Amazon-Kunde bin ich nicht und werde ich nicht, aus prinzipiellen politischen Gründen. Wenn dieser Konzern also eine Dokumentation über ein gescheitertes Unternehmen des DFB zeigt, werde ich sie nicht sehen. Es fehlt mir auch nichts. Andere gucken es und berichten darüber. Z.B. Jan Christian Müller/FR, der praktischerweise darüber hinaus einen exzellenten Draht zum Flurfunk von DFB und DFL hat. Hier seine Vorabrezension: Amazon-Doku: Wie Hansi Flick das DFB-Team bei der WM in Katar verlor – Die Amazon-Dokumentation ‘All or nothing’ über die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-WM der Männer in Katar zeichnet ein bedrückendes Bild des Scheiterns”. Es ist also ernstzunehmen, wenn Müller insinuiert, dass die gegenwärtige Länderspielpause für diesen Bundestrainer die letzte im Amt sein könnte. Immerhin hat er bundesweit Millionen Konkurrenten, die meinen, das meiste besser zu wissen als er.

Das ist aber nur der Fussballmedien-Vordergrund. Aus Müllers Wiedergabe der Dokumentation werden weit alarmierendere Symptome deutlich, die über Fussball hinausreichen. Fussball ist ein Teamsport. Die Mitglieder eines Teams müssen füreinander einstehen, wenn sie gemeinsam erfolgreich sein wollen, auch und gerade, wenn einer einen Fehler macht, oder es insgesamt mal schlecht läuft. Gegenseitig starkmachen, statt Konkurrenten ausschalten – darauf kommt es im Team an, nicht nur im Sport.

In der letzten Saison überraschten die Teams aus Freiburg und Berlin-Köpenick, die in der Geldtabelle im unteren Tabellendrittel rangierten, damit, sportlich ins obere Drittel vorzustossen. Ihre Coaches Urs Fischer, ein Schweizer, und Christian Streich, ein fahrradfahrender Original-Freiburger, werden rauf und runter geehrt, und haben eine riesige Verehrer*innen*gemeinde unter den Fans, weit über die ihres eigenen Vereins hinaus (ich zähle dazu).

Was Müller dagegen über Flick in diesem Film schreibt, dokumentiert eine mitleidserregende Hilflosigkeit an einer Stelle, von der hochprofessionelle Menschenführung erwartet wird. Am Geld kann es nicht gescheitert sein, dass der DFB seinem Fussballlehrer Nr. 1 keine geeigneten fachlich qualifizierten Supervisor*inn*en oder andere Berater*innen an die Seite gestellt hat. Sollte er demonstrativ scheitern? Warum wurde er dann nicht längst ausgewechselt? Weil das Geld für Abfindungen und Gehälter fehlt? Das betrifft den exponierten Mann an der Spitze.

Im Team selbst sieht es offenbar ähnlich furchtbar aus. Die heute überwiegend akademisch gebildeten Oberschichtmitglieder sind offenbar komplett unfähig, Konflikte untereinander zu lösen oder wenigstens kompromissfähig zu bearbeiten – zum Wohle der angeblich gemeinsamen Sache. Aber gibt es die überhaupt, diese gemeinsame Sache? Meine These: sie kommt abhanden. Die Spieler werden von Beraterkonglomeraten beraten und gesteuert. Diese Beraterkonzerne dirigieren das Geschäft, sie profitieren von Vereinswechseln durch die damit verbundenen Provisionen und provozieren darum jede Saison aufs Neue individualistisch orientierte Pokerpartien. Vereine ohne Führung mit klarer sportstrategischer Orientierung werden zu Objekten dieser Beraterkonzerne sowie der mit PR-Trara begleitenden Medienkonzerne, die sogar schon den Begriff des “Transferjournalismus” kreiert haben, eine vielfache Perversion. Die übergrosse Mehrheit der Fans wendet sich voller Ekel ab. Die Trainer dagegen – z.B. der in Mönchengladbach verhasste Marco Rose – surfen auf dieser Ökonomiedynamik. Und eifern dem Liverpooler Jürgen Klopp (Ex-Dortmund und -Mainz, wo er jeweils zum Oberbürgermeister gewählt worden wäre) nach, dem Superstar der Selbstvermarktung.

Der dem Neoliberalismus eingeschriebene Radikalindividualismus zerstört also den nicht minder kapitalistischen Teamsport. Er zerfrisst ihn von innen, und ausgerechnet bei Amazon kann mensch dabei zuschauen. So weit, so subversiv und unterhaltsam.

Wenn es nicht in der nationalen und internationalen Politik ganz genauso laufen würde.

Wie ist in dieser Gesellschaft Solidarität überhaupt noch organisierbar? Ist sie nicht unerwünscht und systemwidrig?

Darum wäre weit aufregender, als eine Doku über die an ihrer Unfähigkeit scheiternden Herren, eine über die spanischen Weltmeisterinnen, die ihren historischen Erfolg über Gegnerinnen und panische Männer unter weit schwierigeren Bedingungen erkämpft und erspielt haben. Welches männerunabhängige Subsystem konnten sie installieren, das ihnen ihren Erfolg ermöglichte? Wie lief die – gewiss ultrakomplizierte – Solidarität und Kommunikation mit den 12 Spielerinnen, die von den Männern von der WM ausgeschlossen wurden. Wie gelang ihnen der gewerkschaftliche Widerstand und die Organisation einer weltweiten Solidaritätswelle gegen das mit allen Finessen der Verschlagenheit ausgestattete “Opfer” Luis Rubiales? Genialer Stoff für eine superlange historische Streamingserie. Die würde ich glotzen, wenn sie nicht von Springer oder Fox produziert würde.

Diese Weltmeisterinnen unterlagen übrigens im selben Turnier Japan mit 0:4. Das ist jetzt auch der nächste Gegner der DFB-Herren …

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net