In den letzten Wochen waren weit über eine Million Menschen auf den Straßen, um gegen die menschenverachtende Politik der AfD zu demonstrieren. Was für ein großartiger Erfolg! Wer auf einer dieser Demos war, der hat beobachtet: Es dominieren Plakate und Parolen, die sich auf emotionale oder moralisierende Weise mit der AfD auseinandersetzen. Diese Haltung teile ich auch. Dennoch habe ich Plakate und Transparente vermisst, die auch eine politische Analyse des Rechtsrucks ansprechen.

Ich sehe in der neoliberalen Politik der vergangenen 30 Jahre eine der Ursachen dafür, dass immer mehr Menschen den rechten Demagogen nachlaufen. Was ich unter neoliberaler Politik verstehe und wie diese mit dem Erstarken der AfD zusammenhängt, möchte ich im Folgenden erläutern.

Was ist Neoliberalismus?

Unter Neoliberalismus verstehen wir eine wirtschaftspolitische Ideologie, die von zwei grundlegenden Thesen ausgeht:

1. Wenn es „der Wirtschaft“ (also den Unternehmen) gut geht, dann profitieren alle davon.

2. Damit es den Unternehmen gut geht, muss der Staat Steuern und Abgaben senken („schlanker Staat“), deregulieren (also Schutzstandards absenken, Schlagwort „Bürokratie“) und privatisieren.

Umsetzung des neoliberalen Programms

Bereits 1982 wurde im „Lambsdorff-Papier“ das neoliberale Programm ausbuchstabiert, das durch die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel nach und nach umgesetzt wurde:

– Sozialleistungen wurden gekürzt (z.B. Absenkung des Rentenniveaus, Streichungen und Zuzahlungen bei medizinischen Dienstleistungen, Abschaffung des „alten“ Arbeitslosengeldes und Einführung von „Hartz IV“, jetzt „Bürgergeld“, Ausstieg aus dem sozialen Wohnungsbau etc.)

– Kontroll- und Schutzregeln wurden abgeschafft (z.B. Aufweichung des Arbeitsschutzes: siehe Leiharbeit und befristete Beschäftigung; Abbau von Kapitalverkehrskontrollen – Erleichterung der Kapitalverschiebung ins Ausland; Freigabe riskanter Investmentbanking-Geschäfte etc.)

– ehemals staatliche Leistungen wurden privatisiert, z.B. im Gesundheitswesen (private Krankenhaus-Konzerne), Teilprivatisierung der Rentenversicherung („Riester-Rente“), Umgestaltung der Bahn in eine gewinnorientierte AG etc.)

Folgen der neoliberalen Politik

Die Versprechungen, die mit der neoliberalen Politik verbunden waren, wurden nicht erfüllt. Zwar stiegen tatsächlich die Gewinne der großen Unternehmen und der Banken um ein Vielfaches und mit diesen die Aktienkurse und Managergehälter, doch bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung kamen nur Arbeitsverdichtung und schlechtere Daseinsfürsorge an.

Die Lohnentwicklung hat sich von der Produktivitätsentwicklung entkoppelt: Die Löhne stiegen real kaum noch an. Die Hälfte der Neu-Rentner bekommt mittlerweile nur noch Armutsrenten. Wer arbeitslos wird, landet schnell bei den Tafeln, die mittlerweile schon 2 Millionen Menschen in Deutschland vor dem Verhungern schützen. Die Mieten stiegen bedrohlich an, Wohneigentum kann sich kaum noch jemand leisten. Bezahlte Erholungskuren wie früher gibt es kaum noch, dafür wartet man gesundheitsbedrohlich lange auf einen Facharzttermin. Ganze Regionen in Deutschland wurden vom Wohlstand abgekoppelt. Die Infrastruktur und staatliche Einrichtungen – Straßen, Brücken, Schulen, Eisenbahn etc. – verfallen. Die Ungleichheit wächst und der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert.

Was hat das mit der AfD zu tun?

Naheliegend wäre eigentlich, dass die Menschen angesichts dieser Entwicklung eine Abkehr vom neoliberalen Dogma fordern und die Rückkehr zu einem starken Sozialstaat. In den gängigen Medien wird die neoliberale Politik jedoch meistens als alternativlos beschrieben; über die geschilderten Missstände wird zwar berichtet, die politischen Ursachen dafür werden jedoch selten thematisiert. Linke, kritische Positionen sucht man in den Wirtschaftsteilen unserer Zeitungen oft vergeblich. Die politische Linke als Alternative wurde so marginalisiert.

Der Protest der Unzufriedenen und der von der neoliberalen Politik Betroffenen suchte sich daher ein anderes Ventil: Die AfD mit ihren einfachen, aber falschen und teils rassistischen Erklärungen und „Lösungen“. In dem Maße, wie sich wirtschaftliche Abstiegsängste in die Mitte der Gesellschaft einbrannten, wuchs das Protestpotential, das die AfD abschöpfen konnte. Dass die AfD selber eine Partei des forcierten Neoliberalismus ist, stört die kurzsichtigen AfD-Wähler nicht, da sie diesen ja nicht als Problem erkennen. Viele glauben der AfD, die meint, dass die gesellschaftlichen Probleme hauptsächlich durch Ausländer verursacht werden.

Diesem rassistischen Narrativ haben die etablierten Parteien sogar Vorschub geleistet, indem sie es zunächst in den 90er Jahren erst selber aufbrachten („Kinder statt Inder“, Rüttgers, CDU) oder heute der AfD nachplappern („Sozialtourismus“, Merz, CDU, und Kanzler Scholz: Abschiebung „im großem Stil“).

Schlussbemerkungen

Hier wurde versucht, sehr komplizierte Zusammenhänge kurz darzustellen, wobei zwangsläufig viele weitere erwähnenswerte Aspekte nicht angesprochen werden konnten, etwa die Rolle der digitalen, nicht kuratierten Infokanäle, die die Verbreitung rechten Gedanken-„guts“ erleichtern. Dass diese „Sozialen Medien“ jedoch so wenig kontrolliert und gemeinschädlich agieren können, ist auch eine Folge der neoliberalen Politik der Deregulierung.
Außerdem sind wir nicht auf die Kriege der letzten beiden Jahrzehnte im Nahen und Mittleren Osten eingegangen. Diese Kriege stehen auch im Zusammenhang mit der Absicherung von wirtschaftlichen Interessen des neoliberal verfassten Kapitalismus und haben die Flüchtlingsströme verursacht, gegen die die AfD in besonderem Maße hetzt (weniger als gegen die Ukrainer*innen, die vor dem Krieg in ihrem Land geflüchtet sind).
Und schließlich hat der neoliberale, kapitalmarkt-gelenkte Kapitalismus, außer dass er die Rechten stärkt, noch viele andere schlimme Folgen, die hier nicht thematisiert werden.

Über Joachim Braun / attac Düsseldorf:

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