Mit wenigen Schritten stürzte sich Alwys den herausströmenden Menschen in die S-Bahn entgegen. Die Trasse führte quer durch das Opel-Werksgelände. Vor der neuen Omega-Montagehalle war eine Betriebshaltestelle für die Schichtarbeiter. In die Halle selbst durfte fast niemand hinein. Wie man sich in der Umgebung erzählte, arbeitete dort eigentlich auch niemand mehr. Die Montage würde größtenteils von Computerarmen übernommen, die mit viel Feingefühl schweißen könnten und mit Saugnäpfen das ganze Vehikel zusammensetzten. Über diesen Sachverhalt wurde eigentlich nirgends richtig berichtet oder offen gesprochen. Viele Opel-Arbeiter hätten darüber gar nicht wirklich sprechen können, weil sie gar kein Deutsch konnten.

„Die Klos bei Opel,” hatte mal ein Ferienjobber im Break erzählt, „kannst Du nicht benutzen. Da stellen sich alle mit den Schuhen auf die Klobrille.“

„Und nach dem Geschäft kannst du dir dann mit dem süßen Frostschutzmittel Glykol zuprosten,” meinte darauf Alwys trocken. „Desinfiziert vielleicht von innen und macht nur in Verbindung mit Wein blau.“

Das fiel Alwys wieder ein, als er in der schmutzigen S-Bahn saß und aus dem Fenster auf die Mainmündung und den Rhein schaute. Sein Auge blieb am Basalt hängen, der zur Uferbefestigung aufgeschüttet war.

„Was ist Schmelzbasalt?” ging ihm die in seiner Heimat unter einem Ortseingangsschild angebrachte Frage durch den Kopf: Ein feuerfester Baustoff, lautete die Antwort unter dem Ortsausgangsschild Richtung Bonn. Der Ort hieß Kretzhaus und lag auf den Rheinhöhen.

„In R. kriegst‘e auch die Krätze,” schloss Alwys die Assoziation ab.

Es war kurz vor sieben, als die S-Bahn den Rhein überquerte. Alwys blickte Richtung Loreley, also gut fünfzig Kilometer stromaufwärts. Zumindest meinte er, er würde Richtung Loreley blicken. In Wirklichkeit blickte er Richtung Saarland und Frankreich. Er vergaß immer wieder, dass auf Höhe der Mainmündung, genannt Mainspitze, der Rhein seine Fließrichtung bereits geändert hatte. Von Oppenheim, wo einst Albert Schweizer die Orgel geschlagen hatte, bis nach Bingen, wo an der Fachhochschule gerade ein neuer Studiengang Umwelttechnik eingerichtet worden war, floss und fließt der Rhein von Osten nach Westen und – nicht wie sonst – von Süden nach Norden. Ein kompletter Wechsel der Himmelsrichtungen – sensationell. Alwys dachte beim verträumten Blick über das Wasser: „Vielleicht liegt mein Glück im rheinischen Schiefergebirge. Da, auf irgendeiner Höhe oder in einem kleinen Seitental des Rheins oder an einem der Westerwaldhänge. Warum sind wir eigentlich in die Städte gegangen?” fragte er sich plötzlich. Er wusste darauf keine triftige Antwort. Er hätte sich auch fragen können: „Warum habe ich die Heimat verlassen?“   Was wäre die Alternative gewesen? Sich im Pfarrgemeinderat zu verwirklichen und während der Kirmes eine aus dem Jahrgang im Bauwagen zu schwängern? Dann lieber weg. “No more Märtesmann verbrennen,” schoss es ihm durch den Kopf. Tatsächlich hatte er sich schon als Kind immer gefragt, warum beim Martinsfeuer im Heimatdorf ganz oben im Martinsbaum eine lebensgroße Strohpuppe verbrannt wurde, während der Kaplan der Gemeinde den Segen gab. Das war ein Scheiterhaufen, das Martinsfeuer. Sein Blick auf das Wasser wurde wieder klarer. Wenn sich Alwys, der gerade zum All wurde, hätte mittreiben lassen, wäre er todsicher zur Loreley gelangt. Der Rhein floss ja schließlich nicht in seine Quelle zurück, sondern weiterhin schön brav in die Nordsee.

An diesem Frühlingsabend war die Wasserfarbe zartrosé. Was ist das für ein Himbeerjoghurtfluss? Kriegen die Fische eine Sonderration Hormone, damit sie ein bisschen mehr Muckis haben, um gegen die künstlich durch wildes Flussbegradigen beschleunigte Fließgeschwindigkeit in den Seitentälern anschwimmen zu können.

Kürzlich wurden Lachseier in den Seitentälern eingesetzt, damit dieser im 19. Jahrhundert en masse vorkommende Speisefisch wieder heimisch würde. „Nicht schon wieder Lachs,” soll am Rhein einmal ein geflügeltes Wort gewesen sein.  „Mit Josh werde ich heute Abend mal einen Bierlachs zu mir nehmen,” beschloss All aufgrund der rosa Wasserfarbe. Ein Bierlachs war ein Pils und ein Schnaps. Auch so eine Unart aus seiner Heimat, wo alles, was blau macht, willkommen ist. Alwys verwarf diesen pseudosentimentalen Gedanken sofort wieder.  Es war ihm jetzt von einem zum anderen Moment egal, ob es in Basel Rote Beete geregnet hätte oder die BASF auf dem Umweg einer Konventionalstrafe ein paar Chemikalien loswerden wollte. „Vielleicht,” dachte sich All beim Aussteigen aus der S-Bahn, „war es nur das Abendrot, das sich im Wasser spiegelte. Abendrot, gut Gebot.“   

All stieg eine Station früher aus und lief an diesem lauen Frühlingsabend zur Zitadelle hoch, um sich ein Bild von dem Gelände zu machen, wo er mit Josh am übernächsten Samstag bei einem politischen Festival einen Gig hatte. Sie sollten zu einer Body-Building-Show als Duo zwischen der Muskelschau locker reinspielen. Das seit geraumer Zeit stattfindende Pfingstfestival mit gesellschaftspolitischem Anspruch hatte in diesem Jahr den Körperkult ins Visier genommen, der angeblich neu sei und die Menschen von den wahren Problemen ablenkte. Man kam für das Festival von weit her, zeltete rund um das Zitadellengelände, freute sich über Beschwerden der Anwohner, wenn die Bands bis tief in die Nacht hineinspielten und ließ sich, sofern es regnete, peu a peu mit Lehm verkrusten.    „Wird schon was werden hier”, vermutete All auf dem leeren Festivalgelände und trabte recht entspannt quer durch die Altstadt Richtung Stammkneipe.

Wenig später saß er im Break. Stefan spülte die Gläser, Klaus richtete die Döner-Zutaten. Klaus, der zweite Wirt des Break, hatte einen Coup gelandet. Die einzig wahre Live-Jazz-Kneipe der kulturell sonst harmlosen Landeshauptstadt, konnte den Bluesgitarristen Louisiana Red aus Chicago für ein Konzert gewinnen. Über die Gage schwieg Klaus beharrlich. Nur so viel sagte er: „Louisiana Red hatte gestern einen Gig im Colos-Saal in Aschaffenburg und spielt morgen im Sinkkasten in Frankfurt. Da hat mich der Veranstalter gefragt, ob der an dem konzertfreien Tag nicht hier spielen könnte. Einmal im Jahr kann man so was mal machen, oder? Dafür spielt Ihr dann mal umsonst bei mir.“

„So seh’ ich aus, lass mal’n Glas Nost rüberwachsen.“

Klaus nahm ein leeres Glas und füllte es mit Wasser aus dem Wasserhahn: „Nostrofje!“

„Ne, gib mal lieber da ein Glas von Deinem neuen französischen Landwein. Ich trink heute mal einen Wein.“

Im Break wurde es langsam voll. Das war keine Kunst. Bei circa dreißig Gästen standen einige fast schon auf dem Gehsteig. Im Sommer stand man da ohnehin gerne und lehnte sich zum Gespräch durch eines der offenen Fenster in die Kneipe hinein. Heute kamen auch einige Amerikaner aus den umliegenden Kasernen. Die wollten echten Blues aus Chicago hören. Nur der Künstler fehlte noch, dabei ging es schon stramm auf halb neun zu. Joshs R4 schob sich an der Fensterfront entlang und schon stand Josh im Break und quetschte sich an Alls gedeckten Tisch.     „Oh, heute mal Wein?“

„Klar, wo die hier im Land sowieso nur Wein lesen können, trink’ ich mal einen.“

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

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