Was bedeutet Identitätspolitik für uns? – Identität ist ein Ausdruck aus der Logik, er besagt Gleichheit mit sich selbst. Wie wird daraus Politik? Mit dieser Frage hat sich unser Autor befasst.
In den USA bezeichnete der Begriff identity politics (IP) seit den 1980er-Jahren das politische Selbstbewusstsein marginaler oder diskriminierter, in jedem Fall markierter Gruppen. Eine provokative Übernahme der abwertenden Markierung – wie „Kanaks“, „Sluts“, „Niggas“ – kann bereits Teil von Identitätspolitik und damit Selbstermächtigung sein.
Die IP mag heute ihre Stars haben, die solche Fremdmarkierungen vorwegnehmen und sich als Sprecher benachteiligter Gruppen positionieren – es bleibt eine Gemeinsamkeit: Die annoncierte Identität betont Passives, denn sie begründet sich durch Merkmale, die eigener Gestaltung entzogen sind.
Dazu gehören Geburtsort, Hautfarbe, Geschlecht, aber auch ethnische Herkunft, dialektale Prägung, religiöse Erziehung. Es gibt prinzipielle Gegner der IP. Sie betrachten deren Verfahren als Konstruktion, als durchweg künstliche Formgebung.
Doch ist das Material für die identitäre Form nicht beliebig verfügbar. Zumeist bemühen identitätspolitische Konstrukteure atmosphärische Konflikte, die auf den Begriff gebracht werden. Das Material, das solche Begriffe füllt, liefert die Realgeschichte. Das war auch bei den Erwartungen und Fantasien rund um das deutsch-deutsche Verhältnis seit 1990 so.
Als Puffer zwischen Dritter und Erster Welt, zwischen Weltelend und Weltwohlstand, war die Zweite Welt des Realsozialismus ausgeschieden. Entschwunden war somit auch „der Osten“ als verlässliches Negativ von „freier Welt“ und Wohlstandswesten. Dessen vorgeschobener Teil war die Bundesrepublik.
Bereits kurz nach dem Mauerfall blühten dort Ängste vor östlicher Bedrohung. Es waren auch Visionen eines allgemeinen Gemütlichkeitsverlustes. Die westdeutschen Sorgen galten dem Wohnbedarf und bald dem Aufstiegsehrgeiz der ostdeutschen Immigranten.
In West-Berlin gingen gleichfalls Ängste um. In den Alternativmilieus argwöhnte man eine Invasion konkurrierender Fördermittelempfänger. Die selbstgefertigte Heimatnische schien in Gefahr. West-Berlin war um 1989/90 das Habitat verbissenen Antispießertums, geschaffen von und für Menschen, „mit denen man klarkommt“ (Rainer Langhans).
Schmähungen ergossen sich gerade aus der linksalternativen Szene über die DDR-Schaufensterbummler vom Herbst 1989. Ihre pure Anwesenheit in West-Berlin erregte Ekel. In solchen Antipathien begann sich ein westliches Kollektivbewusstsein zu formen, in dem bislang getrennte Milieus zusammenfanden.
Von Adenauers Erben bis zum sogenannten Altachtundsechziger sprach man nun nostalgisch von „der alten Bundesrepublik“, von einer durch die Einheit „beschädigten Republik“, wie etwa der ZDF-Journalist Wolfgang Herles in „Wir sind kein Volk“ (2004).
Ehrgeizigere Konstrukte von „Identität“ rings ums Deutschsein entstanden mit der Massenzuwanderung 2015. Identitätsbefasste sprechen oft für eine Gruppe, die ihre berechtigten Interessen gegen eine andere – in der Regel „privilegierte“ – Gruppe am besten durchsetzen könne, indem sie sich auf Interessenverwandtschaft mit einer dritten Gruppe besinnt. Als solche Interessenbündnisse sind heute drei Kombinationen im Angebot.
Westdeutsche und Nichtdeutsche gegen Ostdeutsche
Nach 1990 hatte sich „die alte Bundesrepublik“ als ein Land relativ stabiler Milieu-Identitäten erwiesen, „der Osten“ als eine Landschaft von Individuen. Durch das Verschwinden ihres Staates waren die „Ostler“ auf sich selbst zurückgeworfen, auch stärker klassisch-bürgerlichen Wettbewerbsideen zugeneigt. Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft, Chancengleichheit galten hier mehr als beispielsweise Minderheitenquoten.
Die neue östliche Gefahr drohte dem Westen in Gestalt ökonomischer Selbstausbeuter. Zunächst als nachholbedürftiges Konsumentenkollektiv verhöhnt, dann als unsolidarische „Avantgarde des Amerikanismus“ (Heinz Bude) denunziert, verunsicherten sie die altbundesdeutsche Gesellschaft.
Die sogenannten Neubürger waren schulisch und beruflich gut ausgebildet, oft überqualifiziert. Anders als die „Gastarbeiter“ der Westdeutschen drohten sie mit diesen auf gleicher sozialer Ebene zu konkurrieren. Der historische Vorsprung Westdeutschlands schien fraglich.
Es suchte diesen Vorsprung zunächst politisch-moralisch – 40 Jahre Erfahrungsplus in Sachen Freiheit und Demokratie! –, später „kulturell“ zu reformulieren. Leitmedien der Alt-BRD pflegten einen stark typisierten West-Ost-Vergleichsdiskurs.
Alle Westdeutschen schienen darin zu Großstädtern mit Hochschulabschluss mutiert, die sich einer dumpfen Masse dörflicher oder kleinstädtischer Underdogs gegenübersahen, Menschen, „die wirklich nicht gut ausgebildet“ waren (Uschi Glas).
Die fabrikneue Identität „westdeutsch“ beanspruchte ein Set von Weltläufigkeitsrequisiten. Zu diesen gehörte ein Studienaufenthalt „in den Staaten“ ebenso wie die vertrauliche Rede von „den Alliierten“, vor allem das Bekenntnis: „Ich fühle mich nicht als Deutscher, sondern als Weltbürger.“
Politische Stoßgebete der 1980er wie „Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein!“ erlebten ein Revival. Die aufdringliche Empathie etwa für vietnamesische Näherinnen oder angolanische Lehrlinge in der DDR hatte im Medien- und Kulturbetrieb West stets eine Spitze gegen das Ex-Staatsvolk Ost.
Die „Ostdeutschen“ schienen als störende Identität einer bundesdeutschen Weltläufigkeit entgegenzustehen, die sich seit 2015 als „werteorientierte“ Weltoffenheit gab. Speziell die ältere Ostgeneration, durch stärkere Zerstörungen und Reparationen die Nettozahler des verlorenen Weltkriegs, daher weniger kriegsbegeistert als der deutsche Wertewesten, geriet zu dessen Feindbild.
Seit 2022 wurden ihre Angehörigen durch Westdeutschlands Leitmedien oft als nationalegoistisch denkende Russlandfreunde markiert. Heute reicht die Front des Ossihasses von der wertewestlich konvertierten Ex-Linken über verbitterte „Antideutsche“ bis zu den Transatlantikern in Politik, Wirtschaft, Rüstung.
Westdeutsche und Ostdeutsche gegen Nichtdeutsche
Auf den ersten Blick ist diese Allianz politisch klar „rechts“ angesiedelt. Ideenstrategische Projekte der frühen Einheitsjahre rings um eine „selbstbewusste Nation“ (Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, 1994) waren älteren Traditionen des Nationalkonservatismus verpflichtet.
„Der Osten“ bedeutete diesen Milieus eine Land-, Bevölkerungs- und nun auch Wählermasse, die es zu gewinnen galt. Doch war all dies eher nationale Nostalgie denn identitätspolitische Strategie. Das neue Nationalbewusstsein orientierte sich statt an Tradition und Brauchtum zusehends an zeitgeschichtlichen Zäsuren.
Dauerthemen wurden deutsche Wirtschaftskraft und deutscher Sozialstaat: Wenn beide durch kaum steuerbare Massenimmigration, auch durch eine Pluralität von Machtblöcken bedroht seien, so stelle sich die Frage nach „deutschen Interessen“ neu.
Sie erweisen sich als Interessen von Deutschen hier und jetzt – von „schon länger hier Lebenden“ (Angela Merkel). Leben in Deutschland heißt dann konkret: ein Leben in deutscher Staatsbürgerschaft. Die Wahrung „deutscher Interessen“ kann eine Zurückstellung innerdeutscher Differenzen bedeuten, zumal angesichts globalökonomischer Herausforderungen.
Diese zeigen den Nationalstaat als so zerbrechlich wie konservierungswürdig. Er ist als Basis von wirtschaftlicher Souveränität, politischer Emanzipation und wohlfahrtlichen Ansprüchen erkennbar geworden. Entsprechende Konservierungsideen tragen nicht mehr nur sogenannte Ewiggestrige vor, sondern waschechte Wertewestler und einstige Ostdeutschenerzieher wie etwa Klaus von Dohnanyi („Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre“, 1990).
Auch ein sozialstaatlich eher gleichgültiges, wirtschaftsnahes Milieu moniert die Rückstellung oder gar – wie Nordstream zeigte – Verletzung deutscher Interessen zugunsten der westlichen Siegermacht von 1945.
Ostdeutsche und Nichtdeutsche gegen Westdeutsche
Eine nicht westdeutsche Identität – manifestiert im „Ostler“, „Ossi“, „Zoni“ – war seit 1990 durch simple Herkunftsabfrage ermittelbar. Da oft gänzlich erfahrungsfrei, war das Feindbild „Ostler“ – gern identifiziert mit „Sachse“ – bestens geeignet für je angesagte Meinungs- und Haltungsbekundungen.
Was insbesondere der Bewohnerschaft eines braun eingefärbten Spiegel-Sachsens widerfuhr, war Diskriminierung im heute gängigen, moralisch skandalösen Sinne. Dadurch taugte sie zum Rohstoff der jüngsten Form medialer Konfliktbewirtschaftung.
Ihre Trägerin ist eine identitätspolitisch bereits sozialisierte, medial umtriebige Generation. Die „dritte Generation Ost“ beherrscht virtuos die Methoden der Selbstethnisierung, verfügt auch über das nötige biografische Kapital: einen Geburtsort östlich der Elbe. Seitens der Mehrheitsgesellschaft West darf man sich deshalb, selbst wenn erst nach 1990 geboren, als „ostdeutsch“ markiert fühlen.
„Migranten im eigenen Land“ titelte die F.A.Z. zu einem der letzten Einheitsjubiläen und verglich die ostdeutsche mit der türkischen Minderheit. Hieraus wurde ein Angebot, das identitätspolitische Profis wie Naika Foroutan und Jana Hensel, etwa in ihrem Buch „Die Gesellschaft der Anderen“ (2020), den Ostdeutschen machten.
Diese sollten sich als migrantische Minderheit neben anderen begreifen, um vereint für Sichtbarkeit in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu kämpfen. Ähnliche Bündnisvorschläge folgten.
Die älteren ostdeutschen Jahrgänge wie die ältere „Gastarbeiter“-Generation des Westens zeigen sich an derlei Allianzen bislang uninteressiert. Im Deutschen wie im Nahen Osten war die Bundesrepublik jahrzehntelang eine Verheißung bürgerlichen Aufstiegs, somit auch bürgerlicher Normen wie des Leistungsgedankens. Dieser bleibt dem Verfahren der „Identitätspolitik“ fremd. Sie bindet soziale Aktiva unweigerlich an die Passivaspekte individueller Existenz.
Jürgen Große ist freier Autor in Berlin. Zur deutsch-deutschen Frage erschien von ihm 2020 „Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch“. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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