Sie hatten sich komfortabel eingerichtet, die Grünen “Realos” in Hessen. Sie dachten, an der Seite der CDU seien sie nahezu unverzichtbar. Doch Friedrich Merz und seine Paladine haben in einer Zeit, in der die rechtsexteme AfD sich immer weiter radikalisiert, nicht nur deren Thema und rechte Hetze zur Migration übernommen. Sie haben auch nicht die AfD, sondern die Grünen zu ihrem “Hauptfeind” erklärt. Seit Monaten läuft angeführt von BILD-Zeitung und rechten Medien nebst konservativer Journalistenblase in Berlin die Lügenkampagne gegen die angebliche “Verbotspartei” Grüne.  Und die?

Gerade die hessischen Grünen haben sich in den vergangenen zehn Jahren nicht nur handzahm und jederzeit kooperativ gezeigt. Sie haben in einer Art Regierungsbesoffenheit jeden nur denkbaren Mist mitgemacht. Wer erinnert sich nicht an die mangelnde Aufklärungsbereitschaft der hessischen Grünen im Zusammenhang mit den NSU-Morden? Zweifelhafte Verfassungsschutzakten für 120 Jahre gesperrt durch eine Regierung unter Grüner Beteiligung-Hallo? Rechtsextremistische Exzesse und Bedrohungen bei der hessischen Polizei – wo waren da die Grünen eigentlich? In der Regierung wurden sie nicht bemerkt. Dafür umso mehr bei der Durchsetzung eines als überflüssig betrachteten Stücks Autobahn 49 im Jahr 2020. Was Lützerath für die Umweltbewegung in NRW, war der Dannenröder Wald östlich von Marburg. Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir liess eine 300 Jahre Eiche fällen – das zeigt, wie geschmeidig die hessischen Grünen sein können. Aber es blieb nicht dabei, Im Wahljahr 2023 war es die BAB 66 und der Fechenheimer Wald. War da nicht noch ein Terminal des Frankfurter Flughafens, das die Grünen im Wahlkampf vor fünf Jahren vehement abgelehnt hatte, das aber dann doch kam und zu dessen Einweihung Al-Wazir nicht kommen wollte? Bei soviel Überwindungsbereitschaft  gegenüber der eigenen Partei-DNA  müssen die Hessengrünen nun feststellen, dass fast alles mitzumachen und Flughafenterminals einzuweihen die Grünen nicht entscheidend weiterbringt.

Nicht Fleisch nicht Fisch in der Flüchtlingspolitik

Es sind zaghafte Töne von Britta Hasselmann, der Demokratie-Verteidigerin und Katharina Dröge, die vorsichtig Skepsis gegen das flüchtlingspolitische Placebo-Paket der Bundesregierung angemeldet haben, und auf die rechtsstaatlichen Risiken der unerträglichen Pläne hinwiesen, Asylentscheidungen exterritorial außerhalb der EU zu treffen und sie in die Hände inakzeptabler Regime wie Tunesien, Marokko, Libyen, oder Albanien zu legen. Aber Robert Habeck und Annalena Baerbock schweigen derzeit zur Asylkampagne, die von AfD über CDU/CSU bis zu Wagenknecht – und wieder BILD, FAZ, NZZ – aber auch dem “Spiegel” mit Ideologie statt mit realen Zahlen geführt wird. Trotz offensichtlichem Opportunismus  gegenüber rechts und der absehbaren Wirkungslosigkeit der beschlossenen und darüber hinaus geforderten Maßnahmen, tragen die Grünen nicht mehr als zaghafte rechtstaatliche Bedenken vor.

Stillstand und Rückschritt sehen die Grünen zu

Die absehbaren Ziele von Teilen der Wirtschaft, BILD und CDU/CSU, die Grünen zu diskreditieren und damit die zaghaft angegangene Energiewende zu verhindern und das Rad der Geschichte zurückzudrehen, vielleicht gar Deutschland in die Reihe der Klimaleugner und -ignoranten zurück zu führen, wird bis heute von den Grünen nicht als Gefahr erkannt.

Ob es die trotz des feststellbaren Imageverlustes in den Medien fast betoniert stabilen Wahlergebnisse der Grünen sein mögen oder die mangelnde Fähigkeit, respektive Bereitschaft, im Koalitionspartner FDP den böswilligen Konkurrenten zu sehen (Habeck versus Lindner) und daraus strategische Konsequenzen zu ziehen – Ricarda Lang – zu jung an Lebenserfahrung – und Omid Nouripour – zu gutgläubig und in basisorientierten Kampagnen und Bündnissen unerfahren  –  um die Partei als gesellschaftliches Instrument einzusetzen, wie auch die sozialen Bewegungen oder NGO. Die alleinige Fixierung der Grünen auf die Parlamente, die  in der Einbindung der Parteivorsitzenden in die Bundestagsfraktion gipfelt, verhindert eine wirkungsvolle Strategie, die aufzeigen könnte, dass die Grünen nicht nur aus Ja-Sagern zu Kompromissen bestehen. (A)soziale Medien ersetzen eben mitnichten gesellschaftliche Bündnispartner und Bewegungen.

Opa Kretschmanns Haltung kontraproduktiv

Ich muss bekennen, dass ich eigentlich ein Kretschmann-Fan bin. Er hat es auf geniale, im besten Sinne volksnahe Weise bisher verstanden, im einst erzkonservativen Baden-Württemberg die CDU einzuhegen, die SPD zu marginalisieren und die FDP zu ignorieren. Aber seine Parteiergreifung im Asylstreit der vergangenen Woche war grundfalsch, weil sie Merz, Linnemann und ihrer infamen Strategie, die Grünen zum GESELLSCHAFTLICHEN Erzfeind zu erklären, keinen Einhalt geboten sondern ihn gefördert hat. Es geht Merz schon lange nicht mehr darum, konservative Politik zu vertreten, sondern die Grünen zu diskreditieren, wo es möglich ist. Kretschmann wäre der Kronzeuge, der Merz dabei in die Schranken weisen könnte, denn er macht mehr CDU-Politik, ist unabhängiger von den Bundesgrünen als irgendjemand. Dass er sich in dem dümmlichen, parteipolitisch motivierten Gequengel der CDU-Länder und von Merz hat instrumentalisieren lassen,  ist ein schwerer politischer Fehler, der sich für die Grünen im Verlust der Mehrheitsfähigkeit rächen wird.

Die Grünen haben keinen Plan und verdienen sich Minderheit und Opposition

Strategisches Denken war noch nie eine Stärke der Grünen. Wir erinnern uns an die Klima-Raupe 1990, als alle Welt über die deutsche Einheit und ihre Bedingungen stritt. Dass es keine Diskussion über eine neue, gemeinsame Verfassung gab, sondern der Anschluss nach Artikel 23 erfolgte, war nicht zuletzt dieser grünen strategischen Unfähigkeit zu verdanken. 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt – beste Gelegenheit über die Errungenschaften des Grundgesetzes, zu denen neben  den Artikeln der Menschenwürde, der Gleichberechtigung, des sozialen Bundesstaats auch das individuelle Asylrecht und die Rechtswegsgarantie für Jedermann gegen staatliche Gewalt, das Recht auf Wohnung, Arbeit und die Sozialbindung des Eigentums gehören – allein eine solche, im Kern so konservative wie moderne Kampagne könnte eine Erzählung sein, mit der die Grünen das Versagen der SPD, CDU/CSU und FDP und ihrer politischen Rezepte aufzeigen könnten.  Stattdessen lassen sie sich zu Buhleuten der Energiewende und ewigen Bürokraten hinstellen. Obwohl es doch SPD und CDU sind – und damit kommen wir wieder in Hessen an – die für Stillstand, Verzögerung der Energiwende, Torpedierung der Modernisierung und Verschleppung des Fachkräftemangels stehen.

Jammern über Antisemitismus und Nachgeben gegenüber der AfD

Hinzu kommt das fahrlässige, bis vorsätzliche Einknicken der CDU/CSU, FDP und Teilen der SPD vor der fremdenfeindlichen und homophoben politischen und (a)sozialen Kampagne der AfD. Ähnlich wie in den 90er Jahren lassen sich die Parteien der rechten Mitte von den Rechtsextremisten am Nasenring durch die Manege ziehen. Einer Partei, die in Thüringen und Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistisch gilt, ebenso wie ihre Jugendorganisation “Junge Alternative” bundesweit. Eine PArtei, deren “Ehrenvorsitzender” ‘Gauland den Holocaust als “Fliegenschiss” der deutschen Geschichte verharmlost hat und sich derzeit heuchlerisch und unglaubwürdig teilweise an die Seite von Israel stellt.

Strategie der CDU/CSU gegen rechts mehr als unglaubwürdig

Anstatt die größte Gefahr für die Demokratie seit 1949, die AfD, wirksam und argumentativ zu bekämpfen, erklärt die CDU/CSU die Grünen zu ihrem ideologischen Feindbild. Sie handelt damit im Prinzip nach dem Vorbild der “Harzburger Front” konservativer und reaktionärer Kräfte in der Weimarer Republik, als DVP, DNVP, rechte Industrievertreter und Hugenberg als Zeitungsmonopolist den Schulterschluss mit der NSDAP suchten und die Verteidiger der Demokratie, SPD, DDP und Zentrum – eine der heutigen Ampel gar nicht unähnliche Konstellation  – bekämpften.  Die Folgen sind bekannt.

Ironie der Geschichte: 1933- damals musste die KPD noch von den Rechten verboten werden, um eine Mehrheit im Reichstag zu erschwindeln – heute zerlegt sich die “Linke” selbst und freiwillig.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net