Zwei Jahre russischer Überfall auf die Ukraine

I.

Hunderttausende tote und verletzte Soldaten, viele zivile Opfer, die Zerstörung ganzer Städte und Dörfer und wichtiger Teile der zivilen Infrastruktur: Das ist das Ergebnis des Kriegs in der Ukraine zwei Jahre nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022.

Die meisten politisch Verantwortlichen in Europa sprechen noch immer davon, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen oder müsse ihn verlieren, die Ukraine dürfe ihn nicht verlieren oder müsse ihn gewinnen. Immer deutlicher wird der Unterschied zwischen politischen Erklärungen und der tatsächlichen Situation im Kriegsgebiet.

Die mit grossen Erwartungen verbundene Offensive der Ukraine im vergangenen Jahr ist gescheitert. Der Ukraine fehlt es nicht nur an Waffen und Munition. Die Ukraine hat nicht genügend Soldaten. Viele hunderttausend Männer, die nach ukrainischem Recht zum Militär gehen und kämpfen müssten, sind nach Westeuropa geflohen. Viele finden andere Wege, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Sie nutzen daheim korrupte Netzwerke oder tauchen unter.

Wer bei uns in Deutschland oder in anderen Ländern wollte sich erlauben, dieses Verhalten zu bewerten oder gar zu verurteilen?

Der ukrainische Präsident spricht noch immer vom Sieg, fordert im eigenen Land zusätzliche Anstrengungen und von anderen Ländern noch mehr Waffen und Munition.
Vor wenigen Tagen hat er zum ersten Mal Zahlen genannt, wie viele ukrainische Soldaten im Kampf gestorben sind. Warum er das gerade jetzt tut, welchem Zweck das dient und ob die Zahlen stimmen, darüber kann man nur spekulieren.

Was die Länder angeht, die die Ukraine an unterstützen, drängt sich immer stärker der Eindruck auf, dass die Bekenntnisse zu unbegrenzter militärischer und finanzieller Unterstützung Ersatzhandlungen sind. Ersatz für eine politische Strategie, wie das Töten und Leiden in der Ukraine beendet werden kann, damit die Menschen in der Ukraine möglichst schnell in Sicherheit und selbstbestimmt leben können.

Das setzt weitere Unterstützung für die Ukraine voraus und das muss auch nach Auffassung mancher, die auf Verhandlungen drängen, militärische Unterstützung nicht vollständig ausschliessen. Mehr und etwas anderes als Waffen sind aber auf jeden Fall nötig.

Der Bundeskanzler sagt immer wieder, der Krieg dürfe nicht um jeden Preis beendet werden. Es dürfe keinen russischen Diktatfrieden geben. Damit hat der Bundeskanzler Recht. Besser wäre es, wenn er hinzufügte: Der Krieg darf auch nicht um jeden Preis fortgesetzt werden.

Beide Positionen müssen sich daran messen lassen, was sie für die Menschen in der Ukraine und für Sicherheit und Frieden in Europa bedeuten. Wie viele Soldaten sollen für einen Quadratkilometer zurückerobertes Land sterben müssen? Wo liegt die Grenze zwischen mutiger Selbstverteidigung und sinnlosen Opfern?
Wie viele Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten müssen noch sterben, bevor Gespräche über einen Waffenstillstand wieder aufgenommen werden, die im März 2022 weit gediehen waren?

Soll die NATO gegen alle bisherigen Erklärungen doch Kriegspartei werden? Weiss der französische Präsident, was er sagt, wenn er mit Blick auf den Einsatz Bodentruppen aus NATO-Staaten in der Ukraine erklärt: „…wir haben eine Dynamik, in der nichts ausgeschlossen werden darf.“ ?

Diese Fragen sind umso drängender, als alle wissen, dass die militärische und die finanzielle Unterstützung der Ukraine auch von der innenpolitischen Lage und von der Stimmung in den Ländern abhängt, auf deren Unterstützung die Ukraine in jeder Hinsicht angewiesen ist.

Glaubt jemand ernsthaft, immer mehr Waffen liessen sich bei uns in Deutschland und in anderen europäischen Ländern auf Dauer durch weniger Geld für soziale Sicherheit und die Streichung dringend nötiger Investitionen in die öffentliche Infrastruktur finanzieren?

Um das für möglich zu halten, muss man wohl FDP-Vorsitzender sein. Weit weg von allen, die einen aktiven Staat brauchen und wollen. Weit weg von allen, die über alle ethischen Argumente hinaus für ein Ende des Kriegs sind, weil auch sie unter dessen Folgen leiden.

II.

Die öffentliche Meinung blickt ganz anders auf den Krieg in der Ukraine als die meisten politisch Verantwortlichen in Europa und anders als die veröffentlichte Meinung.

Das zeigt eine vor kurzem veröffentlichte Umfrage des „European Council on Foreign Relations“ (ECFR), für die im Januar Menschen in 12 europäischen Ländern befragt wurden. In deutschen Medien war darüber kaum etwas zu finden. Die Umfrage hatte offenbar nicht die „richtigen“ Ergebnisse, obwohl der Auftraggeber sich sehr bemüht hat, die Zahlen so zu deuten, dass sie zur vorherrschenden Politik passen.

Nur 30 Prozent der Menschen in den zwölf europäischen Ländern glauben, dass der Krieg militärisch entschieden werden wird. 10 Prozent glauben an einen militärischen Sieg der Ukraine und 20 Prozent an einen militärischen Sieg Russlands.

Diese Zahlen sollten allen zu denken geben, die in den Ländern der Befragten politische Verantwortung tragen.

37 Prozent der Menschen glauben, dass es zu einer Verhandlungslösung kommen wird. Ein Drittel kann oder will die Frage nicht beantworten.

Zwischen den zwölf europäischen Ländern gibt es grosse Unterschiede, aber in keinem glauben mehr als 17 Prozent an einen militärischen Sieg der Ukraine. So viele sind es in Polen, Schweden und Portugal. Die Ergebnisse in den vier Ländern der Europäischen Union mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern sind auch klar.

In Deutschland glauben 10 Prozent an einen Sieg der Ukraine und 19 Prozent an einen Sieg Russlands. 31 Prozent glauben, dass es zu einer Verhandlungslösung kommen wird. Ganz ähnlich sind die Ergebnisse in Frankreich. In Spanien und Italien erwarten sogar 44 bzw. 43 Prozent eine Verhandlungslösung. In Ungarn und Griechenland erwarten mit 31 bzw. 30 Prozent die meisten Menschen einen russischen Sieg.

Fragt man die Menschen, was Europa tun solle, wenn es nach ihnen ginge, ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild.

31 Prozent sagen, Europa sollte die Ukraine dabei unterstützen, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern.
41 Prozent meinen, Europa sollte die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland drängen. Gut ein Viertel der Befragten legt sich bei dieser Frage nicht fest.

Deutschland liegt bei den Antworten auf diese Frage ganz nah am europäischen Durchschnitt. In Frankreich und Spanien sprechen sich etwas mehr Menschen als im Durchschnitt für Unterstützung bei der Rückeroberung aus und etwas weniger für das Drängen auf Verhandlungen. In Italien plädieren dagegen 52 Prozent für eine Verhandlungslösung und nur 18 Prozent für Rückeroberung. Schweden, Portugal und Polen sind die Länder, in denen die Rückeroberung die stärkste und Verhandlungen die geringste Unterstützung finden.

Mit Blick auf die Präsidentenwahl in den USA hat der ECFR auch fragen lassen, was Europa tun sollte, wenn die USA unter einem neuen Präsidenten ihre Unterstützung für die Ukraine deutlich einschränkten.

20 Prozent sagen, Europa sollte seine Unterstützung dann verstärken und die USA so weit wie möglich ersetzen, damit die Ukraine den Krieg weiter führen kann. 21 Prozent wollen die europäische Unterstützung dann unverändert fortsetzen. Das sind zusammen 41 Prozent für gleichbleibende oder stärkere Unterstützung. 33 Prozent vertreten die entgegengesetzte Auffassung: Europa sollte dem Beispiel der USA dann folgen und die Ukraine zu einem Friedensschluss mit Russland ermutigen. Ein gutes Viertel der Befragten legt sich nicht fest.

In Deutschland wollen 22 Prozent die ausfallende Unterstützung durch die USA europäisch ausgleichen. 36 Prozent wollen, dass Europa die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland drängt und 19 Prozent wollen die Unterstützung unverändert fortsetzen. Auch in Deutschland spricht sich also nur eine Minderheit für stärkere oder gleichbleibende Unterstützung aus.

In Schweden, Polen und Portugal sind überdurchschnittlich viele Menschen für zusätzliche oder gleichbleibende militärische Unterstützung und unterdurchschnittlich viele dafür, die Ukraine zu Friedensverhandlungen zu drängen.

Besonders gering ist die Zustimmung zu mehr oder gleichbleibender militärischer Unterstützung in Italien, Ungarn und Griechenland. Dort sind besonders viele dafür, auf Friedensverhandlungen zu drängen.

III.

Die Umfrage des ECFR zeigt, dass es deutliche Unterschiede in den europäischen Ländern und zwischen ihnen gibt. Sie zeigt aber auch, dass die Kluft zwischen dem, was die Menschen für richtig oder falsch halten auf der einen Seite und den öffentlichen Erklärungen der meisten politisch Verantwortlichen auf der anderen Seite noch deutlich grösser ist.

Es kann keine Rede davon sein, dass die Politik von NATO und EU in den zwei Jahren nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von allen oder von der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Europa unterstützt und für richtig gehalten wird.

Alle Erfahrungen zeigen, dass in in Demokratien nicht auf Dauer eine Politik gemacht werden kann, die bei grossen Minderheiten oder sogar Mehrheiten der Bevölkerung auf Skepsis oder Ablehnung stösst. Das sollte für alle politisch Verantwortlichen ein Grund mehr sein, über das Militärische, über Waffen und Munition hinauszudenken.

Es ist höchste Zeit ohne Tabus nach Wegen zu suchen, das Töten und Leiden der Menschen in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden, auch im Interesse aller, die von diesem Krieg in vielen Teilen der Welt indirekt betroffen sind.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “Blog der Republik”, mit freundlicher Genemigung des Autors. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.

Über Christoph Habermann:

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