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Realpolitik in ihrem Lauf

Die sogenannte Realpolitik hat wieder einen Lauf, wie man heute so sagt. Zur Begründung ist zu hören: Man muss die Dinge doch objektiv sehen. Ob man will oder nicht: Wir sollten nicht außer Acht lassen, wie die Dinge sind. Günter Verheugens, meines ehemaligen Chefredakteurs Gespräch mit dem Weserkurier vom 28. August ist ein Beispiel.

Günter Verheugen warnt vor einer Dämonisierung Putins, er hält den Maidan für eine PR-Nummer. Russland sei zwar der Aggressor, aber über Putins weitere geopolitische Ankündigungen enthält er sich jeder Erwähnung beziehungsweise Wertung. Es ist irgendwie so, als beschreibe jemand die Nachkriegsgeschichte der USA ohne den Vietnamkrieg zu erwähnen. Dem Weserkurier sagte Verheugen unter anderem zum Angriffskrieg Russlands: „Ein langer Weg hat dorthin geführt, wenn wir ihn nicht erkennen wollen, sind wir dazu verurteilt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.“

Frage der Zeitung; „Wie kommt es, dass die Vorgeschichte in der derzeitigen Debatte so gut wie keine Rolle spielt?” Antwort Verheugen: „Weil es in der offiziellen westlichen Darstellung keine Vorgeschichte gibt. Zudem übt die Ukraine moralischen Druck aus, dieser Druck wird in den deutschen Medien massiv verstärkt.“

Nun wird dieses Interview hin und her gewendet. Der SPD-Außenpolitiker Roth attackiert Verheugen, der Außenpolitiker Stegner rät zur Mäßigung gegenüber Verheugen. Auf Telepolis war aus der Feder von Redaktionsleiter Harald Neuber zu lesen: „Disput um Ukraine-Thesen von Günter Verheugen: Die Zeitenwende zerreißt die SPD.“ Dazu ist zu sagen: Eine Nummer kleiner gehts auch noch.

Zur Erinnerung: Die „Fehler der Vergangenheit“ gehen auf den spanischstämmigen US-amerikanischen Philosophen George Santayana zurück. Der sagte: „Diejenigen, die sich nicht der Vergangenheit erinnern, sind verurteilt, sie erneut zu durchleben.“ Saantayanas Äußerung zu den Fehlern der Vergangenheit gibt es in mehreren Varianten, die Richtung ist immer dieselbe: Kümmer dich um Ort und Bedingungen, aus denen du kommst. Das ist grundsätzlich ein guter Rat. Versuchen wir ihn.

André Glucksmann hat 2012 ein Gespräch mit Adam Michnik geführt, das von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurde. Nachlesens wert. Michnik sagte im Gespräch: „Zunächst ist Freiheit erst einmal ein Wert, den wir nur dann zu schätzen wissen, wenn er fehlt. Wenn wir die Freiheit haben, beschweren wir uns über sie. Wir sagen dann, sie sei beschränkt, unvollständig, unvollkommen, nur für die Reichen, oder dass sie eigentlich keine Freiheit, sondern einfach nur Anarchie sei.“

Die Freiheit der Person und das Wissen um deren Gefährdung sind Ergebnisse längerer oder kürzerer Kämpfe. Längere Kämpfe in Polen und Ungarn sowie in der damaligen Tschechoslowakei, kürzere in der DDR und Rumänien. Über den Untergrund in anderen Teilen des damaligen Warschauer Pakts wissen wir fast nichts. Wir haben uns ja auch nicht sehr darum gekümmert. Wir im Westen können daher nicht oder nur wenig mitreden. Die Freiheit wurde uns geschenkt.

Wir haben sie nicht immer gehütet und behütet. Wir waren oft mit anderen Dingen beschäftigt. Als Helmut Schmidt 1976 mit der Parole „Zieht mit, wählt Schmidt“ in den Wahlkampf zog, die FDP unter dem Banner „Leistung wählen F.D.P.“ und Helmut Kohl unter der Parole „Freiheit statt Sozialismus“, gründeten Adam Michnik und Jacek Kuron und andere das “Komitee zum Schutz der Arbeiter” (KOR), nachdem im Sommer desselben Jahres streikende polnische Arbeiter ins Gefängnis geworfen worden waren. KOR erreichte eine Amnestie für Inhaftierte. Vor 47 Jahren war das. Später strömten noch viele andere in die freie Gewerkschaftsbewegung Polens: Zum Beispiel Karol Modzelewski, Ewa Kulik, Tadeusz Mazowiecki. Sie haben für die Freiheit Leben und Gesundheit riskiert. 88 Frauen und Männer der Solidarność wurden vom kommunistischen Apparat ermordet. Später ging es darum, die erkämpfte Freiheit gegen deren Abwertung, Umdeutung und gegen den Missbrauch zu verteidigen.

Und damit komme ich zu den eingangs zitierten Frage-und- Antworten zurück: Frage der Zeitung; „Wie kommt es, dass die Vorgeschichte in der derzeitigen Debatte so gut wie keine Rolle spielt?“ Antwort Verheugen: „Weil es in der offiziellen westlichen Darstellung keine Vorgeschichte gibt.“

Es gab die Vorgeschichte in der offiziellen Sphäre nicht, weil den Offiziellen diese Vorgeschichte unbekannt blieb, sondern weil sie die Offiziellen nicht interessierte; beziehungsweise wurden das Dissidente, das Nichtoffizielle zertrampelt. Beispiel Egon Bahr.

Jerzy Krantz erinnerte in einer Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung („Polen und Deutschland:getrennte oder gemeinsame Wege der Geschichtsbewältigung? Juristisch-politische Bemerkungen aus polnischer Sicht“, Friedrich-Ebert-Stiftung 2005) an eine Bemerkung Heinrich August Winklers im Spiegel: „Ich erinnere mich, dass ich in den achtziger Jahren von einigen sozialdemokratischen Parteifreunden gehört habe, wir seien dabei, eine strategische Partnerschaft mit Polen zu entwickeln, und dürften deswegen das polnische Kriegsrecht nicht allzu harsch kritisieren. Diese Haltung hat das Verhältnis Polens zu Deutschland nachhaltig belastet. Aus einem falsch verstandenen Dogma vom Vorrang der Stabilität kann man für die Gegenwart lernen. Wir sollten uns nicht abermals zu Gefangenen eines verkürzten Verständnisses von Realpolitik machen. […] Es gibt Traditionen im deutschen politischen Denken, wonach ein gutes Verhältnis zu Russland von so überragender Bedeutung ist, dass Wünsche nach Unabhängigkeit in den Nachbarstaaten dahinter zurückzutreten haben. 1982 erschien ein Interviewband von Egon Bahr, und eine der Fragen darin lautete: Hätte die Sowjetunion ein Recht, in Polen zu intervenieren, wenn Polen seine Mitgliedschaft im Warschauer Pakt in Frage stellen sollte? Die Antwort lautete: ‚Aber selbstverständlich’. Das war ‚Realpolitik’ im Sinne der zweiten Phase der Ostpolitik in den achtziger Jahren.“

All das gehört zum Hintergrund der Entwicklungen, zum „Grundrauschen“ im östlichen Teil Mitteleuropas und in Osteuropa. Und meist wird über die komplizierten Verhältnisse, die nie aufgearbeiteten Ereignisse und Ansprüche dort eben einfach hinweg gesehen. Genau hinschauen? Na ja. Oder besser: Lieber nicht. Es ist leider viel zu häufig immer noch so, wie Glucksmann das im Gespräch mit Michnik beschrieb: „Eine kleine Anekdote: Solschenizyn war in Moskau. Er hatte bereits den Nobelpreis und er wurde bereits verfolgt, war aber noch nicht vor die Tür gesetzt worden. Er hat der Zeitung ‘Le Monde’, von der du gerade sprachst, angeboten, ein- oder zweimal im Monat einen Artikel zur Lage in Russland zu machen. Und ‘Le Monde’ hat ihm geantwortet: ‘Wir haben bereits unseren Korrespondenten in Moskau’.”

Was Völker und Bevölkerungen, in Finnland beginnend, über Estland, Lettland, Litauen, Belarus und Polen, in der Slowakei, der Ukraine bis Moldawien erhofften und wollten, was sie ablehnten und wovon sie träumten – all das hat Jahre über Jahre bei uns keine oder nur eine Nebenrolle gespielt. Am wichtigsten war immer, ob „der große Bär im Osten“ zufrieden brummt. Dabei war bezogen auf die aufgezählten Länder stets unbestreitbar: Den Way of Life im Westen zogen sie dem russischen Weg vor. Aber das Völker-Wollen spielt eben in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle.

Wir haben Freiheitsbewegungen in den genannten Ländern missachtet. Dissidenten wirkten auf die offizielle Politik – und da wird es wirklich offiziell – wie aus der Zeit gefallen. Wen interessierte damals Václav Havel? Das waren wenige. Eine Ausnahme: Der mittlerweile verstorbene Wolfgang Roth, vor vielen Jahren Vorsitzender der Jusos. Wir hätten doch nur zuhören müssen! Tschechiens Staatspräsident a.D. Václav Havel sagte im Herbst 2007 der Deutschen Presseagentur: „Nie in der Geschichte war unser Verhältnis so gut wie jetzt. Aber ich werde mich jetzt – Entschuldigung – etwas in die deutschen Angelegenheiten einmischen. Die Polen sind sehr sensibel, und die Gasleitungen zwischen Deutschland und Russland um Polen herum – ich weiß nicht, vielleicht gibt es dafür strategische oder finanzielle Gründe – sorgen sicher nicht für Ruhe in Polen. Man sollte jedenfalls im Interesse aller nicht übersehen, dass es zwischen Deutschland und Russland ein Land namens Polen gibt.“

Und dahinter liegt die Ukraine. Der Nachbarn des Nachbarn. Das ist wirklich real.

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.

Ein Kommentar

  1. w.nissing

    “Es gab die Vorgeschichte in der offiziellen Sphäre nicht, weil den Offiziellen diese Vorgeschichte unbekannt blieb, sondern weil sie die Offiziellen nicht interessierte; beziehungsweise wurden das Dissidente, das Nichtoffizielle zertrampelt”
    Wo beginnt ihre Vorgeschichte1969 oder 2014? Wenn wir von 1969 +- sprechen kann ich mir nicht vorstellen, das die damals Handelnden nicht die Kenntnisse hatten, die mir (56 geb.) so ab Anfang Mitte der 70er bekannt waren und in den geopolitischen Kontext sehr wohl eingeordnet waren. Aber da waren AUCH die Leichen in Chile/Argentinien/Brasilianische Gewerkschaftler etc um nur einige Stichworte zu nennen, im Bewusstsein. Konnten die damals Verantwortlichen den “eigenen” Saustall ja noch nicht mal ausmisten, aber dem Russen mal so richtig die Meinung geigen???….
    Nein, ich bin hochgradig dankbar ( ob man da an der einen oder anderen Stelle was anders hätte machen können??geschenkt) für die Realpolitik von damals, wer weiß ob wir sonst überhaupt noch diese Zeilen schreiben könnten.
    Wenn sie aber die Vorgeschichte auf 2014 +- beziehen frage ich mich auf welche Quellen sich Ihr Urteil stützt

    ” Den Way of Life im Westen zogen sie dem russischen Weg vor. Aber das Völker-Wollen spielt eben in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle.”
    ja stimmt, deshalb war es ja auch nur folgerichtig Minsk1 und 2 zu sabotieren…. wo kämmen wir den da hin wenn es auch noch andere Vorstellungen vom Way of Live gäbe als unsere Supiority. Und das die Est/Lit und Let Jugend abhaut in den Westen hat natürlich nix mit den Vernagelten politischen Verhältnissen dort zu tun…..
    “Und dahinter liegt die Ukraine”
    also erst mal kommt dann Galizien (mit ihrer Banderavolklore usw)….will sagen, die Ukraine ist ein bisschen mehr als die Einheitsbrühe die uns hier aufgetischt wird, ist ja ein bisschen so wie in D, oben die Ostfriesen und unten die Bayern. Die Unterschiede sind natürlich bei uns mit einem gewissen Wohlstand überzuckert, aber wehe du willst vom Bayern etwas mehr Finanzausgleich ( siehe Niedergang Ruhrgebiet )
    so das musste auf die Schnelle aber mal raus.

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