Anfang September ist der aktuelle Welthandelsbericht der WTO (World Trade Organisation, Welthandelsorganisation) erschienen. Er bestätigt, dass der internationale Handel weiterhin wesentliche positive Effekte auf die Armutsbekämpfung in vielen Ländern hat. In den letzten 30 Jahren habe es eine Wachstumsphase gegeben, die die Lebensbedingungen und Aussichten vieler Menschen auf der ganzen Welt verbessert hat. Allerdings würden nicht alle Länder und alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen profitieren.
Auf die weltweite Einkommensungleichheit hat sich dies nicht positiv ausgewirkt. Sie bewegt sich auf ähnlich hohem Niveau wie vor einem Jahrhundert. 1910 war das Einkommen der reichsten 10% der Weltbevölkerung 41-mal so hoch wie das der untersten 50%. Vor zwei Jahren lag das Verhältnis immer noch bei beachtlichen 38%. Positiv ist indes, dass die Diskrepanz bei de Pro-Kopf-Einkommen in den letzten 50 Jahren geringer geworden ist. So hat sich das Pro-Kopf-Einkommen von Ländern mit niedrigem oder mittleren Einkommen in den vergangenen 30 Jahren verdreifacht, während es im weltweiten Durchschnitt nur um 65% stieg. Die Finanzkrise 2007/2008 und die Corona-Pandemie haben diesen Trend jedoch umgedreht.
Seit 1996 haben 40 Länder in Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten nur wenig von der positiven Entwicklung profitiert. Dies betrifft vor allem Staaten mit geringem internationalen Handel, wenig Auslandsinvestitionen und einem Export, der eher auf Rohstoffen als auf verarbeiteten Produkten basiert. Sie gehören zu den rund 130 Länder mit niedrigem und mittleren Einkommen, die die Weltbank in ihren Statistiken auflistet. Auch China gehört dazu. Die von der WTO vorgelegten Statistiken belegen einen starken Zusammenhang zwischen Handelsbeteiligung, Wachstum und Einkommensentwicklung. Handelsprotektionismus, so die WTO, schütze weder die Gesamtwirtschaft noch fördere es eine gleichmäßige Entwicklung der Gesellschaft.
Um aus dem Welthandel positive Effekte zu erzielen, schlägt die WTO soziale Maßnahmen und eine intensivere internationale Zusammenarbeit vor. Konkret nennt sie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Arbeitslosenunterstützung, eine effiziente Wettbewerbspolitik, eine zuverlässige Infrastruktur und gut funktionierende Finanzmärkte. Durch eine Diversifizierung globaler Wertschöpfungsketten, die Senkung der Handelskosten durch Digitalisierung und den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft erwartet die WTO neue Chancen für Volkswirtschaften mit niedrigem und mittleren Einkommen.
Die Vision, dass enge Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Frieden und Wohlstand fördern, ist jedoch nach Ansicht der WTO in Gefahr, ebenso wie die Zukunft einer offenen und berechenbaren Weltwirtschaft. Ereignisse wie die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und der Gaza-Konflikt hätten zu Skepsis und Spannungen im internationalen Handel geführt. Schon im Vorjahr wies die WTO darauf hin, dass die geopolitischen Verwerfungen eine Zersplitterung der Handelsströme befürchten ließen. Die Exportbeschränkungen für kritische Rohstoffe hätten sich in den letzten zehn Jahren mehr als verfünffacht, und der Handel zwischen den geopolitischen Blöcken sei um vier bis sechs Prozent langsamer gewachsen als innerhalb dieser Gruppierungen.
Einem neuen WTO-Bericht vom Oktober 2024 zufolge wird das Volumen des globalen Handels in diesem Jahr um 2,7% zunehmen. Vor allem die Region Asien trägt mit China, Singapur und Südkorea mit 7,4% dazu bei. Für Europa rechnet die WTO mit einem Rückgang der Exporte um 1,4% und der Importe um 2, %. Wegen des weltweiten Rückgangs der Inflation erwartet die WTO höhere Realeinkommen, steigende Verbraucherausgaben und wachsende unternehmerische Investitionen. Diese positiven Prognosen stehen allerdings unter dem Vorbehalt, das eine Eskalation der Konflikte im Nahen Osten und anderswo zu Rückschlägen führen kann.
Aktuelle Daten kann man dem WTO-Handelsbarometer entnehmen. Im September 2024 lag der Wert mit 103 Punkten deutlich höher als im Dezember 2023 (100,6). Der Wert des Handelsbarometers wird aus sechs Teilindizes gebildet. Diese veränderten sich im vergangenen Halbjahr wie folgt:
- Automobilindustrie von 106,3 auf 103,3
- Exportaufträge von 101,7 auf 101,2
- Rohstoffproduktion von 99,1 auf 99,3
- Containertransport von 98,6 auf 104,3
- Luftfracht von 102,3 auf 107,1
- Produktion von Elektronik von 95,6 auf 95,4
Die WTO ist die zentrale Organisation der Vereinten Nationen für Handelsfragen. Sie wurde 1995 als Nachfolgerin des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) gegründet. Nach vielen Anläufen konnte Einigkeit darin erzielt werden, die Verantwortung für den internationalen Handel einer Sonderorganisation zu übertragen. Seit 1947 hatte das Vertragswerk GATT die Regulierung des internationalen Handels wahrgenommen. Seine wesentlichen Aufgaben waren der Abbau der Zölle und anderer Handelsschranken sowie die Absicherung und Gestaltung ungehinderter internationaler Handelsbeziehungen. In insgesamt acht Verhandlungsrunden hatte das GATT weite Bereiche der Handelspolitik liberalisiert. In der WTO sind nunmehr auch das Dienstleistungsrecht, das Geistige Eigentum, das Subventionswesen und das Vergaberecht einbezogen.
Ziel der WTO ist eine größtmögliche Transparenz der Handelspolitiken seiner Mitglieder, die fortwährende Liberalisierung des Welthandels durch Senkung bzw. Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen, die Vereinfachung von Zollverfahren sowie die Einhaltung und Überwachung der gemeinsamen Handelsregeln. Laut Satzung soll die WTO besonders die Entwicklungsinteressen der wirtschaftlichen schwachen Länder beachten und fördern.
Die Aufgaben der WTO umfassen vier Bereiche: Sie ist das maßgebliche Forum für Verhandlungen zwischen ihren Mitgliedern über den Abbau von Handelshemmnissen. – Sie überwacht die Einhaltung ihrer Abkommen und die internationalen Handelspolitiken. – Zusammen mit der Weltbank und dem Weltwährungsfonds hilft sie bei der Bewältigung von Wirtschafts- und Finanzkrisen. – Sie schlichtet Streitigkeiten zwischen WTO-Mitgliedern bei Verletzung ihrer Abkommen.
Die Handlungen der WTO folgen fünf Prinzipien: Die Meistbegünstigung verpflichtet die WTO-Mitglieder, alle Vorteile, die sie einem Handelspartner gewähren, unverzüglich und bedingungslos jedem anderen WTO-Mitglied einzuräumen. – Das Inländerprinzip verlangt, dass ausländische Waren und deren Anbieter nicht ungünstiger behandelt werden dürfen als einheimische. – Transparenz: Regelungen und Beschränkungen des Außenhandels müssen öffentlich sein und der WTO gemeldet werden. – Liberalisierung: Die WTO dient dem dauerhaften Abbau von tarifären (Zölle) und nicht-tarifären Handelsbeschränkungen (Mengen, Lizenzen, Subventionen, Verwaltungsvorschriften, Sicherheitsbestimmungen u.a.). – Gegenseitigkeit: Wechselseitig eingeräumte Zugeständnisse müssen gleichgewichtig und ausgewogen sein. Nur für Entwicklungsländer sind Sonderregelungen zulässig.
Die WTO betreibt zweifellos eine sinnvolle Tätigkeit im Sinne der gesamten Weltwirtschaft. Ihr Problem ist jedoch, dass sie kaum über Sanktionsmöglichkeiten verfügt, wenn einzelne Staaten ihre Abkommen in Frage stellen bzw. verletzten. Zudem leidet ihre Handlungsfähigkeit unter der Uneinigkeit ihrer Mitglieder. Wenn die WTO entmachtet und ihrer verbindlichen Regeln für den Welthandel wegfallen würden, wäre – so das Kieler Institut für Weltwirtschaft – ein starker Einbruch des Welthandels zu befürchten. Chinas Bruttoinlandsprodukt würde um 6,2% sinken, Deutschland wäre mit 3,2% betroffen und die USA mit 2,2%. Es müsse daher eine vorrangige Aufgabe der WTO sein, eine Aufspaltung der Weltwirtschaft in feindliche Blöcke zu vermeiden.
Derzeit befindet sich die Weltwirtschaft (wieder einmal) in Gefahr, dass der Freihandel durch Schutzzölle und andere Handelsbeschränkungen eingeengt wird, ohne dass die WTO eingreifen kann. Daher ist damit zu rechnen, dass der Anteil des internationalen Handels an der weltweiten Wirtschaftsleistung sinkt. Die EU will „Ausgleichszölle“ auf den Import von Elektroautos aus China erheben, weil diese dort subventioniert werden. Ähnliche Auseinandersetzungen mit China hat es schon mehrfach gegeben, z.B. Bei Halbleitern, Stahl und Aluminium, sogar bei Lebensmitteln. Donald Trump hat angekündigt, dass er die US-Wirtschaft abschotten und 10% Zoll auf alle Importe und 60 % oder mehr auf Importe aus China erheben will. Ihm ist offenbar nicht bewusst – oder gleichgültig – dass er damit die Inflation in den USA anheizen und somit vor allem die einkommensschwachen Bevölkerungsteile treffen wird.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat berechnet, dass dies einen unmittelbaren Rückgang des Welthandels um 2,5% bewirken würde. Vermutlich kämen noch Vergeltungszölle der Gegenparteien in gleicher Höhe hinzu. Das IfW prognostiziert allerdings, dass die USA selbst am stärksten betroffen wären und Exporteinbrüche bis zu 38% zu erwarten hätten. Die künstlich verteuerte Einfuhr von Vorprodukten in die USA würde den Preis ihrer Exporte steigen lassen. Diese Faktor würde die negativen Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft dämpfen, so dass z.B. Deutschland nur mit einem leichten Rückgang der Wirtschaftsleistung von 0,1% rechnen müsse. Die pharmazeutische Industrie wäre am stärksten betroffen (- 3,3%), die Automobilproduktion müsse mit einem Rückgang von 1% rechnen, und die Elektronikindustrie könne sogar einen Zuwachs von 2,5% erwarten.
Andere Probleme, denen die WTO nicht abhelfen kann, sind weltweite Lieferengpässe bei Rohstoffen und das Bemühen mehrerer Industriestaaten und dortiger Unternehmen, ihre Abhängigkeit von ausländischen Lieferungen zu verringern. Klar dürfte sein, dass die wirtschaftlich schwächsten Staaten am meisten betroffen sein dürften. Ihre – von der WTO unterstützten – Bemühungen im Diversifikation und Weltmarktintegration werden zurückgeworfen, wenn die USA, Europa und China ihren Marktzugang verteuern und erschweren und wenn sie Teile der Wertschöpfungskette in ihren nationalen Wirtschaftsraum zurückholen wollen. Es steht also nicht gut um die Zukunft des weltweiten Freihandels.
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