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Ihr Sidd widderlich! (BAP)

Seit letzter Woche findet scheinbar aus dem Nichts eine Debatte statt, die eigentlich gar nicht stattfindet: um die Frage, ob der amtierende SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz noch fähig sei, für die SPD Kanzlerkandidat zu sein. Das ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Denn der Anstoß der Diskussion kommt nicht aus der SPD, sondern aus den Zentren der Politiksimulation hochbezahlter und abgehobener Entertainer, von denen wenige einmal Journalist*inn*en  waren. Maischberger, Lanz, Miosga und Co. haben das mediale Schlachtfeld eröffnet. Ich sage in die Richtung dieser Politiksimulanten: Für Euch gilt das, was BAP 1993 der Politik entgegen gehalten hat.

Zunächst haben sich zwei landespolitische Hinterbänkler der SPD aus Hamburg dazu hinreissen lassen. inzwischen sind es einzelne Abgeordnete, die in Panik an ihren Mandaten kleben, und die Nerven verlieren, weil sie bei schlechtem Wahlergebnis um ihre Karriere fürchten. In der FDP verständlich, für Sozialdemokraten mehr als peinlich. Was ist das für eine Diskussion, die niemand führt, die aber trotzdem die Medien hypt?  Und selbst der alte Staatsmann Münte hat sich so zweideutig geäußert, dass es jede Seite für ihre Zwecke nutzen kann. Das ist es genau, das die SPD im bevorstehenden Wahlkampf braucht: Spaltung! Während die Grünen trotz innerparteilicher Bedenken am vergangenen Wochenende vorgeführt haben, dass nur Solidarität und Einigkeit jetzt das wieder graderücken können, was die FDP und insbesondere Lindner in den vergangenen drei Jahren an dieser Koalition von innen torpediert haben – nun tappen die Sozis in die Falle der Medienkasper. Und selbst “Phoenix” folgt dem eigenen Muster der Medien, diskutiert aber als einziger Sender ein bisschen  inhaltlich und Zuschauer*innen könnten auf die Idee kommen,  dass es eigentlich auf den Kanzler ankommt.

Demoskopie und Demokratie

Liebe Sozis, habt ihr eigentlich völlig vergessen, wie Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD nach kurzem Höhenflug in ein schwarzes Loch der Politik gestürzt ist? Aufgrund dessen Beispiel sollte doch bekannt sein, was mit Kandidaten passiert, die nicht die motivierte Partei hinter sich haben, nicht im Regierungsamt sind, und sich nur auf Voten Dritter – rechtsliberale bis rechte Journalist*inn*en der Berliner Medienblase – stützen, um einen zweifelhaften demoskopisch begründeten Anspruch zu erheben. Haben die Sozialdemokraten, die sich an dieser Diskussion beteiligen – natürlich ist Siggi Gabriel dabei – nicht kapiert, dass sie nichts anderes tun, als ihrem Kanzler in einer Situation der Umzingelung von freundlichen Feinden in den Rücken zu fallen? Denn von allen demoskopischen Instrumenten, die OK sind, wie die Ermittlungsversuche der Parteienpräferenzen, ist die Frage nach der “Beliebtheit der Politiker” des Politbarometer die umstrittenste: Wer kommt überhaupt in Frage und nach welchen Kriterien wird das verifiziert?

Die zweifelhafte Geschichte der “Beliebtheitswerte”

War es Zufall, dass jahrelang Aussenminister wie Genscher, Joschka Fischer, Walter Steinmeier die Umfragen anführten, die vorwiegend positive Ergebnisse verkünden konnen, politisch aber niemand weh taten? Das kann aber kein Kriterium sein, das sich an politischen Inhalten bemisst. Denn Tarifkonflikte, Defizite des Renten oder Gesundheitssystems, Haushaltsdiskussionen, Wirtschaftsfragen und -Daten, Umweltfragen wie der Atomausstieg – alle wichtigen politischen Fragen der letzten 30 Jahre wurden nicht aufgrund von Beliebtheitswerten von Kanzler*innen entschieden. Insofern ist diese Statistik so etwas wie ein “Wünschdirwas”  der Demoskopie ohne Realitätsbezug und eigentlich ohne jeden Erkenntniswert, überflüssig wie Fahrräder für Fische.

Politische Tretmine für die SPD

Alle, die sich in der SPD derzeit gegen Scholz äußern, haben offensichtlich die Situation nicht zuende gedacht. Wie bitte, sollte denn eine Kanzlerkandidatur eines anderen Kandidaten begründet werden, während Scholz noch als geschäftsführender Kanzler amtiert? Der Bundestag ohne Mehrheit wird doch nicht etwa Pistorius zum Kanzler wählen, damit er als solcher kandidieren kann!. Was passiert, wenn Trump am 21. Januar nach einem Tag im Amt jede Waffenhilfe für die Ukraine einstellt und der Kanzler handeln muss? Geschweige, dass ja auch die Kanzlerschaft von Scholz seine Erfolge und Mißerfolge zur Wahl stehen. Wer irrwitzige Kandidatur-Diskussionen führt, befindet sich im politischen Nirvana und handelt gegen jegliche Vernunft nicht nur zum Schaden der SPD, auch zum Schaden des Landes. Damit wäre bei wachem Verstand und klarer Analysefähigkeit in der SPD eigentlich der Drops gelutscht: Kräfte, die nicht Freunde der SPD sind, fachen derzeit eine nicht existente Diskussion an in einer Partei, die das eigentlich überhaupt nicht brauchen kann und die offensichtlich dadurch nur geschädigt wird. Aber zu viele eitle Fatzkes (ist das der Plural?) sind der Sozialdemokratie und ihrer Politik für die kleinen Leute der Tod. Das ist in Zeiten der Wahl von Trump in USA und Populist*inn*en in Ostdeutschland nicht unerwartet und beruht auf allgemeiner Entsolidarisierung, Hass, Neid und Eitelkeit.

Sozialdemokratische Solidarität war mal eine Stärke

Ich kenne Olaf Scholz persönlich seit 1984 – wir waren gemeinsam, ich als Jungdemokraten-Delegationsleiter und er als JuSo-Vorstand, in politisch sensibler Mission in der DDR. Ich weiss, dass er kein extrovertierter Rhetoriker, aber ein verlässlicher Partner ist. Er mag eben kein Volkstribun und kein schillernder Verkäufer seiner eigenen Politik sein. Aber dass genau das Fehlen dieses Gehabe ist auch seine Stärke, die marktschreierischen Selbstbeweihräucherung, wie sie Friedrich Merz, Markus Söder und Christian Lindner betreiben, von den Medien der Hauptstadtblase gegen ihn gewendet werden, ist ein Stück Demokratiezerrüttung. Mit keiner*m Kanzler*in seit Willy Brandt ist die Hauptstadt-Journalist*inn*enblase derart umgegangen. Das gipfelte heute im Kommentar im “Kölner Stadtanzeiger”, die SPD müsse jetzt endlich Klarheit zugunsten des Kanzlerkandidatur schaffen. “Haltet den Dieb” möchte man da rufen. Aber ernsthaft: Die SPD, als wichtigster Akteur für soziale Gerechtigkeit in Deutschland sollte über solchen populistischen Experimenten stehen, statt politischen Selbstmord aus Angst vor dem Tod zu begehen. Der Schaden für die kommende Wahl ist allerdings unwiderbringlich angerichtet.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Peter Lessmann-Kieseyer

    Es ist genau so , wie Sie schreiben – widderlich! Während Kriege in der Ukraine, Gaza/Libanon und anderswo toben, Menschen sterben und die Umwelt aus den Fugen gerät, Rassismus und populistische Strömungen sich ausbreiten und Humanismus und Menschenrechte auf der Streck bleiben, führen die Mainstreammedien nichts anderes im Schilde, als über Personen zu diskutierten, prominent auf Seite eins rauf und runter, bis zum Erbrechen. Ganz nach dem Motto, skandalisieren heißt unser Motto, bloß keine Inhalte. Doch letzteres ist der eigentliche Skandal. In diesem ganzen Getöse halte ich es doch besser mit dem Känguru, das unlängst hier ausdrücklich zu Wort kam. Danke dafür.

  2. w.nissing

    Ich weis gar nicht worüber Ihr euch so aufregt, der Hegomon regelt das doch zum besten für uns. Hat übrigens 2017 bei unserem Nachbarn doch auch wunderbar geklappt, einen Möchtegern aka Sonnenkönig installiert, die Spezialdemokratie zersteubt und eine pseudobarrage gegen die Faschos, defakto aber gegen die Restlinke etabliert und das alles frei und demokratisch gewählt.
    Nur die dümmsten Kälber, wählen Ihre Metzger selber.
    Warum sollten wir es besser können. Wir (als Gesellschaft) wählen doch auch die Aktiendividende statt der Friedensdividende.

    • Roland Appel

      Weil wir nicht alles besser wissen und uns in Zynismus ergeben, sondern auch noch Politik erklären, einordnen, und Menschen ermutigen wollen, selber zu denken und bestenfalls was zu verändern..

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