Über die unterschiedlichen Frauenperspektiven in der peruanischen Krise

Der Versuch Pedro Castillos, am 7. Dezember 2022 den Kongress aufzulösen, endete damit, dass der Präsident wegen Rebellion und Verschwörung verhaftet wurde und Vizepräsidentin Dina BoluARTE sein Amt übernahm. Darin sahen viele Indigene im andinen Hochland einen erneuten Versuch der Eliten, ihre auf Ausgrenzung der autochthonen Bevölkerung basierende Herrschaft zu zementieren. Die aggressiven, stets mit rassistischen Untertönen gespickten Kampagnen gegen Castillo waren kaum anders zu verstehen. Seit klar ist, dass Dina BoluARTE einen Pakt mit den weißen Eliten und der Rechten eingegangen war, um ihre Präsidentschaft zu sichern und Neuwahlen zu verhindern, kommt es vor allem in den südlichen Andenregionen zu immer wieder aufflammenden Massenprotesten, in denen Frauen eine entscheidende Rolle spielen.

Am 8. Dezember 2022 richtete die mit der Präsidentenschärpe geschmückte Dina BoluARTE vom Kongress aus ihre erste Botschaft an die Nation. Dabei äußerte sie sich nicht zur Forderung nach Neuwahlen. Dies wurde als Verrat am Volk verstanden und als Absprache mit den Mächtigen im Parlament. Unmittelbar darauf kam es auf nationaler Ebene zu einer Reihe von Protesten. Der Auftakt war am 9. Dezember in Andahuaylas, das ist die Stadt, aus der BoluARTE kommt. Der neuen Präsidentin wurde vorgeworfen, sich mit den konservativsten Gruppen im Parlament zu verbandeln und das “voto popular”, die Wahlentscheidung des Volkes (für Castillo und einen Politikwechsel – d. Red.), verraten zu haben. Die Rufe nach Neuwahlen (Präsidentschaft und Parlament) und einer neuen Verfassung ließen nicht auf sich warten. Am 10. Dezember wurde über die ersten Toten und Verwundeten bei den Protesten berichtet.

Die Mobilisierungen breiteten sich schnell von Stadt zu Stadt aus, tragischerweise gilt das auch für die brutale Repression, mit der diese beantwortet wurden. Wie das Portal Ojo Público im Januar 2023 berichtete, gab es zunehmend mehr Tote infolge des Einsatzes von Schusswaffen. Heute sind sechzig Todesopfer registriert, 49 starben direkt bei den Protesten und mindestens zehn bei damit verknüpften Anlässen.

Es begann die Suche nach Erklärungen, warum die erste Frau im Präsidentenamt sich auf die Seite der Unterdrücker stellte, die Fahne der Gewalt schwenkte und die Repression autorisierte. Der Satz von Simone Beauvoir, „der Unterdrücker wäre nicht so stark, wenn es nicht unter den von ihm Unterdrückten Komplizen gäbe”, begann zitiert zu werden, um das Verhalten von BoluARTE einzuordnen. Oder, wie die feministische Anthropologin Angélica Motta Ochoa vermerkt: „Ein wichtiges Merkmal des Patriarchats ist es, dass es innerhalb einer Logik des Paktes funktioniert, bei der ein Loyalitätsmandat unter Gleichen gilt und eine Unterwerfung derjenigen, die als untergeordnet oder minderwertig betrachtet werden. Diejenigen, die dem Loyalitätsmandat unter Gleichen nicht Folge leisten, werden gleichsam exemplarisch bestraft.”

Warum sollte sich BoluARTE aber anders verhalten? In Peru haben wir immer Frauen erlebt, die sich mit den repressivsten Teilen der Gesellschaft verbündet haben. So gibt es zum Beispiel eine Geschichte hinter dem „Fujimorismo”, die von den vielen Frauen handelt, die das autoritäre Regime von Alberto Fujimori gestützt haben. Es ist nicht umsonst, dass sich in Peru das Patriarchat strukturell, hierarchisch und rassistisch aufrechterhält. Dafür sind Verbündete aller gesellschaftlichen Gruppen, Generationen und Geschlechter erforderlich.

In Ayacucho wurden bei den Protesten vom 15. und 16. Dezember zehn Todesopfer gezählt. Ruth Bárcena war mit Zwillingen schwanger, als ihr Mann, Leonardo Hancco Chacca, ermordet wurde. Er war der erste Tote bei den Zusammenstößen nahe des Flughafens der Stadt. Von Beruf Taxifahrer, hatte er beschlossen, bei dem Protest mitzumachen, seine Kinder sollten eine bessere Zukunft haben. Eine Kugel beendete sein Leben am 16. Dezember 2022.

Ängste, Schmerz, Erinnerung

Von Ayacucho aus hatte Sendero Luminoso 1980 den bewaffneten Kampf aufgenommen. Laut dem Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission Perus von 2003 war Ayacucho die Region, die am schlimmsten vom bewaffneten Konflikt betroffen war und die höchste Zahl von Todesopfern verzeichnete. Die Unterdrückung der Proteste im Dezember 2022 weckte bei den Menschen in Ayacucho die Ängste, den Schmerz und die Erinnerung an all das, was in den 1980er- und 1990er-Jahren geschehen war. Gleichzeitig wurden aber auch die Lehren von damals wieder wach und die Notwendigkeit, sich zusammenzutun. Ruth Bárcena und andere Hinterbliebene gründeten die „Vereinigung der Angehörigen der Ermordeten und Verwundeten des 15. Dezember 2022” (Asociación de familiares de asesinados y heridos del 15 de diciembre de 2022).

Gerechtigkeit, Wahrheit, Wiedergutmachung

Die Zeit des Krieges hat die Lehre der „kollektiven Bürgerschaften” hinterlassen, Menschen haben sich zusammengeschlossen, um Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung einzufordern. Die Nationale Vereinigung der Angehörigen von Entführten, Verhafteten und Verschwundenen von Peru (Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecidos del Perú – ANFASEP) wurde 1983 von Angélica Mendoza de Arcaza, Teodosia Cuya Layme und Antonia Zaga Huaña in Ayacucho gegründet. Diese Frauen trafen sich auf der Suche nach ihren Angehörigen vor der Militärkaserne Los Cabitos. Weil sie ihre kleinen Kinder ernähren mussten, gründeten sie eine Volksküche (comedor popular). Heute ist ANFASEP vierzig Jahre alt und die wichtigste und älteste Opferorganisation des Landes. Sie vereinigt hunderte Frauen und Männer. Was ANFASEP auszeichnet, ist die Beständigkeit und Beharrlichkeit des Kampfes.

In Puno initiierte Raúl Samillán zusammen mit anderen Angehörigen eine Vereinigung der Opfer von Juliaca. Er ist Bruder des Arztes, der in der Nähe des Flughafens von Juliaca getötet wurde, als er einem Verwundeten zu Hilfe kommen wollte. Dieser Gruppe schloss sich Dominga Hancco an, die Mutter der Psychologiestudentin , die gleichfalls in Puno umgekommen ist. Von Puno aus starteten die ersten Delegationen nach Lima, um den Protest in die Hauptstadt zu tragen. Auch aus Cusco kamen Delegationen in die Hauptstadt. In Lima selbst sammelten sich viele Menschen auf den Plätzen und in den Parks, um die aus der Provinz Angereisten zu beherbergen und zu verköstigen.

Die Hauptstadtpresse stellte „mit Überraschung” fest, dass bei den Protesten Ende 2022 viele Frauen beteiligt waren, und stellte das als eine „Neuheit” hin. Aber eigentlich gibt es dafür eine historische Kontinuität.

Im Gedenken an die Brutalität, mit der Bartolina Sisa am 5. September 1782 ermordet wurde, ist dieses Datum heute international den indigenen Frauen gewidmet. Bartolina Sisa war Weberin und hat mit Kokablättern gehandelt. Zusammen mit ihrem Mann, Tupac Katari, führte sie im südlichen Hochland Aufstände gegen die spanische Krone an. Sie starb grausam: An den Schwanz eines Pferdes gebunden wurde sie zu Tode geschleift. Ihre Überreste wurden an Orten, an denen sie gekämpft hatte, aufgespießt. Die spanische Krone wollte an Bartolina eine exemplarische Bestrafung vollziehen, die indigenen Frauen und Männer sollten damit diszipliniert werden. Ein Jahr vor ihrer Hinrichtung, im Jahr 1781, ließ man Micaela Bastidas, die Frau von Túpac Amaru II, auf dem öffentlichen Platz von Cusco einen langsamen und schrecklichen Tod sterben. Laut Berichten hatte sie die große Rebellion unterstützt. Die Micaelas und Bartolinas füllen Seiten und repräsentieren die vielen Frauen, die bei Erhebungen vor der Unabhängigkeit Perus im Jahr 1821 mitgemischt haben.

Indigene Subjekte – unsichtbar gemacht, versteckt, geleugnet, exotisiert

Aber mit der Unabhängigkeit war es mit der Partizipation von Frauen nicht vorbei. Wie Mercedes Crisóstomo berichtet, gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gruppe Frauen, die als „indigene Botinnen” bezeichnet wurden: María de la Paz Chanini, Nicasia Yabar und Rosalía Larico. Ähnlich wie heute reisten diese von ihren Landgemeinden in Puno aus nach Lima, um ihre Gesuche dem Staat zu unterbreiten, und dies, obwohl sie nahezu Analphabetinnen waren und nur rudimentär Spanisch sprachen. Sie reklamierten die ungerechte Rekrutierung der Männer, den Missbrauch der lokalen Behörden und das Usurpieren ihrer Ländereien. Sie wurden zu Ikonen der indigenistischen Bewegung.

Die Frauen kämpften immer mit oder ohne Männer an ihrer Seite. Jedoch ist es mühsam, in Zeitungen oder historischen Schriften etwas über ihren Kampf und ihre Teilhabe an den sozialen Bewegungen zu erfahren. Dass und wie sich Frauen an sozialen Protesten in Peru beteilig(t)en, wird unsichtbar gemacht, versteckt oder geleugnet. Indigene Frauen und Kleinbäuerinnen sind Rassismus und Ungleichheit ausgesetzt, was diskriminierend wirkt und sie gewaltsamen Machtbeziehungen unterwirft. Neben der Leugnung wird die Partizipation von Frauen zuweilen auch exotisiert. So werden im Fall von Bartolina Sisa deren wilder Charakter und ihre kriegerische Veranlagung herausgestellt, so als ob sie keine Gefühle oder Angst gehabt haben könnte.

Diese engagierten Frauen stellen die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, in Frage. Wenn sie als indigene Subjekte an Politik teilhaben, definieren sie deren Bezugspunkte und die Bedeutung ihrer Teilhabe um. Sobald die Frauen ihre Stimmen erheben, verändern sie auch die Form der Politik. Sie führen andere Elemente und Themen ein, wie die Sorgearbeit, das Kollektiv und die Gemeinde. Sie haben ihre kleinen Kinder dabei und kochen auf der Straße. Sie haben alles an ihren Heimatorten zurückgelassen, um von einer anderen Frau – Dina BoluARTE – einzufordern, dem Missbrauch, den Ermordungen und der Gefühllosigkeit ein Ende zu setzen. Sie fordern von der Präsidentin, allgemeine Wahlen einzuberufen und mit einer neuen Magna Charta die Bande zwischen Staat und Gesellschaft wiederherzustellen.

Die Autorin lehrt an der Katholischen Universität von Peru im Bereich Sozialwissenschaften. Übersetzung: Bettina Reis. dieser Betrag ist eine Übernahme aus ila 469 Okt. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über María Eugenia Ulfe / ILA:

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