Best of 14. Juli 2023: Frankreich, Interviews, Liu, Russland

Haben Sie, wie ich, 2017-19 auf ZDFneo “Orange Is The New Black” gesehen? Wenn nein, können Sie hier lesen, was sie verpasst haben: Dierk Saathoff/Jungle World: “Vor zehn Jahren startete »Orange Is the New Black«: Als würde man Dickens lesen – Die Serie »Orange Is the New Black«, die sieben Staffeln lief, erzählte die Geschichte eines Frauengefängnisses – und nutzte dabei Realismus statt Phantasie und Humor statt Belehrungen.” Was dieser Autor schreibt, stimmt alles. Ein Lehrstück für systemkritische Kunst unter den real existierenden herrschenden Produktionsverhältnissen. Ich rufe nicht zum Netflix-Abo auf, habe auch selbst keins. Irgendwann, wenn sie das Werk ökonomisch ausgelutscht haben, werden sie die Serie verramschen, und deutschen TV-Sendern Wiederholungen gestatten. Darauf sollten Sie achten.

Derangiertes Frankreich

Bernhard Schmid/Jungle World: Der Tod Nahel Merzouks löste in Frankreich Proteste und Aufruhr aus Feuer und Tränengas – Nachdem der 17jährige Nahel Merzouk in Nanterre bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde, ist es in vielen französischen Städten zu Protestdemonstrationen und Aufruhr gekommen.” Dieser seit Jahrzehnten zuverlässige Autor liefert nie zu hastig und schnell, aber immer mit hoher und politisch differenzierender Qualität. Da lohnen sich auch mal ein paar Tage Geduld. Zu den aktuellen Ereignissen die beste Analyse deutscher Sprache, die ich kenne.

Politiker*innen-Interviews: gute Ideen

Die hat Markus Reuter/netzpolitik: Absurdes Interview: Der billige Trick des Philipp da Cunha – und was Medien daraus lernen müssen – Vier Minuten lang weicht Philipp da Cunha einer simplen Frage aus. Das Interview geht viral. Dabei ist das Verhalten des SPD-Manns schnöder Alltag in der politischen Kommunikation. Die Mechanismen des linearen Rundfunks machen es möglich – und müssen sich ändern.”

Einen ähnlichen Verkehrsunfall hatten im Radio vor einigen Jahren mal Christoph Heinemann und Anton Hofreiter im DLF fabriziert.

Aber der bis heute unerreichte Altmeister des Agendasettings im Live-Interview war Hans Dietrich Genscher, bis 1992 Bundesaussenminister. Ich habe ihn politisch in der FDP bekämpft, aber er war der letzte Inhaber dieses Staatsamts, unter dem ich mich subjektiv als BRD-Bürger noch sicher gefühlt habe. Objektiv sind wir in jener Zeit mehrmals nur knapp einem Atomkrieg entronnen.

Der Mann wusste erstens vor jedem Interview klar, welche Botschaft er überbringen wollte. Und liess sich von Interviewer-Fragen gar nicht erst irritieren. Und die Ehrfurcht der zeitgenössischen Journalist*inn*en liess sie gar nicht erst kritisch nachfragen. Denn alle, die den Mann kannten, kannten und fürchteten auch seinen Jähzorn, den er vor allen Medienkonsument*inn*en immer professionell zu verbergen wusste. Politiker*innen jener Zeit sprachen langsam, bedächtig, einprägsam. Das liess sie als verantwortungsvolle Denker*innen erscheinen. Sie gewannen und besassen Vertrauen ihrer Wähler*innen. Wer kann das heute noch von sich behaupten?

Catherine Liu

Der Westend-Verlag hat einen US-Bestseller erworben und einen Buchauszug bei overton online gestellt. Es handelt sich um Catherine Liu: Der Klassenkampf ist der entscheidende Kampf unserer Zeit – Wir leben in einer politischen, ökologischen und sozialen Notlage: Der Klassenkampf um die Verteilung der Ressourcen ist der entscheidende Kampf unserer Zeit.”

Schützenhilfe für Wagenknecht? Eine so oberflächliche Betrachtung ist mir so wesensfremd, wie die messerstechereiartigen machtfernen und selbstzerstörerischen Konkurrenzkämpfe in der sich immer anmassender so nennenden “Die Linke”. Das mutet mir immer mehr wie ein Meisterwerk des Inlandsgeheimdienstes an. Wenn wir diesen – immer irrelevanter werdenden – Prozess gedanklich einfach mal vergessen, bleiben bei Mrs. Liu doch bedenkenswerte Argumente. Zumal ich mich als ausgebildeter Linksliberaler angesprochen fühle.

“Was passiert gerade in Russland?”

Gernot Erler ist leider schon 79. Mit einem seiner früheren Bundestagsmitarbeiter, einem von Niedersachsen nach Freiburg gezogenen Jungdemokraten, war ich seinerzeit politisch eng befreundet. Er gab dem Elitenmedium TableMedia ein Interview, das die Kolleg*inn*en von bruchstuecke.info übernehmen durften und für jede*n zugänglich online gestellt habe. Meiner Meinung nach hat sich das gelohnt. Sehr!

Krieg und Frieden: Herr Erler, was passiert gerade in Russland? – Sein Leben lang hat der Sozialdemokrat Gernot Erler, 79, für die deutsch-russische Verständigung gearbeitet. Erler, der Slawistik studiert hat, war Bundestagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Er erklärt im Interview mit Horand Knaup, warum Putin nicht mehr auf Ratschläge hört, die Russen trotzdem immer noch hinter ihm stehen und warum die alte Dichotomie zwischen pro- und antiwestlich im Globalen Süden nicht mehr funktioniert.”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net