Zwischen Würze, Vielfalt und Unbehagen – Die peruanische Küche und ihre Wertschätzung
Zwei Dinge sind unbestreitbar: das Ausmaß der Armut, unter der viele Peruaner*innen heute leiden, und die Anerkennung, die die peruanische Küche und Gastronomie in den letzten Jahrzehnten erlangt hat. Es ist wichtig, dass wir uns darüber im Klaren sind, was gemeint ist, wenn heute von der „peruanischen Küche“ gesprochen und diese gerühmt wird. Die Rede ist von der Gastronomie, ihren Merkmalen, ihren Unterschieden und davon, wie sie sich an die Spitze der Konstruktion einer sogenannten „peruanischen Identität“ gesetzt und wie sie regionale, nationale und internationale Grenzen überschritten hat, um sich neben den berühmten und weltweit anerkannten Küchen zu behaupten. Dieses gastronomische und kulinarische Phänomen hat heute großen gesellschaftlichen Einfluss auf Politik und Wirtschaft, aber auch auf pädagogische, soziale und kulturelle Bereiche, etwa auf gesellschaftliche Aufstiegsträume.
Wovon sprechen wir, wenn wir über den Erfolg der peruanischen Küche und Gastronomie sprechen? Der Diskurs, der vor einigen Jahren von der Tourismuswerbung und -politik geprägt wurde und bis heute anhält, hebt den Reichtum der peruanischen Küche vor allem aufgrund zweier Elemente hervor, der kulturellen und der biologischen Vielfalt.
Indigene Einflüsse werden “vergessen”
Die kulturelle Vielfalt Perus beruht auf der Verschmelzung von spanischen, afrikanischen, italienischen, japanischen und chinesischen Einflüssen. Dagegen werden die prägenden indigenen Einflüsse in vielen Publikationen und Diskursen „vergessen.“ Neben der kulturellen Vielfalt unserer Bevölkerung bringt unsere große biologische Vielfalt, die auf unseren Meeren, unseren Flüssen sowie der rauen und einzigartigen geografischen Beschaffenheit unseres Landes beruht, einzigartige Produkte hervor, die an der Küste, in den Bergen und im Dschungel angebaut werden und unsere Vorratskammer mit hochwertigen Zutaten versorgen.
Es ist vielleicht das Element der kulturellen Vielfalt, das im offiziellen Diskurs und in der nationalen Vorstellungswelt am stärksten verankert ist und diese kulturelle Aneignung, die den Nationalstolz erzeugt, beeinflusst hat. Als Beispiel sei hier der chinesische Einfluss und seine starke Präsenz in Peru durch die sogenannten „Chifas“ genannt.
Die chinesische Einwanderung nach Peru begann mit kleinen Migrationswellen zu Beginn des Vizekönigreichs, aber erst 1849 kamen die sogenannten „culíes“ in größerer Zahl an, die zur mühsamen Arbeit, oft als Sklaven, in der Landwirtschaft und beim Abbau von Guano auf den Inseln vor der peruanischen Küste angeheuert wurden. Aus dieser Migrationswelle entstanden die sogenannten „fondas chinas“, die anfangs von der Oberschicht verschmäht wurden, Esslokale, die später als „chifas“ bekannt wurden. Man könnte sie als Restaurants bezeichnen, in denen Gerichte mit deutlichem chinesischem Einfluss zubereitet wurden, die hauptsächlich aus der Region Kanton stammten, aber peruanische Merkmale aufwiesen, eine Fusionsküche im wahrsten Sinne des Wortes.
“Chinatown”
Die Bedeutung dieser Küche geht über rein gastronomische Gesichtspunkte hinaus. Peru ist eines der Länder mit den meisten chinesischen Einwanderer*innen in Lateinamerika, es hat eine der größten „Chinatowns“ (bekannt als Capón im Zentrum von Lima) in der Region, und nach Angaben der Handelskammer von Lima eröffnen jedes Jahr mehr als 10000 neue Chifas in Peru, was einen großen Einfluss auf die Wirtschaft hat.
Es gibt Chifas für jeden Geschmack, angefangen bei denen, die an einer Straßenecke im Arbeiter*innenviertel liegen, bis hin zu solchen mit langer Tradition und viel Luxus. Einer Erhebung aus dem Jahr 2020 zufolge konsumieren 35 Prozent der Peruaner*innen täglich eine Chifa-Mahlzeit. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es keine Familie gibt, die nicht eine Lieblings-Chifa hat, in die sie regelmäßig geht. Chifas sind also ein Motor der Wirtschaft, ein Beispiel für den historischen Prozess der Verschmelzung von Küchen, Produkten und Geschmäcken, aber gleichzeitig auch ein Familienessen, ein Trostessen, das uns in unsere Kindheit zurückversetzt, zu unseren Festen und, wenn wir weg sind, zu den Erinnerungen und der Sehnsucht nach Chifa-Sonntagen mit der Familie. Was könnte stärker sein als das?
Immaterielles Kulturerbe
Diese persönlichen Beziehungen, die durch die Küche entstehen, haben die Idee der peruanischen Küche als Markenzeichen und Identitätsmerkmal gestärkt, weshalb sie zum nationalen Erbe erklärt wurde. Wie das Beispiel der Chifa zeigt, gehört die Küche zu den Praktiken, Traditionen und Bedeutungen, die über das rein Kulinarische hinausgehen. Deshalb wurden verschiedene Gerichte, Produkte und kulturelle Ausdrucksformen, die mit der traditionellen Küche verbunden sind, in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Nation aufgenommen. Die lokale und regionale Küche ist Teil wichtiger nationaler Messen und Festivals, die rund um sie und ihre Vorzeigeprodukte organisiert werden; sie hat ihr eigenes Museum, die „Casa de la Gastronomía Peruana“ (Das Haus der peruanischen Gastronomie), und ihren eigenen Feiertag im September.
Dieser Erfolg auf gesellschaftlicher Ebene hat sich auch auf den Bildungsbereich ausgewirkt. Es gibt auf nationaler Ebene mehrere gastronomische Institute und Schulen, die zu Fakultäten von Universitäten gehören.
Eine der bekanntesten Schulen wurde 2007 von Gastón Acurio über die Stiftung Pachacútec gegründet. Sie wird von bedeutenden Chefköchen wie dem Katalanen Ferrán Adriá unterstützt. Adriá ist der Ansicht, dass die peruanische Küche ein wichtiges Medium ist, um durch die Ausbildung junger Menschen aus einkommensschwachen Familien, die sich für eine Zukunft in der peruanischen Küche und Gastronomie entscheiden, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Dies ist auch das erklärte Ziel der Stiftung.
Die sozialwissenschaftliche und historische (etc.) Erforschung der Küche ist sehr ergiebig, mit einer beachtlichen Bibliographie, von der mehrere Bücher mit dem Gourmand World Cookbook Award ausgezeichnet wurden. Sie sind auf internationaler Ebene anerkannt und gelten als Referenzen für die Erforschung anderer Küchen und Gastronomien, die sich am Beispiel der peruanischen Küche orientieren.
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat die peruanische Küche zum Amerikanischen Kulturerbe erklärt. Die Gastronomie ist auch ein wichtiger Bestandteil der Kulturdiplomatie, die von der peruanischen Regierung im Rahmen ihrer Außenpolitik gefördert wird.
“Picanterías”
Die Stadt Arequipa im südlichen Hochland Perus, die für ihre typischen Restaurants, die so genannten „Picanterías“, und für eine der vielfältigsten regionalen Küchen des Landes bekannt ist, erhielt 2020 die Anerkennung als „UNESCO Creative City of Gastronomy“ und reiht sich damit in die Liste der Städte ein, die sich international durch ihre Kreativität und ihren Einfluss im kulinarischen Bereich auszeichnen.
Im Juni 2023 wurde das von Virgilio Martínez und Pía León geleitete Restaurant „Central“ in Lima als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet, drei weitere peruanische Restaurants wurden zeitgleich in die Liste der 50 besten Restaurants der Welt aufgenommen.
Bei dieser Internationalisierung, man könnte auch sagen, der lokalen Aneignung der peruanischen Küche und Gastronomie, spielt die Figur von Gastón Acurio nach wie vor eine herausragende Rolle. Die Rede, die er zur Eröffnung des akademischen Jahres 2006 an einer Universität in Lima hielt, könnte als Manifest dessen gelten, was die peruanische Gastronomie und Küche ist und sein soll. Fortwährend ist Acurio an den Erfolgen vieler junger Köch*innen wie Martínez beteiligt, die irgendwann in seinen Restaurants arbeiteten oder ihn bei verschiedenen Initiativen wie dem inzwischen aufgelösten peruanischen Gastronomieverband, der Mistura-Messe usw. begleiteten. Die Eröffnungen von Ablegern seiner Restaurants in der ganzen Welt sowie sein besonderes Engagement für die lokalen Erzeuger*innen machen ihn weiterhin zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Motivation dessen, was Küche und Gastronomie noch zu bieten haben.
Eine der größten Herausforderungen ist vielleicht die Aufnahme der peruanischen Küche oder der ihr zugehörigen kulinarischen Ausdrucksformen in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Seit mehreren Jahren gibt es Verfahren mit Höhen und Tiefen, aber es scheint, dass sie mit dem Aufnahmeantrag der „Praktiken und Bedeutungen im Zusammenhang mit der Zubereitung und dem Verzehr von Ceviche (sehr schmackhaftes Gericht, für das roher Fisch und Meeresfrüchte nur mit Limonensaft gegart werden – die Red.), einem Ausdruck der traditionellen peruanischen Küche“ einen Abschluss finden. Im Dezember 2023 wird auf der UNESCO-Expert*innentagung über den Antrag entschieden.
So haben wir auf der einen Seite den Stolz auf unsere „Identität“, die zum Beispiel in dem oben erwähnten Antrag als „ein kohäsiver kultureller Ausdruck, der in signifikanter Weise zur Konsolidierung der nationalen Identität beiträgt“ (1), bestätigt wird, wodurch der Stolz auf die Fusion und die gesellschaftliche Diversität und Vermischung verstärkt wird. Hinzu kommt unsere biologische Vielfalt, die von der rohstoffgewinnenden Industrie paradoxerweise ständig angegriffen wird, obwohl die aus ihr hervorgehenden Produkte die Grundlage für die Zubereitung der Gerichte bilden, die die Welt erobert haben und die Teil einer ständigen Debatte über Würze und Unbehagen sind.
Natürlich gibt es auch Kritik an dem peruanischen Gastronomieboom. Die konzentriert sich im Allgemeinen auf die hohen Preise der renommiertesten Restaurants, auf die Sichtbarkeit der Hauptakteur*innen dieser Bewegung, die der oberen Gesellschaftsschicht angehören und die Möglichkeit haben, im Ausland zu studieren, und auf die Tatsache, dass die Gewinne aus diesem Erfolg nicht bei denen ankommen, bei denen sie eigentlich ankommen sollten, bei den Erzeuger*innen der Produkte, die für die Zubereitung der Gerichte verwendet werden, die die ganze Welt in ihren Bann gezogen haben. Ich glaube, dass alle diese Standpunkte berechtigt sind. Aber ich glaube auch, dass in der Debatte über Pro und Contra dieser Standpunkte Aspekte verloren gehen, die berücksichtigt und verfolgt werden sollten.
Es ist unbestreitbar, dass die Küche und die Gastronomie einen Aneignungsprozess in Gang gesetzt haben, der die Vorstellungskraft der peruanischen Männer und Frauen stark beeinflusst hat, die sie sich zu eigen gemacht und zu einem Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer Kultur gemacht haben. Es handelt sich jedoch um einen paradoxen Prozess, bei dem einige wichtige Elemente nicht berücksichtigt werden.
Andiner Einfluss auf Lima
Während die Worte „Mestizaje“ und „Vielfalt“ die Grundlage unseres nationalen Erbes bilden, sind es Worte, die in anderen gesellschaftlichen und politischen Bereichen Perus Probleme verursachen. Ein weiterer entscheidender Punkt, der in dieser Vorstellung vom Reichtum der Fusion oder der Mischung vergessen wird, oder besser gesagt, dem nicht viel Bedeutung beigemessen wird, ist die wichtige Rolle der traditionellen und lokalen Küchen, nicht nur historisch, sondern auch heute.
Wir vergessen, dass Lima (das als gastronomische Hauptstadt Lateinamerikas gilt und viele der besten Restaurants der Welt beherbergt) nicht nur eine Küstenstadt ist. Das gleichnamige Departamento, zu dem Lima gehört, erstreckt sich geografisch bis in das zentrale Hochland. Aufgrund der Binnenmigration, ausgelöst durch den Zentralismus der peruanischen Regierung, den internen bewaffneten Konflikt sowie die mangelnden Chancen und Perspektiven in den von der Hauptstadt entfernten Gebieten, gibt es einen starken andinen Einfluss in der Hauptstadt. Der kulturelle Austausch ebenso wie der von Waren besteht seit langem und ist bis heute latent existent. Diese Tatsache wird jedoch im öffentlichen Diskurs nicht klar berücksichtigt oder herausgearbeitet. Die Präsenz des Hochlands, nicht nur bei der Zubereitung von Speisen, sondern auch bei der Verwendung von anderen andinen Importprodukten des Binnenmarkts im kosmopolitischen Lima, muss in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.
Sicherlich gibt es noch viel zu tun. Aber wir müssen erkennen, dass nur wenige Dinge die Peruaner*innen so stark verbinden wie die Küche. Vielleicht ist dies unser Ausgangspunkt, um eine bessere, gleichberechtigte und gerechte Zukunft für alle zu schaffen.
Übersetzung: Simon Hirzel
(1) Beschluss des Direktoriums des Nationalen Kulturinstituts von Peru (2007).
Adriana Arista Zerga ist Assistenzprofessorin am Department of Modern Languages and Cultures an der School of Cultures, Languages and Area Studies der University of Nottingham. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 469 Okt. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
Letzte Kommentare