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Wie Geschichte lebendig bleibt

Südafrika, Israel, Deutschland und Namibia – wie Geschichte lebendig bleibt – Zur Diskussion um die südafrikanische Klage

In den Kommentaren zu einem Video, in dem die südafrikanische Anklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag diskutiert wurde, stand die Bemerkung, das Problem der US-Außenpolitik sei, dass die Amerikaner dächten, dass alles, was geschehe, nur ein Hollywood-Film sei. Wenn das stimmen würde, sind wir seit mehr als 100 Tagen mit der Snuff-Variante eines Films konfrontiert, die sich über das Internet in Echtzeit verbreitet: Mord, Tod und Zerstörung, Tränen, endloses Leid. Die Zahlen, die offiziell herausgegeben werden, werden dem Grauen nicht gerecht.

Israel legitimiert sein Vorgehen gegen den Gaza-Streifen mit der notwendigen Vergeltung gegen den Terrorangriff der Hamas gegen Israel und reklamiert sein Selbstverteidigungsrecht. Es führe einen „gerechten“ Krieg gegen jene, die ihm das Existenzrecht absprächen. Die südafrikanische Klage stelle die Welt auf den Kopf, erklärte der israelische Premier. Das Außenministerium sprach von einer „Blutverleumdung“. Der israelische Präsident befand, dass es „nichts Abscheulicheres und Absurderes“ als diese Klage gäbe. Die USA verlautbarten, die südafrikanische Klage sei „unbegründet, kontraproduktiv und komplett ohne jede Grundlage“.

In Israel werden die Ereignisse des 7. Oktober als Wiedergeburt des Holocaust reflektiert. So erklärte es auch ein Historiker in einem Gespräch mit der Tagesschau. Er berichtete von einer nachhaltigen Traumatisierung der israelischen Bevölkerung, die dem Erleben des Holocaust nahekäme, vom tiefen Riss in der Gesellschaft, aber auch davon, dass Israel den Krieg ohne politisches Ziel führe und es Aufgabe der internationalen Gemeinschaft wäre, Israel klar zu machen, dass ein solcher Krieg nicht legitim sei.

Am 14. Januar 2023 äußerte sich der Präsident von Namibia. Er wandte sich direkt an die deutsche Regierung. Der erste Satz seiner Stellungnahme beginnt mit:

“Namibia rejects Germany’s Support of the Genocidal Intent of the Racist Israeli State against Innocent Civilians in Gaza”.

Übersetzung:

„Namibia lehnt Deutschlands Unterstützung der völkermörderischen Absichten des rassistischen israelischen Staates gegen unschuldige Zivilisten in Gaza ab.“

Ganz konkret kritisierte er die Parteinahme Deutschlands. Er hält es für einen Widerspruch, dass Deutschland international Völkermord verurteilt, den Völkermord in Namibia einräumte, aber heute Partei für Israel ergreift. Im seiner langen Erklärung wiederholte der Präsident seine Botschaft vom 23. Dezember 2023:

“No peace-loving human being can ignore the carnage waged against Palestinians in Gaza. In that vein, President Geingob appeals to the German Government to reconsider its untimely decision to intervene as a third-party in defence and support of the genocidal acts of Israel before the International Court of Justice.“

Übersetzung:

„Kein friedliebender Mensch kann das Blutbad an den Palästinensern in Gaza ignorieren. In diesem Sinne appelliert Präsident Geingob an die Bundesregierung, ihre unzeitgemäße Entscheidung, als Drittpartei zur Verteidigung und Unterstützung der Völkermordtaten Israels vor dem Internationalen Gerichtshof einzugreifen, zu überdenken.“

Dem voraus ging eine Erklärung der Bundesregierung, die den von Südafrika erhobenen Vorwurf des Völkermords entschieden zurückweist. Im Fall einer Hauptverhandlung würde Deutschland als Drittpartei intervenieren. Man stehe weiter auf Seiten Israels.

Südafrikas Klage vor dem Gerichtshof enthält zu Beginn eine klare Verurteilung des Terrors der Hamas am 7.Oktober 2022. Gleichzeitig aber setzt Südafrika die furchtbaren Ereignisse vom 7. Oktober 2023 in einen geschichtlichen Rahmen: In Jahrzehnte der politischen Unterdrückung der Palästinenser durch Israel und anhaltender Menschenrechtsverletzungen. Wörtlich heißt es in der Einleitung der Klageschrift, dass die Beurteilung der Ereignisse in den „breiteren Kontext des Verhaltens Israels gegenüber den Palästinensern während seiner 75-jährigen Apartheid, seiner 56-jährigen kriegerischen Besatzung der palästinensischen Gebiete und seiner 16-jährigen Blockade des Gazastreifens” gestellt werden sollten. Ziel des angestrengten Verfahrens ist eine Verurteilung Israels, das sofortige Ende der Kriegshandlungen, die Zahlung von Reparationen und der Wiederaufbau des Gaza-Streifens durch Israel.

In der TAZ war dazu zu lesen, es handele sich um einen rechtlichen Schritt „mit einer Agenda“ und die hieße „mitnichten Gerechtigkeit“. Die Hamas hege die genozidalen Phantasien. Zwar hätte es einzelne „schlimme Äußerungen“ auf israelischer Seite gegeben. Zwar seien „zu viele“ Zivilisten gestorben, aber die genozidalen Absichten längen auf Seiten der Hamas. Das fehle in der südafrikanischen Klage.

Der Standard führt die südafrikanische Klage auf „jahrzehntealte Ereignisse zurück, die noch immer nicht verziehen wurden.“ Es ginge darum, dass die israelische Regierung mit dem Apartheid-Regime in Südafrika kollaborierte, ihm sogar Atomwaffen besorgen wollte, was der ANC nicht vergessen hätte und schrieb: „Nun, im Jahr 2023, sieht sich der ANC, der in Südafrika seit 1994 an der Macht ist, angesichts seiner eigenen Geschichte dazu verpflichtet, unterdrückten Völkern beizustehen – und angesichts der früheren engen Beziehungen vor allem dem palästinensischen Volk.“

Die Welt meinte unter der Überschrift „Warum Südafrikas Hass auf Israel tief sitzt“, dass es nicht überraschend sei, „dass der zunehmend antiwestlich orientierte BRICS-Staat Südafrika die Phalanx der Israel-Kritiker anführt.“ Sie ließ aber auch einen jüdischen Kritiker des aktuellen israelischen Kriegskurses zu Wort kommen, Feinstein glaubt, dass außerhalb der westlichen Welt verstanden wird, warum Südafrika so handelte. „Einigen“ Zuspruch habe die Klageerhebung schon, notierte die Welt, bei der Organisation der islamischen Staaten (57 Länder), bei der Türkei und einigen weiteren Staaten.

In einem Fernsehinterview bei Channel 4 konfrontierte ein Journalist den Sprecher der israelischen Regierung damit, dass der israelische Premier das Wort „Amalek“ benutzt habe. Das bedeute: Tötet sie alle. Das sei eine Einladung zum Genozid. Der Sprecher verneinte das. Israelis würden die biblische Konnotation schon richtig verstehen. Im weiteren Verlauf des Interviews betonte der israelische Sprecher, Südafrika habe politisch beschlossen, sich mit dem Iran und der Hamas zu verbünden und zum rechtlichen Gehilfen der Hamas zu werden. Also sei Südafrika nun auch ein Terrorist, fragte der Interviewer. Antwort: Südafrika beschloss, zum Anwalt des Teufels zu werden.

Wir tun uns in Deutschland sehr schwer,

uns mit alledem seriös auseinanderzusetzen. Ist Südafrika von Hass gegenüber Israel getrieben? Oder gar ein Advokat des Teufels? Ist es „antiwestlich“, ein Ende der Kämpfe zu fordern? Was sagen wir dazu, wenn Wort und Tat bei der Kriegsführung Israels auseinanderfallen? Wie gehen wir damit um, dass dieser Krieg von Israel nicht ohne die materielle und politische Unterstützung der USA geführt werden könnte? Wie stehen wir dazu, dass alles in einem Flächenbrand in der Region, wenn nicht gar Schlimmerem münden könnte? Aber vor allen Dingen: Was bedeutet es, fest an der Seite Israels zu stehen, für das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates Israel einzustehen. Was meinen wir damit konkret?

Es gibt jede Menge Schubladen „pro-israelisch“, „pro-palästinensisch“, „antiisraelisch“, „antisemitisch“, in die man flugs gesteckt werden könnte, und hinzu kommt die Angst, als Land, dass den Holocaust verantwortete, beschuldigt zu werden, nicht die richtigen geschichtlichen Schlüsse gezogen zu haben. Gleichzeitig sieht es vom Standpunkt des namibischen Präsidenten genauso aus, denn der fragt, ob wir aus unserer Geschichte tatsächlich gelernt hätten.

Mit einer fein säuberlichen Schubladenpolitik werden wir nicht weiterkommen. Was die Ereignisse des 7. Oktober und der nachfolgende Krieg zeigten, ist, dass im Herzen der Völkergemeinschaft seit Jahrzehnten ein Problem schwärte, das niemand löste und dass sich nun explosiv entlädt: die Duldung eines völkerrechtswidrigen Zustandes und die Abwesenheit einer Zwei-Staatenlösung, die ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern bringen sollte. Es ist heute nicht so, dass die Hamas die einzige radikalisierte Kraft in diesem Raum wäre. Auf israelischer Seite gibt es ebenfalls radikalisierte Kräfte. So wie im Weltbild der radikalisierten Hamas es keine Israelis geben soll, gibt es in Weltbild bestimmter israelischer Kreise keine Palästinenser. Da gibt es nur Israelis auf angestammtem biblischem Land, vom Mittelmeer bis zum Jordan, wie es in der Parteisatzung der LIKUD-Partei des aktuellen Premiers aus dem Jahr 1977 hieß.

Deckungsgleiche Interessen von Israelis und Palästinensern: Frieden, Sicherheit, Zukunft

Mir scheint, bei der aktuellen und hochaufgeladenen Auseinandersetzung geht völlig verloren, dass die Interessen der meisten Israelis und der meisten Palästinenser völlig deckungsgleich sind: Frieden, Sicherheit, Zukunft. Es ist völlig ausgeschlossen, dass der aktuelle Krieg dieses Interesse erfüllen kann, nicht unter den Bedingungen weltweiter Öffentlichkeit, was im Gaza-Streifen vor sich geht, nicht bei diesem verheerenden Opfern (auf beiden Seiten).

Mir scheint ebenfalls, dass wir in Deutschland begreifen müssen, dass die Tatsache, dass sich Hitlerdeutschland in nicht wiedergutzumachender Weise der Judenverfolgung und -vernichtung schuldig machte, uns nicht davon entbindet, uns der Wahrheit zu stellen, dass auch die Bundesrepublik Deutschland Mitverantwortung dafür trägt, dass heute niemand mehr in Israel sicher ist, nicht die Israelis, nicht die Palästinenser im Gaza-Streifen oder in der West Bank. Wir haben zwei Volksgruppen, die tief traumatisiert sind. Am Trauma, das der 7. Oktober 2022 brachte, ist die Hamas schuld, am anderen die israelische Politik, die nun einen Terror-Tag vergilt. Dahinter liegen Jahrzehnte aufgehäufter Schulden, die zum großen Teil auf das Konto der israelischen Seite gehen. Im UNO-Rahmen ist das unbestritten. Es gibt Resolutionen über Resolutionen, aber nichts geschah. Der einzige israelische Premierminister, Rabin, der genug hatte von all dem Blut und den Tränen, wurde ermordet, durch einen israelischen Extremisten. Seine Worte, die damals an die Palästinenser gerichtet waren, gelten allerding fort: „Wir sind wie Sie Menschen, die ein Zuhause bauen wollen, die einen Baum pflanzen, lieben, Seite an Seite miteinander leben wollen – in Würde, mit Verständnis füreinander, als freie Menschen…“

Nur, wer spricht solche Worte heute? Es liegt offen auf der Hand: Wer die humanitäre Lage im Gaza-Streifen verbessern möchte, muss diesen Krieg stoppen, um Frieden zu finden. Sonst verhalten wir uns so, wie jemand, der vor einem Schwerverwundeten steht und ihm, statt eine Aderkompresse anzulegen oder sich sonst um Rettung zu bemühen, lediglich einen Schluck Wasser reicht, begleitet von einer Litanei frommer Sprüche. Eine solche Wahl treffen Feiglinge oder Todesengel. Auch in den internationalen Beziehungen gibt es so etwas wie einen hippokratischen Eid.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.

3 Kommentare

  1. Helmut Lorscheid

    Petra Erler schreibt: “Dem voraus ging eine Erklärung der Bundesregierung, die den von Südafrika erhobenen Vorwurf des Völkermords entschieden zurückweist. Im Fall einer Hauptverhandlung würde Deutschland als Drittpartei intervenieren. Man stehe weiter auf Seiten Israels.”
    Wenn das erfolgen sollte, werde ich vorschlagen, als deutsche Staatsbürger die Klage Südafrikas zu unterstützen. Auch wenn das wahrscheinlich formal nicht möglich ist- also politische Willensäußerung und Distanzierung von der Unterstützung eines Völkermords durch die Bundesregierung wäre es ein gute Signal. Bei der Bewertung dessen, was zwischen Israel und den von ihm besetzten Gebieten geschieht sollte man nicht außer Acht lassen, dass Israel den Aufbau der Hamas stets unterstützt hat. Auch die Vorbereitung zu den Verbrechen der Hamas gegen Israelische Menschen hat die israelische Regierung zugeschaut, hat nichts unternommen. Opfer des Terrors wurden vor allem auch Menschen in Israel, die Frieden wollen und eine Zwei Staaten- Lösung anstreben. Viele Israels aus der dortigen Friedensbewegung wurden von der Hamas ermordet. Das kann Zufall sein, muß es aber nicht.
    Die Hamas wurde vom israelischen Inlandsgeheimdienst unterstützt, der Fluss der Gelder an die Hamas wurde geduldet. Die Hamas als Gegenpol zu all denen, die Frieden wollen – in Palästina und in Israel gleichermaßen. Genau das ist es, was derzeit passiert. Und den Terror der Hamas als Grund für eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza. Für mich passt das alles prima zusammen. Wenn die Bundesregierung nun weiter dieses mörderische Regime in Tel Aviv unterstützt, gegen die von Südafrika eingebrachte Klage, macht sie genau da weiter, wo sie früher bereits stand – fest an der Seite Israels und des anderen Apartheid-Staates Südafrika. Es ist kein Zufall, dass zahlreich Aktivisten – insbesondere Evangelische Pfarrer, die in Südafrika selbst die Apartheid erlebt hatten, nach der Befreiung Südafrikas ihre Aktivitäten in die Palästina-Solidarität verlegt haben. Diese Leuten wußten und wissen sehr genau, was sie machen. Diese alte und richtige Mahnung “Nie wieder…” sollte sich auch auf Rassismus und Apartheid in Südafrika und auf Völkermord durch Israel beziehen. Zionismus ist nun mal Rassismus.

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