Daß ich, nach meiner ersten Reportage, Henri Nannen vorgestellt worden sei, wage ich nicht zu behaupten. Ich wurde ihm, im Gegenteil, regelrecht vorgeführt. Auf dem “Affenfelsen” an der Alster in Hamburg, wo der Stern lange Zeit gemacht wurde, empfing er mich in einem Ledersessel mit so mächtiger Rückenlehne, und sein Bauch, zur Sessellehne passend, wölbte sich unterm Hemd so mächtig vor, daß mir schien, ich trete nicht vor einen modernen deutschen Illustriertenchef, sondern vor einen altjapanischen Kriegsherrn. -Sie sind also, sagte er, »der davongelaufene Mönch, der so gute Reportagen schreibt. « Er musterte mich ohne Sympathie: “Na, dann erzählen Sie mir etwas über Ihr Verhältnis zu Gott.«
Die gezielte Taktlosigkeit des Mächtigen. Ich nahm sie hin. Zu viel lag mir, 1975, an eben diesem Karrieresprung: vom Mönch zum Sternreporter. Hoch auf dem Hamburger Affenfelsen begann ich von Gott zu reden.
Henri Nannen hörte zu. Er schloß die Augen. Mir schien, er höre gesammelt zu.
Und dann das Unfaßbare: ein jähes Schnarchen. Ein Schnarchen nicht hoch aus einer neudeutschen Nase, sondern tief aus einem altjapanischen Bauch. Henri Nannen hatte die Augen nicht geschlossen, weil er sich sammeln wollte. Er war eingeschlafen.
Neben mir stand Peter Koch, ein paar Jahre später als Chefredakteur des Stern verantwortlich für das Debakel mit den Hitler-Tagebüchern. Ich sah ihn fragend an. »Einfach weiterreden über Gott«, zischelte Peter Koch, “der wacht von selber wieder auf.” Als er erwachte, musterte er mich noch einmal. Ohne Sympathie, ohne Interesse. “Gehen Sie rüber zu Uschi”, sagte er mit einer Kopfbewegung, “die macht Ihnen den Vertrag.”
So sind Blütezeiten.
Es sind – wie in der Kirche, so in den Medien – Zeiten der allerersten, gerade beginnenden Dekadenz. Noch war der »Stern« die größte IIlustrierte aller Zeiten, von Henri Nannen aus dem Bauch geschaffen nach dem Prinzip »Niemand braucht mir zu sagen, was Lieschen Müller lesen will; ich bin Lieschen Müller«. Aber er war seines Blattes nicht mehr Herr. Im Schlaf stellte er jetzt Leute ein, die er, bei Sinnen, niemals eingestellt hätte. Intellektuelle. Davongelaufene Mönche gar.
Wohl sind die meisten Reportagen, die ich für dieses Buch ausgewählt habe, erst in den achtziger und neunziger Jahren geschrieben, manche schon gar nicht mehr für den »Stern«. Und die beste – »So ist das mit der Einsamkeit« – ist nie zuvor erschienen. Aber alle haben sie ihren schöpferischen Anstoß aus jener wunderbar zwielichtigen Sternstunde, an die sich eine Generation deutscher Leser wehmütig erinnern wird: Da war eine Illustrierte, in der plötzlich mehr war. Nicht nur Schmalz und Empörung, sondern auch Spott und Intellektualität. Nicht nur Sensation, sondern auch Sinn.
Jene Scheidung, an der unsere deutsche Kultur zu Tode krankt, die Scheidung von Unterhaltung und Bildung. Henri Nannen hatte sie, einen Augenblick lang, unfreiwillig überwunden. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
Im Schlaf holte er mich aus einer Kirche, die sich, merkwürdig genug, im gleichen Zustand befand wie die Illustrierte ›Stern‹. Noch stand das alte, grandiose katholische Gefüge. Noch war dies die größte Kirche aller Zeiten. Aber die Dekadenz hatte begonnen. Wie zu erwarten mit einer Blüte. Mit dem Reformeifer des Konzils. »Bekehrung zur Welt« war die Losung, an die ich mit der gleichen illusionären Naivität glaubte wie eine ganze Generation von katholischen Intellektuellen. Wir brauchten uns nur der Welt zu öffnen, wir brauchten nur auf die Welt zuzugehen, davon waren wir überzeugt, und alles, alles würde heil.
Bekehrung zur Welt.
Vom Mönch zum »Stern«-Reporter. Im Schlaf ließ Henri Nannen die theologische Illusion journalistische Wirklichkeit werden. Nicht einen Augenblick nämlich hatte ich das Handwerk des Reporters gelernt. Nicht eine Sekunde gar in so einer zutiefst sinnlosen Anstalt wie der Journalistenschule von Gruner und Jahr gesessen. Alle meine Reportagen habe ich nach der genau gleichen Methode geschrieben, nach der ich zuvor als Mönch gebetet hatte. Es ist die Methode des heiligen Augustinus: »Et facta mirari et intellecta assequi.« Das heißt auf deutsch: Zuerst die Tatsachen staunend entdecken, ihnen dann auf den Grund gehen, ihren Sinn verstehen und ihre Poesie. Jenen Sinn und jene Poesie, die kein Reporter zu erfinden braucht. Denn sie sind den Dingen eigen.
Zeit ist die wichtigste Voraussetzung dieser Methode. Sich Zeit zu lassen für einen Menschen ist fast gleichbedeutend mit Anstand. Auch Themen verlangen diesen Anstand. Wenn ich mehr will als die opportunen Korrektheiten des »flotten Schreibens«, wenn ich von den Dingen etwas verstehen will, was ich vorher nicht verstand, brauche ich Zeit. Viel Zeit. Das schöpferische Chaos in der sich zersetzenden Grossillustrierten Stern verschaffte mir die Zeit.
Wollte ich erfahren, was das ist, ein ganz gewöhnliches deutsches Leben, so fuhr ich ein halbes Jahr ins Ruhrgebiet. Wollte ich erfahren, was das ist, ein ganz gewöhnlicher indischer Dorfguru, so fuhr ich einen Sommer lang den Ganges hinauf, den Ganges hinab. Als dann der Herbst kam und die Fluten des Ganges gefährlich stiegen, schien es mir angezeigt, mich in Hamburg telefonisch zu melden. Es erwies sich als überflüssig: “Conrad, mach dir keine Sorgen; niemand hier hat gemerkt, daß du in Indien bist.”
Bis dann die neunziger Jahre kamen und somit, auch beim »Stern«, Leute, die so etwas merken. Junge Macher, die rechnen können. Die ganz scharf rechnen müssen, um ihre milliardenteuren »multimedialen Projekte« zu finanzieren. Auf dem »Affenfelsen« in Hamburg wurde plötzlich nachgerechnet, wieviel das kostet, so eine bewußt langsame Reportage. »Was Sie bei uns machen«, lautete das gnadenlose Fazit, »ist teurer als Hemingway.« Und so war Schluß mit den Reportagen nach der Methode des heiligen Augustinus.
Nun höre ich alle klagen. Sie klagen über die neue Diktatur der Mittelmäßigkeit, über die Herrschaft einer scharf und absichtsvoll kalkulierenden Geistlosigkeit, über das neue Mittelalter der Dummheit und der Vulgarität in den Medien. Ich klage nicht. Ich weiß aus der Geschichte der Kirche, was auch für die Medien gilt: Die Zeiten der Blüte, der Gnade, sind kurz; die Zeiten des Niedergangs, der Gnadenlosigkeit, sind lang.
Was bleibt, ist die Erinnerung an ein maßloses Vergnügen. Etwas entdecken, was mir vorher fremd war, etwas verstehen, was ich vorher nicht verstand, dies ist, Thomas von Aquin hat es oft gesagt, die höchste Lust, deren der Mensch fähig ist.
War es auf einem Flug nach Celebes? War es auf einem Flug nach Kalifornien? Jedenfalls war es noch in den siebziger Jahren, auf einer meiner ersten Reportagen für den Stern. In der Business Class saß ich, zusammen mit dem Fotografen, hoch in den Wolken. Wir fühlten uns als die Herren der Welt. Wir sprachen über dies und das. Doch dann, von dem Fotografen eher nebenbei gestellt, die Frage zur Sache: »Sag mir, was du schreiben willst, damit ich mich drauf einstellen kann.* Ich war verwundert: »Das weiß ich doch nicht, was ich schreiben werde, wir sind ja noch gar nicht da.«
Wieder sprachen wir über dies und das. Dann ein Schweigen, dann ein Blick von der Seite. Und dann, ganz leise, aus dem Munde des erfahrenen Pressefotografen, ein Wort von großer Nachdenklichkeit: “Seit zwanzig Jahren reise ich mit Reportern um die Welt. Aber das ist das erste Mal, daß ich mit einem reise, der nicht im voraus weiß, was er schreiben will.” Ein größeres Lob habe ich nie gehört.
Anm.d.Red.: Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Vorwort zum Buch des Autors “Im Anfang war das Krokodil”, Düsseldorf 1996. Er übergab dem Extradienst diesen Text zur Sicherung der Erinnerung an eine einst grosse Illustrierte, einen einst grossen Verlag und eine einst bedeutende Art von Journalismus. Wir danken herzlich.
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