Aus Troja nichts gelernt?

Seit vielen Jahren wundere ich mich über die von uns bezahlten Interviewgeber*innen aus der Politik. Sind sie nicht uns, ihren Wähler*inne*n und Finanziers verantwortlich? Warum vereinbart niemand von ihnen, dass Interviews, die sie kostenfrei geben, auch kostenfrei für die Öffentlichkeit zugänglich sind? Was machen eigentlich deren Pressestellen den ganzen Tag? Sie schaden damit der Demokratie und sägen ihren eigenen Ast ab. Wie kommichdrauf?

Das Spiegel-Interview meiner alten Freundin Claudia Roth hätte ich durchaus mit Interesse gelesen. Der Spiegel-Teaser-Text macht es richtig heiss: “Claudia Roth über Berlinale-Eklat: »Es gibt bei Linksradikalen diesen ekelhaften offenen Antisemitismus« – Nach der verstörenden Berlinale-Preisverleihung kritisiert Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Leitung der Filmfestspiele, räumt eigene Fehler ein – und spricht darüber, wie weh ihr manche Vorwürfe tun.” Macht 3€/Woche (“im ersten Jahr”, danach 5). Pffft ist die Luft raus.

Ich verfüge sogar über einen Paywallbohrer, könnte es lesen. Aber wer würde es mir nachtun, und “Troja” erst aufbohren, um Claudia Roth zu lesen? Als nichtgewerblicher Blog verlinke ich grundsätzlich nicht auf Paywalltexte – denn die sind Gewerbe. Gewerbe unterscheidet sich signifikant von Demokratie. Gewerkschaften wissen das.

So bezeichnend nun schon seit Jahren die SZ. Wie alle erzählt sie eine TV-Talkshow des ZDF nach (die knapp 2,5 von 85 Mio. geguckt haben). Mit einem Teaser, den – ich weiss nicht wer – für schmissig hält: “‘Maybrit Illner’: ‘Putin wird nicht haltmachen’ – Die Runde bei ‘Maybrit Illner’ ist sich einig: Der Westen braucht endlich eine wirkliche Strategie, wenn er Putin in der Ukraine aufhalten wolle. Zumindest ein Teilnehmer erkennt einen hellen Streif am Horizont.” Wer will das lesen? Hauptsache sie “sind sich einig”, oder?

Mag sein, dass es denen in Berlin damit ausreichend gutgeht. Der Demokratie geht es scheisse. Thomas Knüwer hat es hier erklärt, und macht das schon seit vielen Jahren. Aber in den Parteien und Bürokratien merken sie immer noch nichts.

Warum dazulernen? Drohende Trump-Wiederwahl, Faschistenaufstieg in deutschen Bundesländern, Rechtsruck in ganz EU-Europa, Weltkriegsgefahr – noch lange kein Grund, Information und Diskussion kostenfrei und zugänglich zu verschwenden, wenn es doch dem Gewerbe dienen kann

Stattdessen stürmen die Bundesländer jetzt erstmal in einem AfD-Ähnlichkeitswettbewerb die öffentlichen Medien. Möge der Fall möglichst zügig beim Bundesverfassungsgericht landen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net