Keine neuen US-Mittelstrecken-Raketen in Deutschland
I.
Am 10. Juli 2024 haben die USA und Deutschland in Washington am Rande des NATO-Gipfels in einer gemeinsamen Erklärung angekündigt, dass die USA ab dem Jahr 2026 landgestützte Waffensysteme mit strategischen Reichweiten in Deutschland stationieren werden. Diese Ankündigung kam ohne jede vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion in Deutschland und geht offensichtlich auf seit vielen Jahren betriebene Planungen der USA zurück.
Die bisherigen Äusserungen des Bundeskanzlers und des Bundesverteidigungsministers zu dieser Entscheidung gehen über Schlagworte kaum hinaus: Vom Schliessen einer „Fähigkeitslücke“ ist die Rede, von mehr Sicherheit und mehr Abschreckung. Wer Argumente erwartet, Zahlen, Daten und Fakten auch nur zu den militärischen Fähigkeiten Russlands im Vergleich zur denen der NATO, wartet vergeblich. Der Bundeskanzler und der Bundesverteidigungsminister haben den Anspruch auf Information und umfassende Begründung ihrer Entscheidung sowohl gegenüber dem Deutschen Bundestag als auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit fast vollständig missachtet.
Wolfgang Richter, Oberst a.D. und viele Jahre bei der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ ist einer der wenigen in Deutschland, die sich seit langem systematisch und frei von falschen Rücksichten und Bindungen mit Fragen der europäischen Sicherheitsordnung und der Bedeutung von Rüstung und Rüstungskontrolle beschäftigen.
In einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung Ende Juli veröffentlichten Analyse stellt er zu Recht fest, dass die Erklärung der USA und Deutschlands zur geplanten Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland keine Antworten auf die wesentlichen Fragen gibt, ohne die keine verantwortungsbewusste politische Entscheidung getroffen werden kann:
„Sie erläutert… nicht ihren konzeptionellen Zweck, die Bedrohung, der begegnet werden soll, die geplante Zahl der Raketen oder die Implikationen, die sich aus ihrer Reichweite ergeben. Die bisher verfügbaren Fähigkeiten der NATO in Europa, aus der sich Fähigkeitslücken ableiten, werden nicht bewertet.“
Diese nüchterne Darstellung ist ein hartes Urteil, das leider mehr als gerechtfertigt ist.
II.
Am 19. Juli, neun Tage nach der offiziellen Ankündigung in Washington, haben Siemtje Möller, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister der Verteidigung und Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt, die Vorsitzenden des Verteidigungs- und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags und weitere Abgeordnete über die Entscheidung informiert. Dem dort formulierten Anspruch, „über den Hintergrund der jüngsten gemeinsamen Erklärung…zur Stationierung weitreichender konventioneller Waffensysteme in Deutschland (zu) informieren“, wird der Brief in keiner Weise gerecht.
Die Entscheidung wird in Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine gebracht, obwohl die Planungen der USA, solche Waffen in Deutschland zu stationieren, viel weiter zurückreichen. Ohne Gründe zu nennen und ohne sich mit Gegen-Argumenten auseinanderzusetzen, wird behauptet: „Diese Systeme tragen zu einer effektiven und glaubwürdigen Abschreckung und zum Schutz Deutschlands und seiner Verbündeten bei.“
Wieder Behauptungen und Schlagworte und nicht einmal der Versuch, Argumente zu formulieren, warum neue Raketen der USA allein auf dem Boden Deutschlands notwendig sein sollen. Nicht einmal die vom Bundeskanzler und vom Bundesverteidigungsminister öffentlich als besondere Gefahr genannten russischen Raketen in Kaliningrad werden erwähnt.
Im online-Angebot „Nachgefragt“ der Bundeswehr lässt Jasper Wieck, der Politische Direktor des Verteidigungsministeriums, gewollt oder ungewollt, tiefer blicken als seine Parlamentarische Staatssekretärin: Bei der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen ab 2026 handle es sich um ein Angebot der USA. Darauf sei Deutschland gern und bereitwillig eingegangen. „Weil wir darin eine Antwort sehen, auf eine bedrohliche, besorgniserregende Entwicklung der letzten zehn Jahre.“
Wenn diese Begründung stimmte, kann die Entscheidung weder mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zu tun haben noch mit russischen Verstössen gegen den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag), die USA und NATO behaupten, Russland aber immer bestritten hat.
Die USA hatten unter Präsident Trump im Jahr 2019 den INF-Vertrag gekündigt und das damit begründet, Russland entwickle neue Waffensysteme, die gegen den Vertrag verstiessen. Wenn es Differenzen in der Wahrnehmung und der Interpretation von vertraglich geregelten Dingen gibt, versuchen Vertragspartner üblicherweise die Dinge in Verhandlungen zu klären. Einen Vertrag zu kündigen, ist das letzte Mittel, wenn trotz aller Bemühungen keine Verständigung möglich ist. Das zentrale Motiv für die Kündigung der USA scheint deshalb ein anderes gewesen zu sein.
Trumps damaliger Sicherheitsberater John Bolton war so ehrlich, öffentlich zu sagen, dass er den INF-Vertrag aus dem Weg haben wollte, da er die USA in ihren Möglichkeiten einschränke. Das ist so, und das ist ja Sinn eines solchen Vertrags. Beide Vertragspartner haben sich darauf verständigt, dass wechselseitige Selbstbeschränkung ein Beitrag zu mehr Sicherheit für beide Seiten ist. John Bolton denkt anders. Er war ein grundsätzlicher Gegner von Verträgen über Rüstungskontrolle und Abrüstung.
III.
Trotz rasant steigender Ausgaben für Rüstung in Deutschland, in Europa und weltweit gibt es Einrichtungen und Menschen, die zu der Frage arbeiten, wie die Welt durch Rüstungskontrolle und neue Verträge zwischen den USA und Russland sicherer gemacht werden kann.
Zu ihnen gehört die „Rand Corporation“, ein think tank, der seit Jahrzehnten das Verteidigungsministerium der USA berät. In einem am 30. Juli 2024 veröffentlichten Papier „U.S. Options for Post-New START Arms Control with Russia“ beschäftigen sich Samuel Charap und Christian Curriden mit der Frage, wie der „New START Treaty“, weiter Bestand haben kann. Das ist der letzte Vertrag zwischen den USA und Russland zur Rüstungskontrolle. Er gilt für strategische Atomwaffen und droht Anfang 2026 endgültig auszulaufen.
Das ist ein ungemein interessanter und lesenswerter Text. Die Autoren sind davon überzeugt, dass die Begrenzung strategischer Atomwaffen auch in Zukunft im elementaren Interesse der USA liegt, sie weisen aber auch darauf hin, dass der Wert von Rüstungskontrolle in den USA bei weitem nicht von allen geteilt wird.
Der Text enthält einen Abschnitt, der auf die vom Bundeskanzler angekündigte Stationierung USamerikanischer Mittelstreckenwaffen in Deutschland und die dafür öffentlich vorgebrachten Behauptungen und Darstellungen ein ganz besonderes Licht wirft.
Die Autoren stellen dar, wie sich die Positionen der USA und Russlands nach der Kündigung des INF-Vertrags im Jahr 2019 entwickelt haben:
Russland habe nach der Kündigung ein Moratorium für die Aufstellung landgestützter Mittelstrecken-Raketen erklärt und der NATO vorgeschlagen, sich genauso zu verhalten:
„Diesen Vorschlag haben USA und ihre NATO-Verbündeten aus gutem Grund abgelehnt: Sie hatten erklärt, dass eine neue russische Rakete, 9M729, eine Reichweite habe, die über die nach dem INF-Vertrag zulässigen 500 Kilometer hinausgehe, und dass Russland diese Rakete schon aufgestellt habe.
Im Oktober 2020 machte der russische Präsident Putin einen detaillierteren Vorschlag für ein Moratorium. Er erklärte, Russland sei daran interessiert, mit den USA ein wechselseitiges Moratorium über die Stationierung landgestützter Raketen in Europa unter Einhaltung der im INF-vertrag vereinbarten Reichweite zu verhandeln.
Zu dem Vorschlag gehörte das Angebot zum Zugang nach Kaliningrad, um nachzuweisen, dass es dort keine 9M729 gibt, im Gegenzug zu russischen Inspektionen an NATO-Standorten in Europa, von denen Moskau behauptete, dass von dort landgestützte Marschflugkörper eingesetzt werden können.
Ohne einzuräumen, dass die 9M729 den damals schon ausgelaufenen INF-Vertrag verletzten, schlug Russland vor, all diese Raketen aus Europa abzuziehen im Gegenzug zu einer Zusage der USA, keine landgestützten Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent aufzustellen. Seither, und auch nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine, hat Moskau erklärt, dieser Vorschlag liege weiter auf dem Tisch.“
Unterstellt, dass diese Darstellung zutrifft, und es gibt keinen Grund an der Informiertheit und am Urteilsvermögen der Autoren zu zweifeln, stellt sich die Frage, warum die USA und die NATO nicht auf dieses Angebot eingegangen sind. Nicht erst jetzt, sondern seit 2019.
Die von Russland in Kaliningrad stationierten Waffen sind einer der ganz wenigen konkreten Hinweise, mit denen die Bundesregierung die Stationierung neuer weitreichender Raketen der USA in Deutschland zu rechtfertigen versucht.
IV.
Warum ist die Bundesregierung auf das Angebot der USA, neue Raketen in Deutschland zu stationieren „gerne und bereitwillig eingegangen“, wie der Politische Direktor des Bundesverteidigungsministeriums es formuliert?
Wäre es nicht im deutschen und im europäischen Interesse die Pflicht der Bundesregierung gewesen, die USA direkt und im Rahmen der NATO zu Verhandlungen mit Russland zu drängen, damit der Vertrag zur Begrenzung von Mittelstreckenraketen in Europa de facto weiter gilt?
Warum hat die Bundesregierung das nicht getan? Weder Bundeskanzlerin Angela Merkel noch ihr Nachfolger Olaf Scholz.
Warum betreibt die Bundesregierung in dieser Frage eine öffentliche Kommunikation, die mehr an Propaganda erinnert als an Information?
Warum nimmt die Bundesregierung nicht Stellung zu den grundlegenden Fragen und Problemen, die ganz offensichtlich mit der Entscheidung verbunden, in Deutschland zum ersten Mal seit mehr als drei Jahrzehnten wieder Mittelstrecken-Raketen unter Entscheidungsgewalt der USA zuzulassen?
Warum scheinen weder der Bundeskanzler noch der Bundesverteidigungsminister zu verstehen, dass es für ihre Entscheidung nicht einmal in der Logik der konventionellen oder nuklearen „Abschreckung“ gute Gründe gibt?
Vieles spricht dafür, dass die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland gegen einen einfachen, aber fundamentalen Grundsatz verstösst: Man sollte einem potentiellen Gegner nicht mit etwas drohen, das für einen selber gefährlicher ist als für den potentiellen Gegner. Das ist ein Gebot praktischer Vernunft. Wenn Gründe praktischer Vernunft nichts mehr gelten, wird es gefährlich.
Eine aufgeklärte öffentliche Debatte muss dazu führen, dass die Zustimmung der Bundesregierung zur Entscheidung der USA, Mittelstrecken-Raketen in Deutschland zu stationieren, rückgängig gemacht wird. Ob es dazu kommen wird, hängt wesentlich davon ab, dass sich möglichst viele nicht mit Propaganda abspeisen lassen, sondern darauf bestehen, dass alle Fragen auf den Tisch kommen.
Nach meiner Überzeugung wird dann deutlich werden, dass Mittelstrecken-Raketen der USA auf deutschem Boden für uns Deutsche zu weniger Sicherheit und nicht zu mehr Sicherheit führten. Das kann und das darf niemand wollen, der politische Verantwortung für Deutschland und für Europa trägt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.
Der Autor beliebt zu scherzen, wie anders sollte ich das verstehen:
Wolfgang Richter, Oberst a.D. und viele Jahre bei der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ ist einer der wenigen in Deutschland, die sich seit langem systematisch und frei von falschen Rücksichten und Bindungen mit Fragen der europäischen Sicherheitsordnung und der Bedeutung von Rüstung und Rüstungskontrolle beschäftigen.
So, so, Die Stiftung Wissenschaft und Politik ist also “frei von falschen Rücksichten” – klar, sie wird ja über das Kanzleramt finanziert. Das macht ungeheuer frei.. In gleicher Sache habe ich gerade den WDR-Rundfunkrat bemüht. Weil die SWP im WDR immer wieder ohne Hinweis auf die deren Finanzierung als vermeintlich neutrale Stiftung zitiert wird.
Ich rate bei SWP-Autor*inn*en auf den konkreten Inhalt zu achten. Dort gibt es durchaus eine Diversität von Meinungen und Positionen, in den meisten Fällen verbunden mit ernsthafter Fachlichkeit. Das finanzierende Kanzleramt haben “wir” immerhin frei gewählt. Und ein besseres offenbar nicht verdient 😉
Autor Christoph Habermann übersandte mir diese Antwort zur Veröffentlichung:
Lieber Helmut Lorscheid,
nein, ich beliebe nicht zu scherzen. Nach meiner Erfahrung sollte man Menschen und Organisationen, in denen oder für die sie arbeiten, nicht automatisch gleichsetzen. Ich halte Wolfgang Richter für einen Mann, der frei von falschen Rücksichten und Bindungen ist. Ob er das trotz seiner Arbeit für die Stiftung Wissenschaft und Politik war oder unabhängig davon, kann ich nicht beurteilen. Darauf kommt es hier auch nicht an. Der Stiftung Wissenschaft und Politik würde ich nicht bescheinigen, frei von falschen Rücksichten und Bindungen zu sein.
Wolfgang Richter hat die Unabhängigkeit seines Urteils auch im Dezember 2023 mit einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten nüchternen Analyse des Ukraine-Konflikts nach dem russischen Überfall mit Vorschlägen für ein Ende des Tötens und Sterbens unter Beweis gestellt. Was er dort schreibt, steht quer zur politischen und medialen Mehrheitsmeinung in Deutschland. Es könnte sein, dass er deshalb nicht mehr bei der Stiftung Wissenschaft und Politik arbeitet, sondern inzwischen beim „Geneva Centre for Security Policy“.
Auch bei der Beurteilung von Organisationen darf man es sich nicht zu einfach machen und aus der Finanzierung auf die bestehende oder fehlende Unabhängigkeit des Denkens und Arbeitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schliessen.
Beispiel: Das 1990 gegründete Wuppertal Institut ist eine gemeinnützige GmbH im 100%igen Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und bekommt seine Grundfinanzierung aus dem Landeshaushalt.
Das Wuppertal Institut hat seit 1990 viele Studien, Analysen und Empfehlungen vorgelegt, die nicht auf der politischen Linie der jeweiligen Landesregierung lagen und dieser oft ausdrücklich widersprochen haben.
Ich weiss zwar aus eigener Erfahrung, dass es Mitte der neunziger Jahre vor allem im Zusammenhang mit den Planungen für den Braunkohlentagebau Garzweiler II Versuche aus dem parlamentarsichen Raum gegeben hat, das Wuppertal Institut zu „disziplinieren“. Diese Versuche haben der damalige Ministerpräsident Johannes Rau und die Vertreterinnen und Vertreter des Landes im Aufsichtsrat ins Leere laufen lassen.
Mit freundlichem Gruss
Christoph Habermann