebenfalls öffentlich, die Hand am Pistolenhalfter. Putin sprach mit Prigoschin, der weißrussische Präsident vermittelte ebenfalls und 200 km vor Moskau endete das ganze Unterfangen. Prigoschin lenkte ein. Zwei Tage später erklärte er, alles wäre gar nicht so gemeint gewesen. Nun darf er, und jeder, der sich ihm anschließen möchte, die Gastfreundschaft von Lukaschenko genießen (was Polen zusätzlich zu den demnächst dort stationierten russischen taktischen Atomwaffen nervös macht). Aber was fangen Abtrünnige an, wenn ihnen niemand mehr militärische Ausrüstung gibt?
Der Kreml wiederum zog den Vorwurf der bewaffneten Meuterei zurück, ließ aber das Prigoschin-Quartier untersuchen, beschlagnahmte unter anderem viel Geld. Putin hoffte öffentlich, es wäre kein oder nur wenig Geld gestohlen worden. Putin bedankte sich bei der Armee und bei den Geheimdiensten, erfolgreich einen bewaffneten Aufstand abgewehrt zu haben. In diesem Zusammenhang machte er öffentlich, dass Prigoschin vom russischen Staat, genauer gesagt vom Verteidigungsministerium (noch genauer gesagt vom russischen Steuerzahler) sehr großzügig bezahlt wurde, zumindest zwischen 2022 and 2023. Das ist nun Vergangenheit.
Keiner weiss Genaues
Und jetzt rätseln alle. Was ist da gelaufen? Ist Putin geschwächt? Ist das der Anfang vom Ende des Putin-Regimes? Auch Frau Illner und ihre Gäste beteiligten sich am Rätselraten. Laut ZDF ist ein verhandelnder Putin „beschädigt“.
Wenn man dem US-Außenminister folgt, dann ist das Putin-Regime klar geschwächt. Laut S. Hersh schätzte die CIA ein, das Gegenteil wäre der Fall. Der CIA-Chef allerdings sprach öffentlich von einem langanhaltenden „zerstörerischen Effekt“ des Kriegs auf Russland und das System Putin.
Im ZDF rätselte Dr. Meister, ob es nun „Säuberungen“ in der russischen Militärführung gibt, damit Putin stark erscheine. Er vermisste Generäle in der Öffentlichkeit, weiß aber auch nichts Genaues.
Prigoschins Goldesel stirbt
Klar ist zunächst, dass „Wagner“ keine Privatarmee war, sondern eine Kreation des russischen Militär-Geheimdienstes und vom russischen Verteidigungsministerium vollständig finanziert wurde. Klar ist weiterhin, dass das russische Verteidigungsministerium „Wagner“ in die russische Armee eingliedern wollte und damit der Goldesel von Prigoschin sterben würde. Heute lauten die drei russischen Optionen an die „Wagner“-Truppe: integriert Euch, geht nach Hause oder geht nach Weißrussland. „Wagner“ in Afrika scheint derzeit davon nicht berührt. Sehr wahrscheinlich werden nun die Prigoschin-Verträge unter die Lupe genommen werden. Gab es Korruption und wenn ja, wer war daran beteiligt?
Eindeutig scheint es aufgrund von Medienberichten und Erklärungen inzwischen, dass (mindestens) vier Geheimdienste Kenntnis von Prigoschins Meuterei/Putsch-Planungen hatten: Der amerikanische, der britische, der ukrainische und der russische. In den USA wurde die sogenannten „Gang of 8“ gebrieft (Kongress/Senat). Der britische Premierminister schien auch längst informiert. Und dank der Washington Post und dem ukrainischen Präsidenten war alles auch noch im Mai in der Zeitung nachzulesen.
Westliche Reaktionen und Medienberichte über das Ereignis ließen wenig Zweifel daran, wie sehr es dem Westen in den Kram passen würde, wenn es in Russland zu einem Blutbad und einem Regime change käme. Chodorkowski, der inzwischen in London ansässig ist, erklärte, Regime change komme (in Russland) nicht durch Wahlen.
CNN zeigte sich enttäuscht, dass es kein größeres Blutvergießen gab. Die US hätten mit mehr gerechnet. Laut Telegraph hatte Prigoschins Plan auch eine „vernünftige“ Chance auf Erfolg, wenn nicht alles kompromittiert worden wäre. Laut Tagesschau waren alle besorgt wegen der Destabilisierung in Russland (schließlich ist es die größte Atommacht), aber offensichtlich war niemand SO besorgt, dass der Kreml gewarnt wurde. Denn das Ziel Russland „zu ruinieren“ scheint zu einer sehr großen Toleranzschwelle zu führen, wieviel Destabilisierung Russland vertragen kann, bzw. zur Selbstberuhigung, dass am Ende die russischen Atomwaffen schon unter Kontrolle bleiben würden. Laut Times war mit einem unmittelbaren Kollaps der Putin-Regierung zu rechnen.
Wer will ein Land in Aufruhr?
Die westliche Gefühlslage ist definitiv überall, aber auch in Russland angekommen: Wäre es nicht schön, wenn die ukrainische (Gegen)offensive, die bisher auf den Bauch fiel, von einem internen Machtkampf in Russland begleitet würde, der dann in einem russischen Harakiri endet? Es könnte sein, dass die Russen das ganz anders sehen, zumal auch sie die verstörenden Bilder aus Frankreich zur Kenntnis nehmen (auch wenn die dortigen Geschehnisse ganz andere Wurzeln haben). Wer will schon ein Land in Aufruhr?
War das alles ein Putsch gegen Putin? Die Vorstellung, eine Wagenkolonne (mit ein paar tausend Söldnern) fährt stundenlang, über 20 Stunden und mehr als tausend Kilometer und endet in einem siegreichen Aufstand in der Hauptstadt, in der sich die Massen mit bloßen Fäusten gegen den nach wie vor äußerst beliebten Putin erheben (ohne Waffen, ohne Flugzeuge, ohne Logistik, die Soldaten durchgerüttelt und übernächtigt) scheint mir etwas für sehr schlichte Gemüter zu sein.
Die Vorstellung, es habe sich bei allem nur um eine russische „Maskirowka“ gehandelt, gehört meines Erachtens auch ins Reich der Verschwörungstheorien. Dabei schließe ich nicht aus, dass der russische Geheimdienst schon sehr genau zuhörte, bei wem beispielsweise der aus London (Chodorkowski) stammende Aufruf zur „Revolution“ verfing.
Aber was war es dann?
Ging es um die Beseitigung eines korrupten Oligarchen und damit auch um die Aufdeckung von Korruption? War es ein Warnschuss an andere Oligarchen (treibt es nicht zu weit!)? Stecken dahinter Machtkämpfe einzelner Leute aus Geheimdienst und/oder Militär? Ging es um die Art und Weise der Kriegsführung in der Ukraine?
Aus veröffentlichten Kreml-Dokumenten der Vorwoche ging hervor, dass Putin von der Armeeführung einen „Realitätscheck“ verlangte. Laut Einschätzung des russischen Sicherheitsrates hat der Krieg in der Ukraine die alten sowjetischen Waffenbestände in der Ukraine, aber auch in allen früheren Warschauer Pakt-Staaten aufgezehrt. Nicht erschöpft wären dagegen die westlichen Waffenressourcen.
Bei einem Treffen Putins mit Journalisten wurde deutlich, dass in Russland offenbar unterschiedliche Vorstellungen existieren, wie der Krieg geführt werden sollte: Es gibt Stimmen, die sich eine wesentlich härtere Kriegsführung wünschen, gewissermaßen eine verspätete „Shock and Awe-Strategie“ (darunter Prigoschin) und solche, die mit dem bislang verfolgten Ansatz, sich im Schwerpunkt auf die Zerstörung der ukrainischen Armee zu konzentrieren, zufrieden sind. Putin ließ im Journalistengespräch offen, was er speziell darüber denkt.
Zum Stand der ukrainischen Gegenoffensive äußerte sich der Chef des US-Generalstabs. Sie würde lang und sehr blutig werden. Niemand sollte Illusionen über die Schwierigkeiten dieser ukrainischen Offensive haben. Es wäre ein echter Krieg, und im echten Krieg wird gestorben. Der ukrainische Verteidigungsminister wiederum erklärte der FT, die Gegenoffensive habe noch gar nicht richtig angefangen. Die Mehrzahl der westlich ausgebildeten Soldaten und der westlich gelieferten Waffen wäre noch nicht eingesetzt worden. Auch er sieht das System Putin geschwächt, aber warnte davor, sich auf weitere Aufstände in Russland zu verlassen. Bisher hätte die Kampfmoral der Russen nicht gelitten. Erst, wenn die Ukrainer zum richtigen Gegenschlag ausholen würden, würde man sehen, wie die russische Armee reagiert.
So viele Opfer es eben kostet
Es ist eindeutig, dass die gescheiterte Meuterei/Coup in Russland keinen Einfluss auf die grundsätzliche Orientierung hat: Die militärische Schlacht um Siegfrieden und die Wiedereroberung aller an Russland verlorenen Gebiete geht aus ukrainischer/ westlicher Sicht weiter. Solange es eben dauert und so viele Opfer es eben kostet. In etwa zehn Wochen, folgt man Milley, kann man dann das Ergebnis sehen, es sei denn in zehn Wochen erklärt die Ukraine, sie sei immer noch nicht richtig in die Offensive gegangen.
Was nun Russland angeht, ist alles viel komplizierter, denn zwischen westlicher Wahrnehmung und russischer Eigenwahrnehmung und dem unvermeidlichen Kampf um die Lufthoheit der Interpretation des Geschehens klaffen Welten. Eindeutig scheint außerdem, dass die westliche Wahrnehmung von Rissen im Machtgefüge Putins dazu führt, dass der ohnehin geringe Anreiz zu Verhandlungen, die andere Länder fordern, noch kleiner geworden ist. Wer auf den ultimativen Kollaps Russlands und den Niedergang Putins setzt, hat keinen Grund, mit ihm zu verhandeln. Das dürfte nun auch in Moskau (und nicht nur dort) ganz klar verstanden worden sein, und das wird unvermeidlich in die russischen Überlegungen zur weiteren Kriegsführung einfließen. Versöhnliche Töne sind von dort nicht mehr zu erwarten. Russland hat keinen westlichen Ansprechpartner mehr, mit dem es verhandeln könnte.
Damit sind der weiteren militärischen Eskalation Tür und Tor geöffnet. Ob es am Ende zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland kommt, steht als Frage weiter ungelöst im Raum. Noch hält diese Brandmauer, aber auch sie wird immer poröser. Denn wer in Russland nur einen berstenden Golem sieht, wer glaubt, dass die russische Armee nichts taugt und die eigenen Waffen definitiv die besseren seien, ist auch nie vollends vor der Versuchung gefeit, es nun wissen zu wollen, nach all den vielen Milliarden, die schon in die Ukraine flossen und bei all dem ukrainischen Potential, das aktuell in russischer Verfügung ist.
Der US-Präsident wird dabei gewiss nicht viel zu sagen haben, denn der glaubt inzwischen, dass Russland gegen den Irak kämpft und verliert. und merkte, anders als Bush jr., der sich ähnlich irrte, den Versprecher gar nicht.)
Unbeirrt hält die NATO an dem Ziel fest, die Ukraine nach dem Krieg aufnehmen zu wollen. Dem russischen Bären wird so immer wieder ein rotes Tuch vor die Augen gehalten, obwohl alle Beteiligten seit vielen Jahren wissen, wie das in Moskau verstanden wird. Aber nein, die NATO will diese Kraftprobe, die aktuelle ukrainische Führung will sie auch, und also wird auch Moskau unvermeidlich darauf reagieren. In gewisser Weise verteilt die NATO aktuell das Fell des Bären, noch bevor er erlegt wurde. Wer wird dem ukrainischen Volk sagen, dass es für ein geopolitisches Poker sterben wird, weil der Westen keine Verhandlungen wollte?
Kriegsrecht in Polen?
Polen setzt unverhüllt auf US-Atomwaffen auf seinem Territorium. Auch das würde einen weiteren Eskalationsschritt bedeuten, der das letzte Fünkchen Vertrauen in den NAT0-Russland-Beziehungen zum Erlöschen bringen würde. Gleichzeitig erwägt Polen offenbar die Einführung des Kriegsrechts, mit der Begründung, im Osten werde das Land von Wagner und im Westen von den deutschen Christdemokraten bedroht, die die Opposition unterstützten. Selbst die Atlantikerin Anne Applebaum fand das dann doch ein bisschen „exzessiv“.
Was die Chinesen, die Inder, Afrikaner und Lateinamerikaner denken, interessiert die NATO nicht, denn die pochen ja auf eine Lösung, die den Sicherheitsinteressen aller einschließlich Russlands genügt.
Eine breite öffentliche Friedensbewegung gibt es weder in der EU noch in Übersee. Aber der Ukraine-Krieg ist zu einer Frage im US-Wahlkampf geworden. Drei Kandidaten (D. Trump, RFK jr. und C. West) wollen diesen Krieg beenden. Nur Trump hätte, den aktuellen Umfragen zufolge, die Chance, in einem direkten Rennen gegen Biden knapp zu siegen.
Unvermindert gilt: An allem ist nur Putin schuld. Die Aggression kam aus dem Nichts. Nun muss der nur den Krieg beenden, seine unfähigen Truppen nach Hause beordern, abdanken, sich in Den Haag präsentieren und den Weg in eine russische Demokratie à la Chodorkowski freimachen.
Wer kann und wird die Notbremse ziehen, oder erledigt sich das Ganze durch den Zerfall Russlands von selber? Wenn wir bisher nicht wussten, was russisches Roulette ist, jetzt wissen wir es. Nur leider halten wir uns selber die Pistole an die Schläfe, und wir fühlen uns dabei auch noch richtig gut.
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