Jüdisches Museum Berlin: Etwas weckte meine traumatische Erinnerung an die Armee – Eine Zufallsbegegnung im Café des Jüdischen Museums Berlin konfrontiert unseren Autor mit alten Traumata aus seiner Zeit in der israelischen Armee.
Vor nicht allzu langer Zeit, im April dieses Jahres, besuchte ich das Café im Jüdischen Museum in Berlin, um einen Americano zu trinken. Eine deutsche Frau servierte mir meinen Kaffee. Als ich sie ansah, bemerkte ich eine Halskette aus Metall, verziert mit einem Plättchen. Sie erinnerte mich an eine Kette, die ich selbst während meiner Zeit als Soldat trug. Auf ihrem Metallplättchen waren jedoch die Worte „My heart is kidnapped in Gaza“ eingraviert. Neugierig geworden, kam ich mit ihr ins Gespräch.
Ich erzählte ihr, dass ich solche – von Soldaten getragenen – Metallplättchen seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie lächelte freundlich und erwiderte: „Sehen Sie, ich trage sogar Kleidung in der Farbe der Soldatenuniformen.“ Sie trug tatsächlich ein dunkelgrünes Kleid.
Ich erwiderte, dass ich mich seit der Armee weigere, Kleidung dieser Farbe zu tragen, und dass ich erst kürzlich eine grüne Jeans zurückbringen musste, die ich von meiner Partnerin zu Ostern geschenkt bekommen hatte. Ich musste weinen. In diesem Moment kamen die Bruchstücke eines Traumas hoch.
Ein Lied begann in mir zu erklingen.
Als ich in die israelische Armee eingezogen wurde (1990–1993), fehlte es mir an kritischem Bewusstsein und ich entschied mich für den Dienst im Artilleriekorps. Erst als ich auf dem Ausbildungsstützpunkt in der gelben Weite der Negev-Wüste im Süden Israels ankam, erkannte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
Innerhalb kurzer Zeit wandelte ich mich von einem überzeugten Anhänger der Werte der demokratischen Gesellschaft, die mir während meiner Schulzeit eingeimpft worden waren, zu einem Realisten, der begriff, dass seine Rechte abgeschafft worden waren. Plötzlich fühlte ich mich als Teil eines diktatorischen Systems, in dem nur die starken Soldaten überleben konnten. Die Befehlshaber bemerkten schnell meine Neigung zum Tagträumen und hielten mich für schwach.
Dann, in meiner ersten Auszeit von der Armee, kaufte ich eine Eintrittskarte für die Rockshow der beiden israelischen Musiker Rami Fortis und Berry Sakharof, die ihr neues Album „Stories from the Box“ vorstellten. In einem der Lieder singt Rami Fortis:
„Der König hier, die Königin dort
Baden tief im Mord
Die großen Nationen verbreiten Chaos
Verbreiten leere Worte, verbreiten Mottos
Die Masse jubelt und hisst die Banner
Es rollen die Köpfe in der dunklen Kammer
Narrenzirkus, Eintritt frei …“
(Rami Fortis, „Schuhe“, 1992; übersetzt von Marie Ch. Behrendt)
Fortis war ein Prophet. Er warnte uns vor der Zukunft
Während ich wie wild tanzte, verlor das Publikum während der Show den Verstand. Sie brüllten Fortis an, dass er verrückt sei. Er war in einer Weise ekstatisch, wie man es auf israelischen Bühnen noch nie gesehen hatte. Er schnitt alle möglichen Grimassen und gab während seines Rockkonzerts eine überdrehte Vorstellung. Heute denke ich, dass Fortis wie ein Prophet war, der uns mit seiner Musik vor der Zukunft warnte. Wir lebten im Schatten der ersten Intifada, und der Golfkrieg und der Osloer Friedensprozess hatten noch nicht begonnen.
Wir haben nicht damit gerechnet, dass Israelis am 7. Oktober 2023 von den Hamas-Terroristen abgeschlachtet werden würden. Wie es in dem Lied heißt:
„Es rollen die Köpfe in der dunklen Kammer
Narrenzirkus, Eintritt frei …“
Und in der Tat, es ist ein Narrenzirkus: Die Hamas, Netanjahu und seine extrem nationalistische Regierung – die ganze Region steuert auf einen Abgrund zu.
Nachdem die Rockshow vorbei war, log ich die Armeebehörden an und behauptete, ich sei krank gewesen. Ich wollte nicht zum Stützpunkt zurückkehren. Stattdessen ging ich zu einer anderen Show mit der gleichen Band. Ich hörte mir das gleiche Lied an. Der Refrain geht so:
„Schuhe, Schuhe, Kühlschrank, Kühlschrank
Um mir das Hirn einzufrier’n
Ich will’s ignorier’n – Schuhe …“
Erst dann kehrte ich zur Ausbildung der Panzereinheit zurück, wo ich lernte, wie man auf diese gewaltige Stahlmaschine – die „Merkava“ – schießt. Der Refrain des Liedes lief in meinen Ohren weiter wie ein Ohrwurm:
„Schuhe, Schuhe, Kühlschrank, Kühlschrank
Um mir das Hirn einzufrier’n …“
Später fanden sie heraus, dass ich gelogen hatte, und hatten eine Strafe parat.
Viele Menschen in Israel leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung
Rami Fortis erzählte einmal, dass er aus den Schlachten des Krieges von 1973 mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückgekehrt sei. Er ergänzte, er habe nichts über den Krieg gewusst. Während er noch Pink Floyd hörte, begann der Krieg, und sofort wurde er in die gelbe Sinai-Wüste geschickt, um gegen die ägyptische Armee zu kämpfen. Er sah einen endlosen Bombenregen, ein Sprengkörper tötete seinen besten Freund. Das Geräusch dieser fallenden Bomben hat ihn nie verlassen.
Fortis sagte auch, dass die meisten Menschen in Israel direkt oder indirekt von einer posttraumatischen Belastungsstörung betroffen seien. Als ich die Daten einer im Jahr 2022 durchgeführten Studie überprüfte, zeigte sich, dass etwa 93 Prozent der entlassenen israelischen Kämpfer angaben, einem traumatischen Ereignis ausgesetzt gewesen zu sein. In einigen Fällen kann ein Trigger erst mehrere Jahre nach einem Ereignis auftreten.
„Schuhe und ein Kühlschrank
Um mir das Hirn einzufrier’n
Ich will’s ignorier’n – Schuhe …“
Rami Fortis bittet um ein Paar Schuhe und einen Kühlschrank. Ein paar Schuhe, um so weit wie möglich dem heißen Sand der Wüste Sinai, dem Ort des Traumas, zu entfliehen. Und einen Kühlschrank, um das Hirn zu kühlen, nicht nur, weil er in der Hitze kämpft, sondern auch, weil er vergessen will.
Ich glaube nicht, dass ich mich zufällig an den Song von Fortis erinnert habe. Fortis war einer der Gründer von Minimal Compact, der Band, die Ende der 80er-Jahre in Europa sehr erfolgreich war. Aber er kehrte zurück, um in Israel zu leben. Er war vor mir in Berlin gewesen und hatte genau wie ich über die Stadt geschrieben; und wir beide können den Schrecken des anderen Ortes nicht vergessen.
Ich habe meine Schuhe genommen und habe Israel weit hinter mir gelassen. Ich lebe an einem kühlen Ort, bin verheiratet und jetzt Vater mit einer literarischen Karriere. Und obwohl ich in einem Berliner Café in aller Ruhe einen Americano trinken kann, vermag es eine kleine Halskette mit einem Metallplättchen, alles wieder hochzuholen.
Menschen kommen und gehen und ich sitze fest, an einem bestimmten Ort, innerlich gefangen in Ängsten, die mich abrupt in unergründliche Kammern meiner Erinnerung katapultieren. Die Türen meines Bewusstseins öffnen sich mit Schrecken.
Man sperrte mich in eine Zelle im Militärgefängnis
Ich erinnere mich daran, wie wir irrtümlich mit unseren Panzern auf eine Familie von Schweinen schossen, die im Südlibanon in einer Reihe hintereinander liefen, weil wir sie für Terroristen der Hisbollah hielten.
Ich erinnerte mich daran, wie ich meine Mutter anflehte, mich aus der Armee zu holen, weil ich Tag für Tag seelisch misshandelt wurde. Aber sie sagte mir, dass ich keine Arbeit finden würde, wenn ich den Militärdienst nicht beenden würde.
Ich erinnere mich, wie ich einmal den Auftrag erhielt, den Zustand der leeren Wasserbehälter in einigen Panzern zu überprüfen. In dem Bericht, den ich vorlegen musste, entdeckte ich, dass die Unterschrift eines Arztes erforderlich war, um den Zustand der Behälter zu bestätigen. Mein Befehlshaber setzte sich über dieses Detail hinweg. Er bestand darauf, dass ich den Bericht unterschreibe, und versicherte mir, dass alles geregelt werden würde. Da ich jedoch nicht bereit war, die Verantwortung für die Wasserbehälter der Panzer zu übernehmen, ohne eine ordnungsgemäße Bestätigung zu erhalten, weigerte ich mich zu unterschreiben. Wegen dieser Weigerung sperrte man mich in eine Zelle im Militärgefängnis.
Natürlich fanden sie einen anderen, offiziellen Grund: Eines Tages ging ich duschen und ließ meine Waffe im offenen Raum liegen. Später rief mich mein Kommandeur zu sich und beschuldigte mich, meine persönliche Waffe zurückgelassen zu haben. Ich erwiderte, dass jeder Soldat ohne seine Waffe dusche. Trotz meiner Versuche, mich zu verteidigen, wurde ich noch in derselben Nacht zu drei Wochen Militärgefängnis verurteilt.
Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis beschloss ich, mit Freunden in einer Bar im Zentrum von Hadar, Haifa, zu feiern. Ich werde nie vergessen, wie ich mitten in der Nacht loszog, um Zigaretten zu kaufen. Die Erfahrung im Gefängnis war mir noch so nah. In der Haft konnte ich nicht einmal pinkeln, ohne dass fünf andere Leute mich hörten …
Ich musste an den Philosophen Slavoj Žižek denken
Als ich loslief, um Zigaretten zu kaufen, überkam mich der Rausch der Freiheit, und ich sprang vor Freude. In meinem Überschwang schätzte ich jedoch die Höhe falsch ein, und ein niedriges Dach des örtlichen Marktes schlug mir in dieser Nacht den Schädel ein. Ich kehrte zum Stützpunkt zurück, geprellt und entmutigt.
Ich musste an den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek denken. Er schreibt, wir müssten akzeptieren, dass unser Leben einen traumatischen Kern beinhalte, der sich der Erlösung entziehe; dass es eine Dimension unseres Seins gibt, die sich der vollständigen Befreiung für immer widersetze.
Auch meine Wochenendlüge, die es mir ermöglichte, ein weiteres Konzert zu besuchen, holte mich wieder ein: Als ich meinen Armeedienst bei den IDF beendete, wussten meine Vorgesetzten irgendwie, dass ich nur vorgetäuscht hatte, krank zu sein, um zu Hause zu bleiben. Alle Soldaten in meiner Einheit bekamen den letzten Monat ihrer dreijährigen Dienstzeit erlassen. Ich musste die vollen drei Jahre und einen Tag absolvieren.
Danach ging ich zu einem Therapeuten und fragte ihn, ob er mir helfen würde, endgültig aus dem Militärdienst auszusteigen. Das hieße, dass ich nicht jedes Jahr einen Monat in der Reserve dienen müsste. Ich hatte Erfolg. Ich wurde nie wieder eingezogen.
Und dennoch: Eine Zufallsbegegnung in einem Café, ein Blick auf die tragischen Nachrichten über den Gaza-Krieg – und in mir kommt alles wieder hoch.
Mati Shemoelof, Jahrgang 1972, ist ein preisgekrönter Schriftsteller, Dichter, Aktivist, Autor und Kurator. In diesem Jahr (2024) hat er ein Stipendium des Literaturfonds Deutschland erhalten, um sein erstes Buch auf Deutsch zu schreiben: „Jiddische Sounds, Deutsche Wörter“. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden. In der Berliner Zeitung ist er mittlerweile digital eingemauert.
Schreibe einen Kommentar