Warum Menschen Cuba verlassen – oder zurückkehren

Große deutsche Medien sprechen selten über Cuba. Doch Mitte März schafften es Bilder aus Santiago in die Schlagzeilen von Spiegel, Zeit und Co. „Wir haben Hunger“, skandierten mehrere hundert Menschen auf den Straßen, sie forderten Strom, Treibstoff, Nahrung. Der ständige Krieg gegen die Insel und der Kampf gegen den wirtschaftlichen Niedergang zehren an den Nerven der Menschen. Klar, dass viele das Land verlassen. Doch einige Cubaner*innen kommen auch zurück. Was treibt sie an?

Auf den ersten Blick haben sie nicht viel miteinander zu tun. Aber die unterschiedlichen Ereignisse der letzten Monate zeigen: Auf und um Cuba gibt es harte Konfrontationen.

2. November 2023: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte zum 31. Mal für das Ende der US-Blockade gegen Cuba, mit 187 gegen zwei Stimmen (USA, Israel). Folgen: keine. Die deutsche Medienlandschaft, die im Allgemeinen sehr genau die UN-Resolutionen verfolgt, reagierte mit kollektivem Schweigen.

Ende Januar legten zwei ausländische Cyberattacken auf Institutionen der Insel wesentliche Bereiche lahm. Es traf den Finanzdienstleister Fincimex, über den ein Großteil der Geldüberweisungen aus den USA abgewickelt wird. Etwa zwei Monate war er außer Kraft gesetzt. Sodann traf es das System der Treibstoffversorgung, so dass die drastischen Preiserhöhungen beim Benzin erst einen Monat später als geplant in Kraft treten konnten. Das wiederum war der leidgeprüften Bevölkerung nicht unrecht…

Anfang Februar wurden 133 Tonnen rationiertes Hühnchenfleisch aus einer staatlichen Fabrik in Havanna gestohlen, der spektakulärste Lebensmittelraub in der Geschichte des Landes. Die Urheber des Ganovenstücks wurden erwischt. Es waren Schichtleiter, IT-Mitarbeiter und Sicherheitskräfte aus der Fabrik. Die Medien des Landes verschwiegen den Vorfall nicht wie früher, im Gegenteil. Die Botschaft sollte lauten: „Wir kriegen euch.“

20. Februar: Die in Spanien ansässigen, aber aus dem US-Staatssäckel unterstützten, „Prisoners Defenders“ und deren Chef J. Larrondo hatten José Manzaneda vom Solidaritätsmedium „Cubainformación“ sowie Vertreter der Organisation „Euskadi – Cuba“ vor den Kadi gezerrt. Cubainformación, das die völkerrechtswidrige Blockade der Insel durch Washington als Krieg gegen Cuba bezeichnet, hatte in einem Artikel die leidenschaftlichen Blockadeverfechter*innen von Prisoners Defenders als „Kriegsverbrecher wie Donald Trump“ bezeichnet. Dafür wurden seitens der klagenden Organisation wegen behaupteter Verleumdung nun sechs Jahre Haft für Manzaneda und Kollegen gefordert, womit letztlich die Schließung des unliebsamen gegnerischen Mediums erzwungen werden sollte. Das 31. Strafgericht in Madrid bereitete nun den nach eigenem Verständnis „anticastristischen“ Klägern eine krachende Niederlage und brummte ihnen wegen der „Tollkühnheit und Unredlichkeit“ der Klage die Verfahrenskosten auf. Manzaneda und Kollegen wurden von allen Vorwürfen entlastet. Der inkriminierte Begriff, so das Gericht, sei im Kontext des verfassten Artikels höchstens als Hyperbel, als übertriebener Vergleich, zu werten. Auf der reißerischen Homepage von Prisoners Defenders findet sich zum peinlichen Scheitern bei Gericht bis heute kein Wort. Dass einer – laut Selbstdarstellung – Menschenrechtsorganisation gerichtlich attestiert wird, die Meinungsfreiheit politischer Gegner nicht zu respektieren, ist pikant.

Im März nahmen die Stromsperren wieder drastisch zu. Hintergrund waren zum einen fehlende Importkapazitäten für Erdöl, zum anderen wurde das Kraftwerk Antonio Guiteras, größter Stromerzeuger der Insel, wegen notwendiger Wartungsarbeiten vom Netz genommen. In der Provinz fehlte der Strom teilweise bis zu 18 Stunden täglich, ein erneuter Stresstest für die geplagte Bevölkerung.

5. März: Die französische Biathlon-Weltmeisterin Sophie Chauveau erklärte, die Einreise in die USA zur Teilnahme am Weltcup in Utah sei ihr verweigert worden, weil sie einen Urlaub auf Cuba verbracht habe.

Am 7. März teilte Havanna mit, gegen den gerade einen Monat zuvor als Wirtschaftsminister entlassenen Alejandro Gil Fernández werde wegen schwerer Vergehen gegen seine Amtspflichten ermittelt. Die Nachricht war eine Bombe, doch offizielle Details wurden noch nicht genannt. Laut Gerüchteküche sollen der Exminister und mehrere Familienangehörige in einen schweren Korruptionsfall in der Provinzhauptstadt Ciego de Ávila verwickelt sein.

„Komm‘ bloß nicht hierher“

Was die Beispiele zeigen: Auf allen Haupt- und Nebenkriegsschauplätzen geht es hoch her. Die geschlauchte Inselbevölkerung sucht in diesem permanenten Ausnahmezustand ihr Heil mal in der Eröffnung kleiner Unternehmen, mal in Schwarzmarktgeschäften, Delinquenz, Korruption oder dem Ausnehmen des eigenen Betriebs. Und in der Migration.

Es ist bekannt, dass die Insel demographisch austrocknet und mehr als eine halbe Million Cubaner*innen seit 2021 migriert sind, meist in die USA. Nur eine kleine Minderheit versucht es noch als „balseros“ auf dem Seeweg. Stärker frequentiert ist der Landweg, zum Beispiel visumsfrei nach Nicaragua und dann nach Norden. Bisher haben 75000 Personen im Rahmen des Programms „parole humanitario“ eine*n Paten/Patin in den Staaten, der*die eine privilegierte Übersiedlung und Eingliederung durch materielle Unterstützung ermöglicht. Unter den Auswander*innen sind Menschen, die den Status Quo als so traumatisierend empfinden, dass sie den Glauben an Besserung oder an die Revolution verloren haben. Doch ebenso gibt es Menschen, die ihren Migrationsstatus als temporär ansehen und zurück wollen, sobald sie genügend angespart haben. Auch sind nicht alle dort, wo sie gelandet sind, mit ihrem Schicksal zufrieden. Für Adrian, 29 Jahre und beschäftigt in einem privaten Tante-Emma-Laden in Santiago de Cuba, steht außer Frage, dass er in Cuba bleibt. Er erzählt von seiner besten Freundin, die vor zwei Jahren in die USA gegangen ist: „Sie schreibt: Komm’ bloß nicht hierher. Das Geld geht komplett für Miete und Essen drauf. Ich bin in zwei Jahren kein einziges Mal ausgegangen. Was ist das für ein Leben hier?“ Ein anderer Ausgewanderter war früher als Geschäftemacher mit legalen – um der Fassade willen – wie Schwarzmarktgeschäften der ungekrönte König in seinem Dorf, wollte aber mehr und wanderte aus. Heute komme er in Florida zwar irgendwie durch, habe aber als Putzkraft seine frühere Stellung im sozialen Gefüge verloren und sei zu einem Niemand geworden.

Solche Erzählungen existieren in unendlichen Variationen. Mit dem politischen Hass und der extremen Intoleranz des Exils in Florida gehen die Einwander*innen unterschiedlich um. Manche passen sich problemlos an; andere entwickeln Störgefühle, die sie mit der neuen Heimat fremdeln lassen, denn es gebe dort auch keine Meinungsfreiheit, man müsse aufpassen, was man sage. Auch bekannte Künstler*innen können scheitern: Als der Spielfilm „Sergio und Sergej“ (2017) von Ernesto Daranas in den USA präsentiert wurde, setzte sich der Protagonist und in Cuba recht populäre Fernseh- und Kinodarsteller Tómas Cao ab. Seine Hollywoodträume erfüllten sich nicht. 2018 tauchte Cao noch in einer US-Fernsehserie auf, dann war Schluss. Zuletzt sei er als Angestellter eines Supermarkts in Florida gesehen worden. Der cubanische Musiker „El Médico de la Salsa“ lebte zeitweise in Miami und bezeichnete die Stadt einst als Friedhof für cubanische Künstler*innen. Das ewige Wechselspiel zwischen Faszination des Westens und Desillusionierung: der Sehnsuchtsort als Hort von Fassade und schönem Schein.

Mehl für alle?

Wenn Rückkehrwillige (es gibt sie auch jetzt!) mit der Selbstständigkeit liebäugeln, wünschen sie sich Rechts- und Planungssicherheit. Das ist im Cuba der verselbstständigten Monsterbürokratie nicht ganz einfach.

Ein Beispiel: Der Staat ist in der schweren aktuellen Krise derartig klamm, dass er für den Monat März nicht genug Mehl für das subventionierte Brot der Bevölkerung importieren kann, und das obwohl der Weizenpreis auf dem Weltmarkt gefallen ist. Somit kratzen Leute ihr letztes Geld zusammen, um teurer bei MIPYMES (MIcro-, Pequeñas Y Medianas EmpresaS; Mikro-, kleine und mittlere Unternehmen) zu kaufen und somit wenigstens über Brot zu verfügen. In der Provinz Santiago wurde verfügt, dass dort, wo das subventionierte Brot nicht mehr hinkommt, auch die Privaten kein Brot mehr backen dürfen. Der Staat will stattdessen die MIPYMES „kapern“ und dort zu seinen Konditionen mit deren Mehlvorrat produzieren, sei es, um die Inflation nicht weiter zu treiben, oder sei es aus Gründen von Gesichtswahrung. Selbst wenn der Staat die Betriebe nur temporär übernimmt, würden die Eigentümer*innen der MIPYMES ihre hohe Investition für Kauf und Transport des Mehls verlieren. Weil sie das als Vertragsbruch durch die Provinzregierung empfinden, widersetzen sie sich dem Plan und bestreiken sozusagen die eigenen Betriebe. Leidtragend ist die schäumende Bevölkerung, die nun weder da noch dort ihr Brot findet.

Der Vorfall zeigt, wie eine kafkaeske Bürokratie sich nicht von selbst geschlagen gibt, vielmehr existiert ein Hin und Her zwischen dem Eindämmen und dem Wiederaufflackern bürokratischer Auswüchse. Kann man mit einem Zurück in eine alte Überregulierungskultur das Land wieder zum Laufen bringen, Vertrauen zurückgewinnen und Menschen zum Bleiben oder zur Rückkehr bewegen? Eine rhetorische Frage.

Der Lebensstandard kennt seit Beginn der Pandemie nur eine Richtung: nach unten. Die harsche Reaktion des im Abwehrkampf befindlichen Staates auf die Proteste des 12. Juli 2021 war insbesondere für Angehörige der jüngeren Generation ein Schock. Politische Resignation ist neben dem wirtschaftlichen Kollaps ein Hauptgrund für die Migration bei den Jüngeren.

Gibt es Aussicht, dass sich im Jahresverlauf etwas zum Besseren verändern könnte? Zumindest kamen im Januar etwa 50 Prozent mehr Tourist*innen als im Vorjahr. Es besteht Hoffnung auf neue Abkommen zum Export von Medikamenten und ärztlichen Dienstleistungen. Soeben weilte eine Großdelegation des ägyptischen Gesundheitsministeriums auf der Insel. Auch liegt die landwirtschaftliche Produktion nicht flächendeckend brach. In manchen Kommunen nimmt man den Appell zur Eigenverantwortung für die Produktion wohl ernster als anderswo. Es geht darum, „best practice“-Beispiele zu verallgemeinern. Zwei große neue Photovoltaikparks gehen im März ans Netz, weitere folgen bis Mai 2025. Der zuletzt vor sich hindümpelnde Weltmarktpreis des Hauptexportprodukts Nickel scheint sich langsam wieder auf den Weg nach oben zu machen, auch beim Tabak läuft’s gut. Wird das reichen? Und werden die Reformbemühungen greifen? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber bis mehr Menschen zurückkommen als die Insel verlassen, wird viel Zeit vergehen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 474 April 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Andreas Hesse / Informationsstelle Lateinamerika:

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