Mexiko: Megaprojekte, Militarisierung und organisiertes Verbrechen
„Die Armen zuerst”, hieß das Regierungsmotto von Andrés Manuel López Obrador, der gerade seine sechsjährige Präsidentschaft beendet hat. Seine Sozialprogramme sicherten ihm breite Unterstützung der Bevölkerung. Doch in der gleichen Zeit militarisierte er das Inland und setzte Infrastrukturprojekte gegen den Widerstand von Aktivist*innen durch. Nach offiziellen Zahlen gab es niemals in der Geschichte des Landes so viele Morde wie in AMLOs Amtszeit (2018-24). Trotzdem boomt Mexikos Wirtschaft – die legale wie die illegale. Wie kann das sein?
Mexiko steht wirtschaftlich offenbar gut da: Die offiziellen Zahlen beschreiben steigenden privaten Konsum und Wachstum, und die ausländischen Direktinvestitionen erreichten 2023 mit 36,1 Milliarden US-Dollar Rekordniveau. Nach ihrem Mexikobesuch im Oktober 2023 schrieben Repräsentant*innen des Internationalen Währungsfonds (IWF) begeistert von „rekordverdächtig niedriger Arbeitslosigkeit“ und stabiler Perspektive. Nach dem enormen Abfall des Pesos während der Pandemie erholte sich die Währung; einige Analyst*innen sprachen gar vom „superpeso“.
Der Handel floriert vor allem mit den USA, was mit dem „Nearshoring“-Trend begründet wird: Unternehmen aus den USA wollen ihre Produktion wieder in der Nähe ansiedeln, um die Kontrolle über Lieferketten zu behalten. Doch auch internationale Firmen wie der Sensorhersteller Balluff, Bosch Rexroth oder Audi und VW investieren in Aguascalientes, Querétaro und Puebla. Von der illegalen Ökonomie, Gewalt oder sozio-ökologischen Problemen dieses Wachstums schreibt der IWF hingegen nicht.
Sind diese Unternehmen von der Gewalt der illegalen Wirtschaft etwa nicht betroffen? Es scheint, als würde die Koexistenz einer hochgradig militarisierten und brutalisierten Form des Kapitalismus und seiner illegalen Version in Mexiko immer weiter normalisiert. Es ist eine dystopische Vision: Entweder man arbeitet für ein kriminelles Netzwerk, das Fentanyl schmuggelt oder Gewinne von der Avocadoernte abschöpft, oder man steht in einer „Maquila“ (Lohnveredelungsbetrieb) am Band und produziert günstig für US-Firmen.
Chiapas: Kauft der Staat bei Kriminellen ein?
Früher war es Opiumproduktion, dann vor allem Kokainschmuggel, heute ist Mexiko einer der größten Hersteller von Fentanyl – im Laufe der Zeit hat das Land verschiedene illegale Sektoren bedient, immer in enger Verbindung mit den Vereinigten Staaten. Obwohl Mexiko inzwischen 18 Substanzen gesetzlich reguliert hat, gelangen auch die chemischen Komponenten für die Herstellung von Fentanyl weiterhin über Mexiko in die USA. Mexikanische Netzwerke beziehen dabei ihre chemischen Rohstoffe aus Ländern wie China, Indien und auch Deutschland.
Die Austeritäts- und Liberalisierungspolitik seit den 1980er-Jahren erleichterte es, illegales Kapital in legale Wirtschaftszweige und einst staatliche Infrastruktur fließen zu lassen. Diana Zomera und Antonio Fuentes zeigen am Beispiel von Culiacán, der Heimat des Drogenbosses „Chapo“ Guzmán, wie illegales Kapital aus Opium-, Kokain- und Fentanylhandel die Stadt geprägt hat. Obwohl im September 2023 mindestens 70 Menschen bei Schießereien starben, wird die Stadt als wettbewerbsfähig im Agrarhandel beschrieben. Zur Zeit sind dort 600 Soldaten abgestellt. Verschönerungsprojekte sollen das Image verbessern, stehen jedoch unter dem Verdacht, durch Drogengelder finanziert zu werden. Während diese Bauprojekte florieren, bleibt die Nachfrage nach Wohnungen gering. Das befeuert die Gerüchte über Geldwäsche.
Im Bundesstaat Chiapas, der Heimat der zapatistischen Rebellion und Dutzender indigener Gemeinden, sind kriminelle Akteure direkt wirtschaftlich aktiv. So in der Mine La Revancha in Chicomuselo. Sie wurde von der kanadischen Firma Blackfire betrieben, bis die Bundesanwaltschaft für Umweltschutz (PROFEPA) sie 2009 nach der Ermordung des Bergbaugegners Mariano Abarca schloss. Seit 2023 baut dort nun offenbar eine bewaffnete Gruppe Baryt ab. Das berichteten Anwohner*innen dem Online-Medium Animal Político. Das Mineral Baryt, das bei Ölbohrungen verwendet wird, hat praktisch einen einzigen Abnehmer: die in Mexiko teilstaatliche Ölindustrie. In den letzten Monaten kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen um die Mine. Zugleich wollen Staat und Konzerne um die neu gebauten Infrastrukturen herum elf „Entwicklungscluster“ für Industrie und Agrarindustrie aufbauen. Eine Gaspipeline zur guatemaltekischen Grenze soll zum Beispiel die Energieversorgung verbessern.
Für die Bevölkerung überschneiden sich Schäden durch die legale Wirtschaft, die Gewalt offen krimineller Gruppen und die extreme Militarisierung. Aktivistin Diana Itzu Gutiérrez Luna sagt im Interview: „Wo du die Nationalgarde siehst, gibt es auch organisiertes Verbrechen, und dort sind auch Regierungsleute. Da sind Paramilitärs, und nur Meter weiter sitzt die Armee und es passiert gar nichts. Eine krasse Komplizenschaft“. Im Februar 2024 schätzte das Colegio de la Frontera sur (Ecosur) die Zahl der Vertriebenen im Süden von Chiapas auf etwa dreitausend – und die Zahl steigt weiter.
Zwangsrekrutierung über Facebook
In manchen Gegenden, in denen Mohn für Opium und Heroin angebaut wird, erlaubt diese illegale Ökonomie, dass der Staat seine Funktionen historisch auf ein Minimum beschränkt hat und Menschen ohne nennenswerte Sozialpolitik „am Rand“ überleben. Die kriminellen Gruppen funktionieren nicht nur als Rohstoffproduzenten, sondern auch als Arbeitgeber. Journalist Jonathan Lomelí identifiziert dabei zwei unterschiedliche Modi: die Zwangsrekrutierung durch Täuschung und den freiwilligen Einstieg. In Facebook-Gruppen bieten die Gruppen Wohnraum, Essen, Waffen und Reisekosten an, mit Löhnen von 8000 Pesos pro Woche, und noch höheren Gehältern für Ex-Polizisten und Ex-Militärs. Es gibt auch gefakete private Sicherheitsunternehmen oder solche, die sich als Bodyguard-Dienstleister oder Callcenter präsentieren, um Jobsuchende dann zwangsweise zu rekrutieren. Hier verlieren die jungen Menschen den Kontakt zu ihren Familien, wenn sie zum ersten Mal an einen vermeintlichen Sammelpunkt fahren. Die Zahlen sind unklar – von 18 bis 67 Verschwundenen im Jahr 2024 nach diesem Muster schreibt Lomelí. Die Regierung des Staates Jalisco hat solche Muster kürzlich dementiert. Bei einem persönlichen Besuch 2023 in Jalisco berichteten mir Aktivist*innen hingegen von der Präsenz der Kartelle.
Die illegale Wirtschaft rekrutiert nicht nur unter Zwang, sie ist auch attraktiv im Vergleich zu schlechtbezahlten Jobs in der „Maquila“, in der Gastronomie oder im Tourismus. Eine Studie behauptete 2023, die „Kartelle“ (1) seien Mexikos fünftgrößter Arbeitgeber; tatsächlich sind solche Zahlen aber schwer überprüfbar und können manches (wie Kapitalbeteiligungen illegaler Gruppen an legalen Unternehmen) gar nicht berücksichtigen. Die Armut ist indessen weniger gesunken, als von der Regierung López Obrador (2018-2024) behauptet. Laut offiziellen Zahlen des Statistikamtes INEGI lebten 2018 43,1 Millionen Menschen in Armut, 2022 waren es noch 37,7 Millionen. Doch die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, stieg im selben Zeitraum von 8,6 Millionen auf 9,1 Millionen. Die Sozialpolitik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einzige Haushaltslinie, die ständig wächst, der Militärhaushalt ist.
Militarisierung, das alte Rezept
Damit die mexikanische Wirtschaft brummt, muss das Militär die Gewalt der kriminellen Gruppen in Schach halten – so lautet ein häufiges Argument. Dennoch gibt es kaum Hinweise, dass die makroökonomischen Zahlen tatsächlich vom militärischen Schutz abhängen. Schon vor 18 Jahren hatten die nördlichen Bundesstaaten Mexikos die höchsten Gewaltraten und schöpften dennoch die meisten ausländischen Direktinvestitionen ab. Die staatliche Strategie hat sich seither nicht geändert: mehr Streitkräfte auf die Straßen. Im Mai 2020 übertraf Präsident Andrés Manuel López Obrador sogar noch seine Vorgänger: Per Dekret (!) erlaubte er den Streitkräften Festnahmen und Haftbefehle. Zwischen 2018 und 2024 erhöhte die Regierung das Budget des Verteidigungsministeriums (Sedena) um 121 Prozent und der Marine (Semar) um 63 Prozent.
Die Regierung López Obrador hat das Militär dabei selbst zu einem der großen wirtschaftlichen Akteure des Landes gemacht. 2022 erlaubte das Finanzministerium dem Militär, das Unternehmen Olmeca-Maya-Mexica (OMM) zu gründen – staatlich, unter militärischer Kontrolle. Dieser Gruppe gehören nun Flughäfen, Tankstellen, Hotels, Nationalparks und einige Museen. Auch der Flughafen von Mexiko-Stadt sowie Unternehmen, die vormals dem Sekretariat für Infrastruktur, Kommunikation und Transport unterstellt waren, wurden dem Militär überschrieben. Mit einer eigenen Tochtergesellschaft plant das Verteidigungsministerium nun sechs Hotels und ein Kasino an der Strecke des von Aktivist*innen scharf kritisierten touristischen „Maya Zugs“.
Logistik- und Kommunikationsinfrastruktur sowie Teile des Tourismussektors werden also militärisch, öffentliche Infrastrukturen zum Teil von Militärs gemanagt. Niemand beschreibt dies als illegale Ökonomie. Doch übliche Hindernisse wie Umweltgesetzgebung oder Einschränkungen bei archäologischen Stätten kümmern das Militär wenig. Die militärischen Infrastrukturprojekte sorgen für Enteignungen und Konflikte. Aktivist*innen gegen Megaprojekte sind willkürlichen Verhaftungen, Repressionen und auch gezielten Ermordungen ausgesetzt und werden von Polizei und Militär, aber auch von paramilitärischen Kräften verfolgt. Aktivistin Diana Itzu Gutiérrez Luna sagt: „Wir sehen so viele konstruierte Strafanzeigen, zapatistische Aktivisten, die im Gefängnis sitzen, in Palenque, wo der sogenannte Maya-Zug langgehen soll. Hier nennen wir das die drei Reiter der Apokalypse: Megaprojekte, Militarisierung und organisiertes Verbrechen.“ Tatsächlich ist die Militarisierung eng mit Mexikos auf fossile Brennstoffe ausgerichteter Energielandschaft verbunden, mit Ölförderung, neuen Gasleitungen, dem Bau einer neuen Raffinerie, und mit López Obradors erklärter Verteidigung von PEMEX, Mexikos schuldengeplagtem Erdölunternehmen.
Weiter so mit Sheinbaum
Mexiko ist dabei nach wie vor in hohem Maße von der Wirtschaftstätigkeit der USA abhängig. Die Neuverhandlung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten, Mexiko und Kanada (USMCA) bietet wenig wirtschaftspolitischen Spielraum und das „Nearshoring“ noch keine echte Alternative. López Obrador hat extreme Steuersenkungen für Hersteller von E-Fahrzeugen und andere versprochen, und seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum wird wohl dasselbe anbieten. Dabei hat Mexiko, wenig überraschend, bereits die niedrigste Steuerquote der OECD. Sheinbaum verspricht Kontinuität: Im August traf sie sich mit dem mächtigen Arbeitgeberverband Consejo Coordinador Empresarial zu Gesprächen über „Nearshoring“ und die Möglichkeiten für eine Wertschöpfungskette der Erneuerbaren in Mexiko. Indessen steigen die Grundstückspreise, weil Eigentümer*innen auf zahlungskräftige Investoren wie Tesla warten. Das könnte die Unternehmen abschrecken, fürchten manche. Doch besteht die eigentliche Gefahr darin, dass Gewalt und Landkonflikte weiter zunehmen.
Schon zu Beginn der Amtszeit Sheinbaums zeigt sich, dass die alten Probleme weiterbestehen. Einen Kurswechsel gibt es nicht. Die aktuelle Strategie schützt hauptsächlich große Investitionen, an denen das Militär selbst nun immer mehr wirtschaftliches Interesse entwickelt. Die scheidende Regierung hat wenig bis nichts unternommen, um Investoren und mexikanische Unternehmen für ihre konfliktträchtigen Aktivitäten stärker in die Verantwortung zu nehmen. Dies wird vielleicht am deutlichsten in den Worten von Mexikos reichstem Geschäftsmann Carlos Slim über López Obrador: „Das Wichtigste ist, dass er den Privatsektor respektiert hat. Das hat gut funktioniert.“
(1) In den Sozialwissenschaften wird der Begriff „Kartelle“ kritisch diskutiert, weil ihre Strukturen eher Netzwerken gleichen und nicht unbedingt die Kontrolle von Territorien bedeuten, wie der Begriff suggeriert.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 480 Nov. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.
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