Erlebte Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti)demokratische Einstellungen

Vorwort

„AfD bei 35 Prozent!“ – hohe Umfragewerte irritierten Anfang September 2023 Teile der Medien und sorgten bei Beobachter*innen für ungläubiges Staunen. Zehn Monate vor der Europawahl und ein Jahr vor drei Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern lag die extrem rechte Partei erstmals bei regionalen Umfragen an der Spitze – und sofort diskutierten Politik und Öffentlichkeit über Ursachen, Folgen und Reaktion der demokratischen Parteien. Von konkreten Vorschlägen (keine Kürzungen bei politischer Bildung) über erschreckend hilflose Beiträge (Regierungspolitik besser erklären) bis zu populistischen Ideen (rechte Themen – Stichwort „zu hohe Flüchtlingszahlen“ – aufgreifen) fand sich vieles in der Debatte. Weitgehend ausgespart blieb jedoch, wieder einmal, der Bereich, der für die Mehrheit der Bevölkerung den Großteil der Lebenszeit bestimmt: die Wirtschaft bzw. der eigene Arbeitsplatz. Dabei gehört es zur Grundannahme der modernen Sozialforschung, dass die Positionierung eines Menschen in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft und seine tagtäglich gemachten Erfahrungen am Arbeitsplatz die grundsätzliche Sicht auf Politik und Gesellschaft beeinflusst.

Die Otto Brenner Stiftung hat mit Johannes Kiess und seinem Team am Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) in Sachsen engagierte Forscher*innen zur Bearbeitung der Frage gewonnen, welche Beteiligungserfahrungen am Arbeitsplatz ostdeutsche Beschäftigte machen und wie sich diese auf die politischen Einstellungen auswirken. Die renommierten Wissenschaftler*innen erörtern auch, welche Faktoren diese Erfahrungen beeinflussen.

Es ist erfreulich, dass sich in ihrer repräsentativen Erhebung frühere Ergebnisse bundesweiter Untersuchungen bestätigen: Mit positiven Erfahrungen demokratischer Handlungsfähigkeit in der Arbeitswelt sinkt die Zustimmung zu extrem rechten Aussagen deutlich, während Beteiligungs- und Partizipationserleben zugleich das Vertrauen in die Demokratie und die eigene politische Handlungsfähigkeit stärken. Umso problematischer ist, dass laut der Studie knapp ein Fünftel der ostdeutschen Beschäftigten keine Möglichkeit sieht, durch eigenes Engagement die Strukturen im Betrieb zum Positiven zu verändern. Darüber hinaus fühlt sich rund jede*r Siebte bei Entscheidungen im Arbeitsalltag übergangen. In Sachsen und Thüringen sind positive Erfahrungen von Handlungsfähigkeit noch weniger verbreitet als in den anderen ostdeutschen Bundesländern.

Neuland betreten die Autor*innen mit dieser Studie, weil sie erstmals den Zusammenhang zwischen subjektiven Beteiligungserleben und der bloßen Existenz von Mitbestimmungsinstitutionen, wie Betriebsräten und Gewerkschaften, erheben. Ergebnis: Statistisch messbar erhöhen diese die subjektiv erfahrene Handlungsfähigkeit am Arbeitsplatz. So glauben gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer*innen deutlich öfter an positive Veränderungsmöglichkeiten im Betrieb als ihre nicht organisierten Kolleg*innen.

Eindrücklich weisen die Ergebnisse der Untersuchung damit nach, dass Mitbestimmung und Beteiligung im Wirtschaftsleben als direkter Einsatz für die Demokratie verstanden werden müssen. Es wird auch an diesen Effekten liegen, dass rechte und rechtsextreme Kräfte wie die AfD Fragen der Mitsprache am Arbeitsplatz konsequent ausblenden. Während sich die Partei, insbesondere die in Ostdeutschland starke völkische Parteiströmung, im Einklang mit anderen extremen Rechtsparteien in Europa auf verteilungs- und ordnungspolitischer Ebene hin und wieder zu wahltaktisch motivierten Aussagen im Arbeitnehmer*inneninteresse herablässt (Stichwort: Beibehaltung des Mindestlohns und Stärkung der umlagefinanzierten Rente), spielen unabhängige Gewerkschaften für sie keine Rolle. Das hat systematische Gründe. Eine eigenständige und unabhängige betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung läuft dem „unmittelbaren […] Anspruch auf politische Vertretung“ der extrem Rechten zuwider, der es stets darum geht „die gesellschaftliche Rolle und Legitimität von intermediären Organisationen [wie Gewerkschaften] infrage zu stellen und zu beschneiden“, wie eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2020 konstatiert. Dass die gesellschaftliche Organisation von Arbeit von großer Bedeutung für die Widerstandskraft einer Gesellschaft gegenüber autoritären Politikentwürfen ist, wusste aus leidvoller historischer Erfahrung bereits der Namensgeber unserer Stiftung. So konstatierte Otto Brenner 1959, dass „[d]ie politische Demokratie allein […] nicht imstande [ist], eine demokratische Ordnung der Gesellschaft zu gewährleisten“ – und durch eine Demokratisierung aller Lebensbereiche, und hier insbesondere der Wirtschaft, flankiert werden muss.

Eine Politik, aber auch eine Öffentlichkeit, die den Kampf gegen die extreme Rechte und für die Demokratie auch abseits aufsehenerregender Wahlumfragen ernst nimmt, ist also aufgefordert, diese Zusammenhänge zu verinnerlichen – und den Ausbau der institutionellen Mitbestimmungsmöglichkeiten konkret zu fördern. Gewerkschaften und Betriebsräte hingegen sind gut beraten, aus Möglichkeiten der Mitbestimmung noch stärker als bisher reale Beteiligungserfahrungen zu machen.

5 Zusammenfassung und Diskussion

In diesem Arbeitsheft sind wir der Frage nachgegangen, inwiefern positive Erfahrungen von Anerkennung, Mitbestimmung und Solidarität im Arbeitsleben – zusammengefasst als die Erfahrung von industrial citizenship – möglicherweise die Verbreitung rechtsextremer Einstellung in den ostdeutschen Bundesländern einschränken könnte. Um diese Frage zu beantworten, sind wir nach einigen theoretischen Überlegungen in mehreren Analyseschritten vorgegangen. Zunächst haben wir zeigen können, dass positive Erfahrungen von Handlungsfähigkeit in der Arbeitswelt in Sachsen und Thüringen etwas weniger verbreitet sind als in den anderen ostdeutschen Bundesländern. Allerdings sind in Sachsen wiederum Betriebs- und Personalräte als institutionalisierte Formen von industrial citizenship stärker vertreten. Beide Faktoren – institutionelle Voraussetzungen wie Gewerkschaftsmitgliedschaft und Personal- bzw. Betriebsräte sowie subjektiv erfahrene Handlungsfähigkeit am Arbeitsplatz – gehen miteinander einher: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad sowie die Existenz von Betriebs- und Personalräten sind förderlich für die erfahrene industrial citizenship. Allerdings können weitere Aspekte auf Betriebs- oder Länderebene wie eine gewerkschaftsfeindliche oder auch politikverdrossene Stimmung in die Erfahrungen am Arbeitsplatz hineinspielen – und, wie in Sachsen, die positiven Effekte der Institutionen‚ überkompensieren‘. Somit sind Betriebsräte und Gewerkschaften ein erster Schritt, aber kein Garant für demokratische Erfahrungen, wie unsere Analysen gezeigt haben. Es kommt immer darauf an, wie die rechtlich-institutionellen Möglichkeiten im Betrieb mit Leben gefüllt werden.

Zu diesen Ergebnissen passt, dass in Wissenschaft und Forschung die Diskussion über die Rolle der (institutionellen) Mitbestimmung widersprüchlich ist: Er schwankt zwischen einerseits der Hoffnung, sie könne im Kampf gegen die rechtsextreme Konjunktur eine Schlüsselrolle einnehmen und andererseits der Kritik, sie trage in ihrer gegenwärtigen, oft wenig partizipativen Praxis selbst dazu bei, den arbeitsweltlichen Nährboden für rechtsextreme Orientierungen zu bereiten. Dass unsere Ergebnisse eine positive Wirkung von Institutionen und Erfahrungen der Mitbestimmung auf die politischen Einstellungen zeigen – in der Gesamtschau und abstrakt für eine repräsentative Stichprobe (das heißt nicht für einzelne Betriebe, wo dies anders sein mag) – steht dieser Kritik zunächst entgegen. Andere Untersuchungen haben allerdings darauf hingewiesen, dass Gewerkschaften und Betriebsräte mitunter selbst als „Teil des betrieblichen Establishments“ wahrgenommen werden (Sauer und Detje, 2019, S. 166). Die mitbestimmungsfeindliche Stimmung in der Arbeitswelt geht dann nicht nur von den Unternehmensführungen aus, sondern ist auch in der Belegschaft verbreitet.

Ob es einen Betriebsrat gibt, ist dann zweitrangig – und auch in unserer Analyse war der Einfluss der Mitbestimmungserfahrung immer wichtiger als die reine Existenz eines Betriebsrates –, demokratische Erfahrungen in der Arbeitswelt sind damit nicht automatisch abgesichert. Zumal die große subjektive Bedeutung, welche die allgemeine wirtschaftliche Lage auch auf Kosten der eigenen Beteiligungsmöglichkeit hat, eine deutliche Limitierung von Demokratisierungsprozessen in Unternehmen darstellt. Hier ist im Sinne einer Mentalitätsgeschichte auch ein ideologisches Einfallstor für extrem rechte Akteure zu sehen (Lohl und Moré 2014). Extrem Rechte können sich in solchen Situationen als die „echte innerbetriebliche Opposition“ positionieren und für die Wut, Frustration und Wünsche der Beschäftigten ein Ventil bieten, während sie diese mit völkisch-identitären Deutungsmustern verknüpfen (Dörre u.a. 2018, S. 75 ff.; Hilmer u. a. 2017, S. 19 ff.; Decker 2019). Trotzdem und gerade deswegen gilt es, hiergegen eine beteiligungs-, konflikt- und mobilisierungsorientierte Mitbestimmungskultur zu setzen. Durch die Erfahrungen von Solidarität, (kollektiver) Wirksamkeit und politischer Gestaltung kann dem arbeitsweltlichen Ohnmachtserleben und seinen regressiven Bearbeitungsformen entgegengewirkt werden (Hilmer u.a. 2017; Sauer und Detje, 2019, S. 50).

Die weiteren Ergebnisse unseres hier vorliegenden Arbeitspapiers bestätigen diese Perspektive und auch unsere vorangegangene Untersuchung mit einer bundesweiten Repräsentativbefragung (Kiess und Schmidt 2020) zeigt: Positiv erlebte industrial citizenship verringert die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen deutlich und stärkt umgekehrt demokratische Einstellungen. Dieser Zusammenhang bleibt auch unter Berücksichtigung einer Reihe von Kontrollvariablen bestehen. Erst wenn wir den Autoritarismus in die Analyse aufnehmen, wird die Beziehung zwischen industrial citizenship und rechtsextremer Einstellung insignifikant. Dieser Befund ist ob des starken Zusammenhangs von Autoritarismus und rechtsextremer Einstellung einerseits erwartbar. Andererseits stellen sich hier Anschlussfragen, denen die Forschung weiter nachgehen sollte. So ist zu vermuten, dass eine bereits erworbene autoritäre Einstellung durch negative Erfahrungen in der Arbeitswelt verfestigt wird, sich aber auch durch positive Erfahrungen nur langsam auflösen lässt. Autoritarismus könnte allerdings auch positive Erfahrungen im Vorhinein verhindern, indem autoritär Eingestellte zum Beispiel wenig Interesse an einem solidarischen Miteinander im Betrieb zeigen. Dafür gibt der von uns untersuchte Mediationseffekt erste Hinweise: Autoritarismus begünstigt die Entstehung rechtsextremer Einstellung nicht nur direkt, sondern auch indirekt, indem er der Erfahrung von industrial citizenship entgegenwirkt. Anders gesagt: Eine durch Sozialisation und Gesellschaft geformte autoritäre Persönlichkeit kann allein durch Handlungsfähigkeitserfahrungen im Betrieb nicht verändert werden. Sie hängt mit einer autoritären Dynamik in der Gesellschaft zusammen, in der sich die scheinbar allgemeinen Interessen (der deutschen Wirtschaft) immer noch legitim auf Kosten der Einzelnen durchsetzen dürfen – selbst aus Sicht der Betroffenen. Diesen Interpretationsangeboten sollte die Forschung auch im Sinne praxisnaher Handlungsempfehlungen nachgehen.

Unsere Ergebnisse sind vor allem, aber nicht nur für die ostdeutschen Bundesländer relevant. Die Wahlerfolge der AfD und die Verankerung dieses und weiterer extrem rechter Akteure in vielen Regionen zeigt die Gefahr einer rechten Hegemonie insbesondere im ländlichen Raum auf. Die Mobilisierungserfolge im Zuge der Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen, aber auch zuvor (und derzeit wieder in zunehmendem Maße) gegen Geflüchtetenunterkünfte (Stichwort PEGIDA) sind warnende Beispiele. Solche Entwicklungen sind nicht von heute auf morgen gekommen und ebenfalls nicht kurzfristig zurückzudrehen. Beachtet werden sollte bei der Suche nach Gegenstrategien jedoch die hohe politische Deprivation, die in Ostdeutschland deutlich weiter verbreitet ist als im Westen und die ebenfalls höheren Werte der Ausländerfeindlichkeit (Decker u. a. 2023). Die politische Deprivation, das Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik zu haben, korreliert stark mit industrial citizenship-Erfahrungen, das heißt fehlende demokratische Erfahrungen in der Arbeitswelt gehen mit generalisierter Politikverdrossenheit einher. Aus den vorpolitischen Frustrationen und der Wut über „die Dinge“ speist sich das Ressentiment gegen „die da oben“, gegen die Demokratie und gegen alle, die nicht so sind wie man selbst. Langfristig können hier positive Erfahrungen mit der Demokratie Abhilfe schaffen. Diese Erfahrungen müssen ihrerseits bereits im „vorpolitischen“ Raum gemacht werden, also im Alltag, in der Schule (Kiess 2022) oder eben in der Arbeitswelt.

Um der Verbreitung rechtsextremer Einstellung vorzubeugen, ist die Demokratisierung der Wirtschaft aus unserer Sicht ein unabdingbarer Baustein. Wenn Beschäftigte in diesem wichtigen Lebensbereich statt Ungerechtigkeit und Frustration demokratische Handlungsspielräume wahrnehmen können, stärkt das ihre demokratischen Einstellungen und verringert das Risiko, dass in antipluralistischen Ideologien und dem Ressentiment gegen Andere Kompensation gesucht wird. Politisch gibt es über Vergaberichtlinien oder die Erleichterung der Betriebsratsgründung sowie -arbeit hier weiterhin Verbesserungsmöglichkeiten. Das sogenannte ‚Union Busting‘ und illegales Vorgehen gehen Betriebsräte bleibt auch in Deutschland ein ernstzunehmendes Problem (Boewe und Schul- ten 2013; Rügemer und Wigand 2014; Thünken u.a. 2019; Behrens und Dribbusch 2020) das politisch bekämpft werden muss – enthält es angesichts unserer Ergebnisse nicht zuletzt auch eine demokratiegefährdende Komponente. Auf Arbeitgeberseite sollten die Vorteile einer demokratisch eingestellten, mit ihren Arbeitsbedingungen (nicht nur oberflächlich) zufriedenen Belegschaft gesehen werden. Auf gewerkschaftlicher Seite kommt es darauf an, Mitbestimmung beteiligungs-, konflikt- und mo- bilisierungsorientiert zu gestalten. Kurzum: Der Einsatz für Mitbestimmung und Beteiligung im Wirtschaftsleben ist kein Allheilmittel – aber ein direkter Einsatz für die Demokratie.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von Vorwort und Schlusskapitel des Arbeitspapiers “Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland” der Otto Brenner Stiftung. Den vollen Wortlaut finden Sie hier.

Über Johannes Kiess, Alina Wesser- Saalfrank, Sophie Bose, Andre Schmidt, Elmar Brähler, Oliver Decker, Jupp Legrand (Vorwort) / Otto Brenner Stiftung:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.