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Reinwaschversuche

Deutsch-Südwest-Lobby attackiert eine fehlerhafte Dokumentation des NDR

Ich habe mir ”Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord” (2 Jahre verfügbar) angeschaut. Die ursprüngliche Doku vom 25. September 2023 – mittlerweile ist sie in überarbeiteter Form abrufbar – bot einige formale Angriffsflächen, die es den Verharmlosern der deutschen Kolonialpolitik in Deutsch-Südwestafrika und Verteidigern des verunglückten, auf Eis gelegten deutsch-namibischen Versöhnungsabkommens leicht machten. In einem Offenen Brief an den NDR – veröffentlicht in der Berliner Zeitung am 28. Oktober 2023 – hatten der ehemalige deutsche Botschafter in Namibia Christian M. Schlaga und zahlreiche Vertreter und Personen aus Politik, Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und Namibia gegen zahlreiche Fehler dieser Doku protestiert und deren Korrektur vor einer weiteren Präsentation in der Mediathek der ARD verlangt.

Ein Offener Brief

Der Offene Brief kritisierte etwa mit Recht

a) die Bezeichnung “Deutsche” in Namibia (ist seit 1990 durch “Deutschnamibier” oder “deutschstämmige Namibier” oder “Namibier deutscher Sprache” ersetzt worden), oder

b) den Namen der deutschen lutherischen Kirche in Namibia, oder

c) die Angabe zu den Landbesitzverhältnissen (nicht “70% des Landes gehören immer noch den Weißen”, sondern mittlerweile etwas weniger als 70% des Farmlandes gehören den Weißen).

Diese Schlampereien waren ärgerlich, da die generelle Tendenz des Films sehr gut ist und vielen Reinwaschversuchen des Offenen Briefs entgegensteht.

Ex-Botschafter Schlaga und die Mitunterzeichner behaupten etwa,

a) die deutschen Kolonialisten hätten nicht Diamanten, Uran und Zink gesucht (diese Suche hätte nach der Kolonialzeit eingesetzt bzw. die nach Diamanten erst ab 1908), wobei dies für Uran und Zink zutrifft, bzgl. Diamanten jedoch eine grobe Verzerrung ist, denn bei diesem Rohstoff gab es ab 1908 einen furiosen Riesenboom der Förderung, Steuereinnahmen, Einrichtung von Sperrgebieten etc.; oder

b) es gebe keine Kausalität zwischen deutscher Kolonialzeit und heutiger Armut, wobei sie die massiven Landkäufe, -Vertreibungen und -Entrechtungen der Herero und Nama durch die Deutsche Kolonialgesellschaft mit Deckung des Kaiserreichs verschweigen, durch die diesen Bevölkerungsgruppen die Lebensgrundlagen entzogen worden sind und die bis heute nachwirken.

In der Summe läuft der Offene Brief auf den Versuch hinaus, sowohl eine erhebliche Schuld an den Verwerfungen der Kolonialzeit auf die folgende südafrikanische Besatzungszeit (das britische C-Mandat des Völkerbunds wurde auf Südafrika übertragen) und die heutige unabhängige namibische Regierung abzuwälzen, als auch die Verantwortung für das festgefahrene Versöhnungsabkommen der deutschen und namibischen Regierungen allein auf Letztere abzuschieben. Auf die Grundsatzkritik des namibischen Parlaments und der Herero- und Nama-Verbände an diesem Abkommen, die sich an beide Regierungen richtet (keine angemessene Einbeziehung der Betroffenen-Verbände, keine Entschädigung etc.), geht der Offene Brief dabei überhaupt nicht ein.

Die locker-flockige Machart des Films, inkl. Model-Kult-Präsentation von Aminata Belli (= “Presenter-Reportage”) ist nicht meine Wellenlänge, okay, aber das ist Geschmackssache.

Fragen stellen sich an die vier mitproduzierenden ARD-Anstalten NDR, SWR, MDR und RBB: haben sie Qualitätskontrollen bei der Ausbildung (oder Ausbeutung?) von Jungtalenten ganz aufgegeben? Oder war jeweils der “andere” Sender zuständig? Muss alles ins Presenter-Format gepresst werden, auch wenn es nicht passt?

Die Autorin war von 1975-1990 Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied der bundesdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung. Und damit 1976-78 Chefin des Extradienst-Herausgebers und damaligen Zivildienstleistenden.

Über Ingeborg Wick / Gastautorin:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Kommentar unseres Lesers Rudolf Schwinn, mit der Erlaubnis der Veröffentlichung übersandt:

    Liebe Ingeborg Wick,

    mit Ihren abschliessenden Fragen sprechen Sie meines Erachtens ein fundamentales Problem des Journalismus an: Der Mangel an Zeit sowie an grundlegendem Wissen sorgt dafür, dass im Umgang mit Ereignissen der gebotene Auftrag in der journalistischen Arbeit, deren Wesen und deren Bedeutung aufzuklären, kaum noch wahrgenommen wird. Wie treffend, dass Sie in der bewussten Angelegenheit mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen Nachhilfe leisten und zugleich ein exemplarisches Defizit offenlegen. Ich teile Ihre Forderung: Die Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen es als ihren Auftrag erkennen, den beklagten Zuständen entschlossen entgegenzuwirken.

    Mit guten Grüssen,
    rudolf schwinn.

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