De Masi legt nach – Die “Zeitenwende” entpuppt sich als Scholz’ schwerster strategischer Fehler, eher freiwillig als unfreiwillig
Jürgen Wagner/telepolis ist für mich eine fachliche Referenzperson. Wir haben gelegentlich korrespondiert. Seine Informationsstelle Militarisierung in Tübingen ist eins der fachlich erfreulichsten Überlebenden der alten BRD-Friedensbewegung. Gestern veröffentlichte er eine der informativsten kritischen Analysen der “Zeitenwende” des Bundeskanzlers: “Pleitegeier Bundeswehr: Tatsache oder Lobby-Gerücht? – Ist das deutsche Militär chronisch unterfinanziert – wäre es im Ernstfall verteidigungsfähig? Zahlen und Fakten.”
Das hat einen ausserordentlich unerfreulichen politischen Kern. Die “Zeitenwende” kam nicht als böses geopolitisches Ereignis über die arme unschuldige Bundesregierung, auf die der Kanzler reagieren “musste”. Diese Legende wurde schon 1999 von Rot-Grün um den damaligen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien gestrickt. Sondern diese “Zeitenwende” wurde als strategischer Entschluss von Scholz selbst ausgerufen und wird – bis heute – vorangetrieben.
Diese bewusste strategische Bindung an den sichtbar instabilen grossen Bruder USA wird sich für die europäische und deutsche Rüstungslobby sogar in einen strategischen Vorteil verkehren, wenn der Gottseibeiuns Trump wieder an die lebensgefährlichen Hebel der Macht gelangt. Denn dann, so das Framing, muss umso mehr öffentliches Kapital in der Aufrüstung verbrannt werden.
Dieser Kurs hat Deutschland ökonomisch bereits jetzt gegen die Wand gefahren. Die fundamentalen Folgen werden nur zeitversetzt in ihrer ganzen Brutalität sichtbar. Wir sind erst am Anfang dieses Erkenntnisprozesses. Ein Ergebnis steht jetzt schon fest: Wahlen sind mit diesem Kurs nicht zu gewinnen. Die rechten Hasardeure, die heutigen Regierenden nachzufolgen drohen, werden der Rüstungslobby ein noch grösseres Gelage bescheren: Konfrontation und Krieg sind ihr Champagner und Kaviar, ihre Yachten und Selbstbefriedigung.
Der Verfall der Medienöffentlichkeit fügt sich dazu aufs Komfortabelste. In der Bundesregierung arbeiten Ministerien schon an einem Frame, dass Kritik an ihr, “aus Moskau gesteuert” sei (Spiegel-Paywall). Das kenne ich schon von 1978. Wahrheit wird nicht mehr gesucht oder gar gefunden, sondern fabriziert.
Ob er will oder nicht, gerät auch der mittlerweile wieder zum Wagenknecht-Wahlkämpfer mutierte weiterhin fabulöse Fabio de Masi/Berliner Zeitung zwischen diese Räder: “Wirecard-Skandal: Wer steckt hinter dem Geheimdienstnetzwerk um Jan Marsalek? – Seit Jahren tobt ein Informationskrieg von Geheimdiensten rund um den Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek. Die Geschichten offenbaren viele Widersprüche, meint unser Kolumnist.” Sollte die Berliner Zeitung diesen Text noch digital einmauern – selber schuld.
Jede*r kocht ihr/sein Süppchen. Vertrauen und Hoffnung wird nirgends aufgebaut, sondern rundum zerstört. Das ist weder links noch (sozial)demokratisch. Die Wurzel liegt hier – wer dagegen zu kämpfen aufgegeben hat, kann nicht mehr demokratisch gewinnen.
Dem Olaf Scholz, den ich im vorigen Jahrhundert persönlich kennen gelernt habe, unterstelle ich Fatalismus, den er für Realismus hält: hat sowieso keinen Zweck, ist aussichtslos. Mit dieser Einstellung ist er in exakt dieser Lage.
Die sog. “Zeitenwende” wird sich als internationaler Putsch einer besonders mächtigen und effektiven Kapitalfraktion erweisen. Ob die Willigkkeit der Bundesregierung nun aus Dummheit erfolgt, wie Helmut Lorscheid es über Frau Baerbock behauptet, oder aus postmaoistischer Überzeugung ihrer Ratgeber und Einflüsterer, wie ich es gemeinsam mit Friedrich Küppersbusch und Antje Vollmer unterstelle – das ist dabei mittlerweile leider Nebensache.
50 000 gefälschte Nutzerkonten bei X als Teil einer russischen Desinformationskampagne.
Das hat nun wirklich nichts mehr mit dem alten Vorwurf „aus Russland gesteuert“ zu tun. Das ist Teil eines Medienkrieges, und wir sind die Zielscheibe. Jetzt tu mir bitte einen Gefallen und behaupte nicht, das sei alles erstunken und erlogen.
Nein, das behaupte ich nicht. Im Gegenteil: Beeinflussungen gibt es, von überall. Nicht nur von einer Quelle, und nicht nur in eine Richtung. Das ist Politik, bekanntlich “ein schmutziges Geschäft”. In einer Demokratie gehts nicht ohne sie. Ich habe mal einem Anwohner, der sich über Wahlkampfmaterial in seinem Briefkasten beschwerte, empfohlen, er könne ja in eine Diktatur auswandern – da gäbe es eine grosse Auswahl.