Warum der Islamismus für Russland zum Problem werden könnte – Russland bagatellisierte Hinweise auf den Anschlag. Weitere Terrorakte sind möglich. Bislang scheint der Westen darauf besser vorbereitet zu sein.

Der Wettstreit zwischen dem kollektiven Westen und den aufstrebenden Mächten im Osten ist seit dem Februar 2022 mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges in Erscheinung getreten. Überall auf der Welt brennt es derzeit. Auf den Ukraine-Krieg in Europa ist das Aufflammen des neuen Gaza-Krieges im Nahen Osten gefolgt. Der Westen hat sich bisher auf den aktuellen Schlachtfeldern nicht durchsetzen können.

Nach der gescheiterten Gegenoffensive Kiews im Sommer gehen der Ukraine Soldaten und Munition aus, wobei sich das Blatt an der Front in den vergangenen Monaten immer mehr zugunsten Moskaus gewendet hat. Ohne US-Hilfen muss Kiew nun laut den Worten Selenskyjs die Truppen schrittweise zurückziehen.

Auf einem weiteren kriegerischen Schauplatz ist es dem US-Verbündeten in Nahost, Israel, trotz der ununterbrochenen Waffenlieferungen aus Washington nicht gelungen, bei seiner Militäroperation in Gaza die Hamas zu eliminieren und die Geiseln aus der Hand von palästinensischen Milizen zu befreien, obwohl die IDF in Gaza eine Verwüstung durch das massive Bombardement hinterlassen hat.

Die Rivalität zwischen den USA und ihren Gegenspielern, nämlich Russland und Iran, beschränkt sich derzeit aber nicht nur auf die Schlachtfelder, und zwar Ukraine und Gaza im Rahmen der Stellvertreterkriege. Die beiden Seiten führen einen hybriden Krieg gegeneinander, aus dem der Westen aber bisher als Sieger hervorgegangen ist.

Die hybride Kriegsführung ist eine Kombination verschiedener Mittel. Der Schwerpunkt liegt auf dem zivilen Bereich, wobei das primäre Angriffsziel die staatliche und gesellschaftliche Ordnung und deren Zusammenhalt ist. Die Elemente dieser multidimensionalen Kriegsführung sind vor allem die Informationssammlung und Medien-Kampagnen.

Russland ignoriert Hinweise

Der tödliche Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle Crocus City Hall hat erneut unter Beweis gestellt, dass der Westen unter Führung der USA im Bereich des Informationskriegs am längeren Hebel sitzt: Am 8. März hatten die US-Botschaft in Moskau und im Anschluss daran andere Vertretungen westlicher Staaten dazu aufgerufen, Menschenansammlungen in der Hauptstadt zu meiden, da „Extremisten“ sie angreifen könnten.

Es soll bei der CIA seit November einen „steten Geheimdienstinformationsfluss“ dazu gegeben haben, dass die Islamisten Russland angreifen wollten. Doch Präsident Putin bezeichnete diese drei Tage vor dem Terroranschlag als „provokative Erklärungen“ und sprach von „offener Erpressung in der Absicht, unsere Gesellschaft einzuschüchtern, zu destabilisieren“.

Dass Russland die Warnungen der USA öffentlich in den Wind schlug, war zwar schon fahrlässig, aber es bleibt unklar, wie viel von diesen Informationen die US-Amerikaner mit Moskau geteilt haben. Sicherheitskräfte in Russland verfolgten eine Spur in Richtung Ukraine, weil der Kreml dabei an seinem Feindbild arbeitet, um die Zustimmung des Volkes für den Ukraine-Krieg zu stärken.

Nachdem zahlreiche Funktionäre in Moskau die Verwicklung der Islamisten in den Anschlag als Fake-News abgetan hatten, machte der russische Präsident nach langem Schweigen „radikale Islamisten“ für den Angriff im Konzertsaal bei Moskau verantwortlich. Putin unterstich allerdings: „Uns interessiert der Auftraggeber.“

Nach Einschätzung der US-Regierung sitzen die Drahtzieher des Anschlags auf die Moskauer Konzerthalle in Afghanistan. Der afghanische Ableger wurde im Januar 2015 mit Unterstützung der IS-Zentrale im Irak ausgerufen. An Bedeutung gewann er, nachdem der Terrorstaat des IS im Irak und Syrien, das sogenannte Kalifat, Ende 2017 zusammenbrach.

Die ersten Kommandeure des IS-Khorasan, benannt nach einem historischen Gebiet in Zentralasien, waren abtrünnige Mitglieder der afghanischen und der pakistanischen Taliban. Große Aufmerksamkeit erlangte der IS-Khorasan erstmals im August 2021 mit einem Bombenanschlag am Flughafen Kabul in den Wirren des Abzugs der US-Truppen nach der Machtübernahme der Taliban. Dabei wurden 170 Afghanen und 13 US-Soldaten getötet.

Genaue Beobachtungen vonseiten der USA

Ihre Fähigkeit, große Anschläge jenseits von Afghanistan zu verüben, stellte die Gruppe im Januar dieses Jahres im iranischen Kerman unter Beweis, wo mehr als 90 Menschen bei einem Bombenanschlag getötet wurden. Vor dem Massaker von Kerman soll auch die US-Regierung nach eigenen Angaben Geheimdienstinformationen über entsprechende Anschlagspläne der Terrormiliz „Islamischer Staat“ an Iran übermittelt haben. Dies ließ wiederum erkennen, inwieweit die USA die Entwicklungen in der Region angesichts ihrer geheimdienstlichen Aktivitäten genau beobachten.

Die IS-Strukturen sind aber seit 2017 in der Region zusammengebrochen. Ob es sich bei den Anschlägen in Russland und Iran konkret um einen Ableger vom IS handelt oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass die islamistisch motivierten Terrorakte derzeit dezentral sind, aber zugleich global agieren. Russland gehört schon längst zu den Ländern, die die Islamisten im Visier haben, unter anderem wegen Moskaus Unterstützung für den syrischen Staat bei dessen Kampf gegen die Islamisten.

Vor zwei Jahren verübte auch die Miliz einen Anschlag vor der russischen Botschaft in Kabul. In ihrer Anti-Russland-Propaganda hetzen die Islamisten gegen den Kreml. Das dient auch der Rekrutierung von Dschihadisten aus den früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan, für die Moskau ein Feindbild darstellt. Als Rekrutierungsbasis dienen den Terroristen dabei nicht nur Muslime im russischen Nordkaukasus, sondern auch Islamisten aus Zentralasien und Afghanistan.

Russland versucht, die Ukraine als Unterschlupf islamistischer Extremisten zu diskreditieren. Der Vorwurf ist allerdings nicht aus der Luft gegriffen. Dabei ist anzumerken, dass die Medien im Westen bereits letztes Jahr über eine steigende Anzahl ausländischer Kämpfer berichtet haben, die Syrien verließen, um sich auf das „neue Schlachtfeld“ in der Ukraine zu begeben. Al-Monitor meldete damals die Verlegung einiger Dschihadisten aus Idlib – die letzte Hochburg der Islamisten in Syrien – in die Ukraine. Dies galt vor allem für ausländische Kämpfer, insbesondere aus Zentralasien oder dem Nordkaukasus.

Signifikanter Anstieg von IS-Kämpfern

Zwei Kriege führte Tschetschenien bereits gegen Russland. Der zweite Tschetschenienkrieg, der 1999 mit der Präsidentschaft Putins begann und offiziell 2009 für beendet erklärt wurde, richtete sich gegen islamistische Extremisten. Seit dem Ukraine-Krieg kämpfen zahlreiche Tschetschenen auf der Seite Kiews gegen Moskau, genauso wie nordkaukasische Dschihadisten in Syrien gegen Russlands Unterstützung für Assad gekämpft haben. Sie alle grenzen sich vor allem von Kämpfern des Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien Ramsan Kadyrow ab, die auf der Seite des Kremls stehen.

Vor diesem Hintergrund gibt es Bruchstellen im multiethnischen Staat Russland, die jeder Zeit eine Sicherheitskrise auslösen könnten. Die Region ist derzeit mit einem signifikanten Anstieg islamistischer Kämpfer aus dem postsowjetischen Eurasien konfrontiert, deren Aktivitäten sich von den Taliban in Afghanistan über den Nordkaukasus bis zu der sich im Kriegszustand befindenden Ukraine erstreckt.

Das heißt allerdings nicht automatisch, dass die Taliban oder Kiew Auftraggeber eines Anschlags sind. China wies längst auf die Gefahr eines Anstiegs der Terrorakte in Asien hin und forderte als erstes Land multilaterale geheimdienstliche Tätigkeiten zur Abwehr der Terrorgefahren ein.

Der chinesische Staatschef Xi Jinping warnte mehrfach vor der Anzettelung sogenannter „Farbrevolutionen“ und der Unruhestiftung in den Mitgliedsstaaten der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Bereits auf dem SOZ-Gipfel im Jahr 2022 hatte Xi die Mitgliedsstaaten der Gruppe dazu aufgerufen, einander bei der Abwehr gegen den Einfluss ausländischer Mächte zu unterstützen. China hatte seinerzeit angekündigt, dass sein Land in den kommenden fünf Jahren eine Ausbildungsstätte mit Schwerpunkt Terrorismus-Bekämpfung einrichtet und bereit ist, 2.000 Sicherheitsbeamte aus den SOZ-Ländern auszubilden.

Russland wird in der Ukraine keinen strategischen Sieg verbuchen, solange es nicht die Bruchstellen seiner multiethnischen Gesellschaft aufarbeitet und den Sicherheitsgefahren nachspürt. In einem größeren Kontext wird die asiatische Integration unter Führung Chinas im Rahmen des Neue-Seidenstraße-Projektes auch keinen Erfolg auf geopolitischer Ebene erzielen, wenn die Sicherheit und Stabilität der asiatischen Staaten nicht gewährleistet werden.

Mit der Übermittlung der Informationen zu bevorstehenden Anschlägen an Russland und Iran wollten die USA unter anderen austesten, in wieweit die US-Rivalen von den Gefahren in ihrer Umgebung Kenntnis haben. Der Westen setzt auch bei seiner hybriden Kriegsführung auf Medienkampagnen, wonach er Proteste und Unruhen in seinerseits „missliebigen Staaten“ indirekt steuern könnte, indem er den sozialen Bruchlinien in den jeweiligen Ländern seiner Rivalen mediale Aufmerksamkeit schenkt. Das betrifft auch die Proteste 2022 in Iran, die Prigoschin-Meuterei 2023 in Russland, oder die „Diskriminierung“ der muslimischen Uiguren in China.

Die drei Gegenspieler des Westens, Teheran, Moskau und Pekings, sind derzeit aber weit davon entfernt, bei dem Informationskrieg mit dem Westen mitzuhalten. Und das gibt den USA einen Spielraum den Aufstieg seiner Rivalen hinauszuzögern, um neue Strategien zur Befestigung ihrer Hegemonie zu entwickeln.

Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler und freier Journalist mit dem Schwerpunkt Geopolitik. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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