Medizinische Versorgungszentren: Ein Erfolgsmodell aus der DDR im Fokus des Kapitals – Unser Autor ist Ökonom und prognostiziert: Den medizinischen Versorgungszentren gehört die Zukunft, wenn die Politik die richtigen Weichen stellt.

Christian Schwager warnte in dieser Zeitung vor einer Orientierung des Gesundheitswesens an Profitinteressen: „Daseinsvorsorge ist kein Geschäftsmodell.“ (Paywall) Dem kann man kaum widersprechen. Das Gesundheitswesen ist ein besonderer Wirtschaftszweig, in dem die gewinnorientierte Marktwirtschaft zu schweren Verwerfungen führt.

Das Gesundheitswesen war aber trotz seiner politischen Regulierung durch die gesetzliche Krankenversicherung schon immer ein Geschäftsfeld für kapitalistische Unternehmen. Früher waren dort nur die Arzneimittel- und Medizingeräteindustrie und einige Reha-Kliniken aktiv. Seit Ende der 1990er-Jahre haben etliche Kommunen und Wohlfahrtsverbände ihre Krankenhäuser an Aktiengesellschaften wie Asklepios und Helios verkauft. Arztpraxen sind hingegen erst seit wenigen Jahren im Fokus von Kapitalanlegern.

Der Wendepunkt kam mit einem 2004 in Kraft getretenen Gesetz, das interdisziplinären Praxen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten die Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung gab. Damit sollte das seit Kaisers Zeiten bestehende System von freiberuflichen Einzelpraxen modernisiert werden. Es genügte schon lange nicht mehr den Anforderungen der modernen Medizin.

Diese Reform hatte eine auf den Einigungsvertrag zurückgehende Vorgeschichte. Der Einigungsvertrag führte das System von selbstständigen Kassenarztpraxen auch in den neuen Ländern ein, obwohl die ambulante Versorgung in der DDR besser organisiert war. Deren Ambulatorien und Polikliniken hatten mehrere medizinische Fachrichtungen. Sie waren zwar 1989 baulich und technisch in einem miserablen Zustand, weil ihnen viel zu geringe Investitionsmittel zur Verfügung standen. Aber ihre interdisziplinäre Struktur war dem westdeutschen System von Einzelpraxen mit umständlichen Überweisungswegen überlegen.

Daher gab es auch in der alten Bundesrepublik zahlreiche Fachleute, die für die Integration der Polikliniken in das Kassenarztsystem eintraten. Aber die westdeutschen Ärztefunktionäre fürchteten um das Monopol ihrer privaten Einzelpraxen und setzten es im Einigungsvertrag auch in den neuen Ländern kompromisslos durch.

Brandenburgs legendäre Sozialministerin Regine Hildebrandt wehrte sich gegen die Zerschlagung der Ambulatorien und Polikliniken. Ihr Ministerium entwickelte gemeinsam mit dem IGES-Institut ein Konzept zum Umbau dieser Einrichtungen in „Gesundheitszentren“, in denen freiberufliche neben angestellten Ärztinnen und Ärzten und anderen Gesundheitsberufen unter einem Dach mit gemeinsamer Verwaltung praktizieren.

Einige in Brandenburg noch verbliebene Polikliniken wurden in solche Gesundheitszentren umgewandelt, die sich vom „Auslaufmodell zur Alternative“ entwickelten, wie sogar das Deutsche Ärzteblatt (Nr. 98/2001) feststellte. Sie dienten als Blaupause für eine von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in die Wege geleiteten Reform des Kassenarztrechts. Ab 2004 erhielten fachübergreifende Praxen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten als „Medizinische Versorgungszentren (MVZ)“ die Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung.

Ideologische Verkrampfungen: Bloß keine DDR-Modelle

Mit welchen ideologischen Verkrampfungen diese Reform zu kämpfen hatte, zeigt folgende verbürgte Anekdote. Ulla Schmidt hatte sich mit dem für Gesundheitspolitik zuständigen Vizechef der CDU/CSU-Fraktion Horst Seehofer auf ein gemeinsames Reformprojekt verständigt. Ihre Beamten erstellten im Sommer 2003 den Arbeitsentwurf eines Gesetzes, der einem Kreis von Bundes- und Landespolitikern der Union, der SPD und der Grünen vorgelegt wurde. In der Diskussion spielte der damalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Wolfgang Böhmer (CDU), zu DDR-Zeiten Chefgynäkologe eines Krankenhauses in Lutherstadt Wittenberg, eine segensreiche Rolle.

Eine CDU-Politikerin wandte sich gegen angestellte Ärztinnen und Ärzte in Kassenarztpraxen mit der Begründung, nur ein freiberuflicher Arzt könne ein guter Arzt sein. Daraufhin fragte Wolfgang Böhmer sie sinngemäß: „Verehrte Frau Kollegin, Sie wollen damit doch wohl nicht sagen, dass ich, der als angestellter Arzt über 10.000 Kindern auf die Welt geholfen hat, ein verpfuschtes Berufsleben hatte?“ Damit war das Thema erledigt.

Doch die CDU-Politikerin ließ nicht locker. Sie kritisierte die im Gesetzentwurf verwendete Bezeichnung von multidisziplinären Praxen als „Gesundheitszentren“. Das sei das aus der DDR übernommene Modell von Regine Hildebrandt, was sie entschieden ablehne. Wolfgang Böhmer ging zu den Beamten, die den Gesetzestext entworfen hatten, und bat sie, sich einen anderen Namen auszudenken. Ihnen fiel das Modell des „Medical Care Centre“ in den USA ein, und es kamen statt der „Gesundheitszentren“ die „Medizinischen Versorgungszentren“ ins Gesetz.

Investoren erkannten bald das ökonomische Potenzial der MVZ und begannen, fachmedizinische Praxen zu kaufen, vorzugsweise mit einem hohen Anteil an Privatabrechnungen. Etwa zehn Prozent der Deutschen haben eine Vollversicherung in der privaten Krankenversicherung (PKV). Für sie gilt eine Gebührenordnung, mit der die Arztpraxen für die gleichen Leistungen mehr als doppelt so hohe Vergütungen abrechnen können wie mit der Behandlung von Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Das führt zu erheblichen Ertragsunterschieden der Arztpraxen, die mit dem Leistungsprinzip nichts zu tun haben.

Das Statistische Bundesamt meldet für das Jahr 2019 einen durchschnittlichen Bruttogewinn der Arztpraxen von 296.000 Euro. Haus- und Kinderarztpraxen haben einen durchschnittlichen Überschuss von 250.000 Euro. In der Orthopädie, Urologie und Augenmedizin ist er etwa 100.000 Euro höher. Radiologiepraxen haben sogar einen Durchschnittsertrag von gut 1,1 Millionen Euro. Dieses Ertragsgefälle hängt vor allem mit dem Umsatzanteil der Privatabrechnungen zusammen. Während er in der Allgemein- und Kindermedizin durchschnittlich zwölf beziehungsweise 16 Prozent beträgt, schwankt er in der spezialisierten Fachmedizin zwischen 33 (Radiologie) und 54 Prozent (Dermatologie). Es ist klar, dass die Investoren sich vor allem für die ertragreichen Praxen interessieren. Aber nicht ihre Gier ist das Problem, sondern die falschen Anreize des Vergütungssystems für Arztpraxen.

Die medizinische Grundversorgung interessiert die meisten Investoren nicht

Welche Auswirkungen hatten bislang die investorenbetriebenen Praxen auf die medizinische Versorgung? Ein vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten konnte bei ihnen keine Mängel in der Behandlungsqualität feststellen. Das heißt nicht, dass ihr Geschäftsmodell unproblematisch ist. Seine Eigentumsverhältnisse sind intransparent und es verschärft die ohnehin schon großen regionalen Disparitäten in der Versorgungsdichte vor allem bei Facharztpraxen. Die medizinische Grundversorgung interessiert die meisten Investoren nicht.

Gesundheitsminister Lauterbach twitterte Weihnachten 2022: „Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes Weihnachten. Schon bald kommt das Ende.“ Wie er das herbeiführen will, hat er bis heute nicht verraten. Man kann „Dr. Heuschrecke“ (Wirtschaftswoche Nr.31/2023, Paywall) weder sein Geschäftsmodell verbieten, noch seine Renditen extra besteuern. Solche von einigen Ärztefunktionären geforderten Maßnahmen würden sofort erfolgreich beklagt.

Der Rosinenpickerei privater Investoren kann man nur mit einer einheitlichen Krankenversicherung das Wasser abgraben. Ein erster Schritt wäre, Beamtinnen und Beamte, die mehr als die Hälfte der PKV-Mitglieder stellen, wie die Angestellten im Öffentlichen Dienst gesetzlich zu versichern. Das wäre für den Staat auf die Dauer um etwa ein Drittel kostengünstiger als das Beihilfesystem. Aber um dieses Thema machen Politiker einen großen Bogen.

Den MVZ gehört auf jeden Fall die Zukunft, auch wenn sie gegenwärtig nur einen Anteil von acht Prozent an den vertragsärztlichen Behandlungsfällen haben. Ohne solche interdisziplinären Einrichtungen lassen sich weder die großen Versorgungslücken in ländlichen Regionen schließen noch die Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen in geordnete Bahnen lenken.

Dessen relatives Kostenwachstum ist, wie der amerikanische Ökonom William Baumol gezeigt hat, prinzipiell unvermeidlich. Denn personenbezogene Dienstleistungen wie die ärztliche Behandlung und pflegerische Betreuung sind weniger rationalisierbar als die Güterproduktion und erscheinen damit vergleichsweise teuer. Der durchschnittliche Beitragssatz der Krankenkassen ist in den vergangenen 40 Jahren von zwölf auf heute mehr als 16 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum sind dagegen die meisten Konsumgüterpreise relativ zur Einkommensentwicklung gesunken. Um 1980 mussten Durchschnittsverdiener für einen Röhrenfarbfernseher etwa ein halbes Monatseinkommen ausgeben. Heute bekommen sie ein weit besseres LED-Gerät für einen Wochenlohn.

Vor allem Ärztinnen wollen als Angestellte arbeiten

Hinzu kommt ein Trend, den die herrschende Riege von zumeist männlichen Ärztefunktionären offenbar verdrängt. Jüngere Ärzte und vor allem Ärztinnen bevorzugen zunehmend das Angestelltenverhältnis. In den Ruhestand gehende Praxisbesitzer haben oft Probleme, kaufbereite Nachfolger zu finden. Ihnen könnten die Kassenärztlichen Vereinigungen helfen, indem sie ihre Praxen erwerben und zu genossenschaftlichen MVZ zusammenführen. Für die Finanzierung solcher Projekte steht sogar eine eigene Bank zur Verfügung, die Ärzte- und Apothekerbank. Aber für solche Modelle müssten die Ärzteverbände ihre verknöcherte Standespolitik grundlegend ändern. Dazu scheint wohl erst die nachwachsende Generation von Ärztinnen und Ärzten bereit zu sein.

Solche und andere Reformprojekte im Gesundheitswesen treffen auf ein interessenvermintes Gelände, in dem sich schnell starke Abwehrkoalitionen bilden. Die kann man in unserem föderalen Politiksystem nur mit parteiübergreifenden Bündnissen überwinden. Das ist ein mühseliges Geschäft, aber allemal effektiver als folgenlose Ankündigungen in Instagram-Posts und Talkshows.

Hartmut Reiners ist Ökonom und Publizist. Zuvor war er Referatsleiter im Gesundheitsministerium Brandenburg. Letztes Buch: „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“ (Wien 2023). Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden

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